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Absurdes Theater

Zehntausend Jahre sind vergangen. Schnee ist gefallen und Regen. Die letzten Menschen sind tot. Eins und eins ist zwei gilt ebensowenig wie eins plus eins gleich drei, nämlich nichts. Der Mangel an Luftsauerstoff war der menschlichen Biologie zu abträglich. Aber es gibt manchmal ein schönes Polarlicht, hellviolett. Ja, der Mangel an Sauerstoff war einst in Sobibor ebenso abträglich wie in Auschwitz. Ist Auschwitz Kapitalismus? Sicher.

Ist Kapitalismus Auschwitz? In seiner Endkonsequenz sicher. Später dann ward die ganze Welt zum Vergasungslager. Nur noch wenige Pflanzenarten bedecken den Planeten. Es sind dürre Stengel, die nur wenig Licht benötigen, da sie wenig Photosynthese vollziehen – obgleich es Licht im Übermaß gibt. Und da sehen wir auch sedimentiert-konservierte, ausgedruckte Unterlagen von Bayer und BASF. Deren satte Bilanzen verrotten kaum in grauer Einöde.

Stellt man die Zeitmaschine auf „Maßgebliche Akteure und Verursacher“ – erscheint nun eine lange Liste von Konzern-Vorstandsvorsitzenden, BND-Leitern, und da sind auch drei bekannte Namen.

Einer lautet Hans Modrow.

Der Vorschlaghammer war fertig geschwungen. Herr Krenz hatte ihn zur Seite gelegt. Halt ein!, Halt ein! hatte das Volk der DDR geschrien. Rings lagen Trümmer jeglichen sinnvollen Gefüges und geistiger Substanz, daraus der Staat bestand, darin man sich grundsätzlich einig war. Auf einen guten Weg führen konnte dieser Staat. Das hatte er einst bewiesen. Nun aber hatte dessen Führung ihn selbst zur Seite gelegt, der Hammer glühte. Die Trümmer qualmten noch.

Indes lässt sich aus Trümmern etwas bauen.

In dieser Hoffnung hatte man den SED-Modrow ekstatisch gefeiert. Nun jedoch nahm der Modrow ein kleines Hämmerchen und zerhieb die Trümmer immer weiter zu feinem Staub. Als SED-Chef galt es eines zuerst zu begreifen: Nichts bleibt.

Und dass nichts bliebe zu beweisen, war er angetreten. Sehr unzufrieden mit dem Kurs von Partei und Regierung war die Mehrheit des Volkes. Selbst die eigene Mehrheit von SED-Mitgliedern war sehr unzufrieden mit diesem Kurs. Aber es gab keine einzige kommunistische Partei. Noch immer verließ diese Mehrheit ihre SED nicht – nicht einmal das. Der Haken war der alte: Wohin?

An der Spitze der internationalen Kräfteverschiebung stand die Konterrevolution in der DDR, an der Spitze der Entscheidung zwischen den Menschheitsblöcken, zwischen den Modellen. Und an deren Spitze stand jetzt Hans Modrow. Wir haben ihn anhand seines Handelns und Unterlassens besichtigt. Im Jahre 1935 wurde der kleine Hans Modrow von einem gewissen Onkel Niels gefragt: „Was willst du später einmal werden?“

„Führer!“ hatte der kleine Hans spontan gewusst und den Onkel Niels charmant angelächelt. – „So, aha! Und wohin willst du uns denn führen?“

Aber das war doch egal! Es war ja eine ganz andere Frage!

Ungeachtet aller persönlich-geheimer Wünsche und Vorlieben – auch der Modrow war nicht nur schlecht – wollte er nur eines. Er wollte staatstragend und sympathisch sichtbar sein. Objektivwirklich stand man auf verschiedener, auf gegensätzlicher Seite: Auf der einen zerrten die Gorbatschow-Walters-Modrow-Krenz mit Gysi in ungewollter Nachbarschaft mit sämtlichen Neonazis. Auf der anderen Seite stand das Volk der DDR, das noch immer einen erneuerten, einen sacht modernisierten Sozialismus wünschte und sich dafür einsetzte, so gut und schlecht es vermochte: „Ein bisschen Reformen!“

Aber jene hatten die Macht. Das Kapital hatte sie und sämtliche Medien.

Die Wetten standen Zehn zu Eins: Man zog sich zurück.

Noch immer ging die Sonne auf und unter, blinkten die Sterne, fiel der Schnee und manchmal etwas Regen, wehte der Wind. Die Wälder lagen schwarz und schweigend, die Stoppelfelder waren lange abgeerntet. Was war geschehen? Etwas Grundstürzendes? Aber woher? Nachts stieg der Nebel, wie schon ehe und jehe. Inzwischen neigte man fast ein wenig zu Spott. Was ist ein Gesellschaftssystem? Wie kann man es denn fassen; wenn nicht als dies – was es wert ist? Wir sind doch allesamt nichts wert! Das Staatsoberhaupt war zurückgetreten. Was wusste man’s? Man wusste es noch gar nicht, da trat als neues Staatsoberhaupt ein Gerlach auf, der als erstes erklärte, gar keines sein zu wollen. Ungewillt zeigte es sich, und unbedarft proklamierte es sich zu dieser Interimslösung. Danach erst ward mitgeteilt, dass Egon auch noch als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurückgetreten sei. Da war wohl nichts mehr zu verteidigen. Im Hintergrunde erschien sein Bild, als wüsste man nicht wie er aussieht. Und ganz in Schwarz-Weiß hing es da, als wäre er verstorben. Ungewohnt und anders sah er aus: Verschwunden war sein ewiges opportunistisches Grinsen. Genau genommen sah er aus, wie jemand der spricht: „Meinem Land und meiner Partei konnte ich nur geben was mir möglich war.. Mich werden bis zu meinem Lebensende Fragen nach der Verantwortung für den Niedergang der DDR quälen.“

Er fragt uns schriftlich: „Warum habe ich das Steuer nicht früher herum gerissen? Waren in diesem Herbst sozialistische Reformen noch möglich?“

Vielleicht hätte man es probieren können, Herr Krenz?

Nun allerdings war da fast kein Staat mehr. Der Gerlach sah nicht so aus, als würde er irgendetwas als Vorsitzender von Staatsrat und Nationalem Verteidigungsrat verteidigen wollen. Was ein Regierungschef ist, mochte er sich knapp vorstellen. Er mochte auch gern einer sein – nur nicht eben in diesem heruntergerufenen, -geführten, demoralisierten Staate. Nein, heruntergewirtschaftet war die DDR noch immer nicht! Alle Verbindlichkeiten zahlte sie und versorgte alle Bevölkerung, trotz offener Grenzen und massiver Spekulationsgeschäfte. Doch war die Demoralisierung steigerbar. Der Krenz und der Wolf und der Modrow und der Gysi hatten die Bühne DDR eingerissen. Die Puppen indes waren noch sehr präsent. Kunterbunt lagen sie durcheinander und erhoben mutig die Köpfchen zur Geisterstunde.

„Guten Tag, mein Name ist Dr. Gregor Gysi.“

„Guten Tag! Mein Name ist Dr. Egomon.“

„Willkommen am Runden Tisch!“

„Ich denke, die evangelische Kirche lädt ein? Sie sind doch von der SED?“

„Keine Sorge, Dr. Egomon. Sobald wir alle Platz genommen haben, wird Bischof Leich seine Begrüßung sprechen. Wie Sie bemerken können, ist der Runde Tisch auch nicht rund. Es ist eine viereckige Tafel. Die Widersprüche und Kanten sind bereits eingebaut. An der gemeinsamen Tafel werden wir diese jedoch schnell überwinden.“

„Also dann, setzen wir uns…“

Etwas später war Raum gefüllt und Tafel besetzt, das Stühlescharren verstummte. Auch hinter den Sitzenden ballten sich Menschentrauben, darin staken Kameras und Mikrofone. Es sprach ein Mann in Anzug und Krawatte, aber kein Leich: „Verehrte Damen und Herren, ich bin Oberkirchenrat Ziegler und darf Sie im Namen der Kirchen dieses Landes in dieser Runde begrüßen. Wir hoffen, dass ein Gespräch zustande kommt zwischen den Parteien die in der Volkskammer vertreten sind, und auch mit verschiedenen Gruppen und Initiativen die sich im Land gebildet haben.“

„Warum“, fragte jemand in der Runde halblaut, „sprechen die Vertretungen der Volkskammer eigentlich nicht in der Volkskammer?“

„Zweitens“, setzte der Pfarrer Ziegler pathetisch fort, „dass auch Gesichtspunkte und wichtige Schritte verabredet werden, die vordringlich für unser Land in Angriff getan werden müssen. Und ich hoffe auch, dass das dazu führt, dass die Gruppierungen die bislang im Nachteil waren, die Möglichkeit bekommen, sich zu organisieren und für unser Land zu arbeiten.“ Da sprang Gregor Gysi auf und rief wichtig: „Ich unterstütze, was der Vertreter der Kirchen gesagt hat! Und ich schlage Ihnen vor, dass wir zunächst die Präsenz und Repräsentanz feststellen. Oder besser gesagt feststellen, wer anwesend ist und vielleicht noch anwesend sein sollte, denn wenn wir Gewicht haben können, dann nur indem wir die Bevölkerung gemeinsam repräsentieren!“

Rings um die eckige Tafel bestaunte man die schräge Eloquenz des gewitzten kleinen Mannes. „Ich hoffe, ich spreche“, quirlte Gysi weiter, „damit auch in Ihrer aller Namen. Für meine Person bin ich, vertrete ich den Arbeitsausschuss der SED. Noch ein Wort zum Protokoll: Ich finde, wir handhaben das ebenfalls gemeinsam, indem wir eine vorläufige Fassung erstellen, die später ebenfalls gemeinsam geprüft und bestätigt und erst danach verwendet werden soll.“

Er blickte auf den Mann neben sich. Dieser sprach leise zum Egomon:

„Später kann man Protokolle immer bauen wie sie passen. Und ein paar Szenen lassen sich für die Kameras auch herstellen.“ –

Ihnen allen ist zugute zu halten: Wann hat es je in der Menschheitsgeschichte solch einen Runden Tisch gegeben?

Doch der Oberkirchenrat war gar nicht fertig gewesen. „Herr Gysi, Moment bitte!“ meldete er sich vorn zurück. „Mir liegt eine Liste der Vertretungen am Runden Tisch hier für unser Land vor. Vielleicht darf ich das zunächst bekannt machen: CDU, Demokratischer Aufbruch, DBD, Demokratie Jetzt, Grüne Partei, Initiative für Frieden und Menschenrechte, LDPD und NDPD, Neues Forum, SDP, SED und Vereinigte Linke.“

Der Kaspar des Puppentheaters hob den Kopf. Unhörbar befand er: „CDU ist nicht oder nicht mehr sozialistisch – also nicht ‚für unser Land’. Demokratischer Aufbruch war nie sozialistisch, also nicht für unser Land. Bauernpartei ist sozialistisch; also für unser Land, Demokratie Jetzt ist nicht für unser Land. Grüne Partei ist nicht sozialistisch, also nicht für unser Land, Initiative für Frieden und Menschenrechte ist nicht sozialistisch, also nicht für unser Land, LDPD ist nicht mehr sozialistisch, also nicht für unser Land. NDPD ist unsicher und unentschieden, also neutral. Neues Forum ist nicht sozialistisch, also nicht für unser Land. Sozialdemokraten sind nie sozialistisch, also nicht für unser Land. SED-Führung ist nicht mehr sozialistisch, also nicht für unser Land. Vereinigte Linke sind unsicher und unentschieden, also neutral. Stellen wir fest…“, nuschelte der Kapar und ließ das Köpfchen sinken, „die Chancen für unser Land stehen hier eins gegen neun.“

Da war der Tumult schon im Gange; schlimmer als im Speisesaale zu Teltow: Gekreisch, Gelächter und Mahnen erklangen. „Sprechen wir über die Schwerpunkte!“ rief Dr. Egomon. „Man müsste zunächst mal wissen“, brüllte es von der Vereinigten Linken, „welche weiteren Teilnehmer…“ – „Erstmal brauchen wir einen Versammlungsleiter.“ – „Nein! Eine Geschäftsordnung!“

Oberkirchenrat Ziegler rang die Hände. „Meine Damen und Herren!“

Er hatte keine Aussicht. Wichtig sprang der Gysi auf und knetete seine Finger. Das Stimmgewirr nahm etwas ab. Die Aussicht auf einen schräg-witzig-spritzigen Kommentar beglückte ein wenig. „Damit jede Anregung“, quiekste Gysi, „aufgenommen und fruchtbar werden kann, muss sie zur Geltung kommen. Insofern sollten wir der Reihe nach vorgehen. Eine starre Versammlungsleitung, denke ich, brauchen wir nicht. Ein paar moderierende Worte kann jeder von uns an passender Stelle einbringen. Wir haben als Vorschlag auch zu prüfen, ob weitere Teilnehmer für unsere gemeinsame Repräsentanz wünschenswert sind.“

„Welche denn?“ knurrte der Egomon.

Schnell sprach eine junge vereinigte Linke: „Zum Beispiel der unabhängige Frauenverband.“

„Der hat sich gerade erst gegründet!“ kam ein Einwand.

„Ablehnen! Ablehnen!“

„Und der FDGB! Der repräsentiert immerhin Millionen Arbeitende in unserem Land und sitzt auch in der Volkskammer.“

„Lehne ich ab!“ schrie Herr di Misere von der CDU. „Wir brauchen keine Separatisten! Was der FDGB jetzt sagt, will keiner wissen. Und wozu ist eine Frauenvertretung gut? Frauen können sich ebenso wie Männer in politische Fragen einbringen! Dann können wir auch gleich Kinderorganisatio…“ Wütend wurde ihm von den Sozialdemokraten entgegengeschleudert: „Die Frauenfrage ist politisch! Haben Sie schon mal etwas von Gleichberechtigung gehört?“

„Die haben wir in diesem Land!“ schrie es aus der linken Ecke nun paradox.

Da bewies aber der Herr di Misere Geschmeidigkeit: „Auf dem Papier!“ brüllte er krähend. Der Tumult erhob sich. „Nein, ökonomisch!“ Herr Äppelknecht schrie: „Natürlich sind die Unabhängigen Frauen überflüssig. Aber ist doch egal! Her mit den unabhängigen Frauen! Besser als die abhängigen!“

Man lachte ringsum, der Tumult legte sich etwas. Doch hatte der Äppelknecht es ernst gemeint. Humoristisch war er nie aufgelegt… Naiv sprach der Grüne-Partei-Vertreter: „Runder Tisch heißt, ohne Vorbehalte zusammen zu arbeiten. Frauen stellen natürlich einen großen Anteil der Bevölkerung. Das kann man durchaus berücksichtigen.“

„Kommen wir also ohne Vorbehalte“, säuselte verschlagen nun Gysi, „zur Frage der Repräsentanz. Seitens der SED…“ Da hatte er sich allerdings auch als naiv gezeigt. Grummeln erhob sich: Geht es so weiter, dann spräche er noch von über einer Million Mitgliedern, und sämtliche andere müssten bekennen: Ich vertrete Siebzehn. Ich vertrete einunddreißig!

„Jens Üppig“, sagte es aus der Runde: „Neues Forum. Gerade die DDR-Frauenorganisation hat in der Vergangenheit immer wieder beweisen, dass sie nicht seinen Mann stehen kann.“

Man lachte schon wieder. Energisch setzte Üppig fort: „Es tut mir leid, dass manche der Anwesenden ihre Rolle so einschätzen wie sie es gerade tun! Die originale Opposition, das Neue Forum, ist als erstes hervorgetreten…“

Man blökte hinein: „Aufhören! Unwichtig! Interessiert doch keinen!“

„Ich meine, wenn wir hier… Das dürfte für die Medienvertreter interessant sein!“ Wütend hob Üppig den Ton: „Wenn wir jetzt hier wirklich die Stimmgewichtung feststellen“, rief er blaß, „dann empfehle ich euch, die Medien schnell rauszuschicken. Dann bleibt nämlich von den meisten Teilnehmern hier…“

Der Kaspar hob das Köpfchen und flüsterte: „Nichts übrig.“

Allgemeines Blöken ließ den Gysi sofort präzisieren: „Seitens der SED sind wir bereit, vorurteilsfrei mit allen Kräften im Lande zusammen zu wirken.“ Er blickte in die eckige Runde. „Auch mit den Frauenorganisationen und… dem Gewerkschaftsbund.“

Nachdem er eine Weile so geblickt hatte, nahm er ringsum ein Nicken wahr.

„Gut“ moderierte Gysi. „Nehmen wir ruhig die Frauen und den FDGB hinzu!“

Nur die Linken machten ihm wieder Ärger. Von dort raunte es paradox: „Dann müsste die große Frauenorganisation der DDR, der DFD, ebenfalls vertreten sein!“ Gysi nahm wieder Platz und zeigte sich bereit, es überhört zu haben.

Die Kameras filmten, die Mikrofone lauschten. Was soll jetzt passieren? Gysi äugelte herum, sprang wieder auf und sprach in rasselnd hellem Stimmbruch: „Meine verehrten Damen und Herren! Bedenken wir gemeinsam, dass wir im Fokus und im Licht der Weltöffentlichkeit stehen! Wenn wir als Runder Tisch Anerkennung beanspruchen, müssen Ernsthaftigkeit und Zielorientierung unsere Verhandlungen prägen. Ich nehme an, dass wir hier einig sind!“

„Dann müssen die Kameras ’raus!“ forderte brummend der Egomon.

Man nickte, und Herr Gysi setzte sich befriedigt. Er äugelte über die Mikrofone. Schnell krächzte er über die rundeckige Tafel: „Wenn wir das beschließen wollen, ich meine, dass vor dem Ergreifen tragfähiger Beschlüsse keine Medien mehr zugelassen sind, dann bitte ich ums Handzeichen!“ Die Hände erhoben sich, außer den linken.

„Vielen Dank“, quittierte Gysi rasch und sprach zu den Journalisten: „Dann bitte ich die Medienvertreter, den Raum zu verlassen. Sie werden durch uns gemeinsam informiert. Und bitte“, gab er den Journalisten mit, in dünnem Falsett und schneidend wie nur möglich; „halten Sie sich an den hier am Runden Tisch gefassten Beschluss! Keine Informationen bis zur Pressemitteilung!“

„Das ist nicht in Ordnung!“ sagte eine Frau von den Linken. „Die Medien vertreten doch gerade neunundneunzig-komma-neun, Periode neun Prozent der DDR-Bevölkerung! Und die werden ausgeschlossen?“

Aber niemand nahm es wahr.

Der Runde Tisch setzte sich fort. Nachdem man die Teilnahme der Unabhängigen Frauen und des offiziellen DDR-Gewerkschaftsbundes per Handzeichen gebilligt, sprach Maleuda von der Bauernpartei: „Als Präsident der Volkskammer habe ich mehrfach auf die Verlässlichkeit und Kontinuität der Organe unseres Staats verwiesen. Dieses Anliegen deutlich zu machen, muss auch unser Wirken hier am Runden Tisch bestimmen. Die Menschen in unserem Land wollen sich auf die Arbeit ihrer gewählten Vertretungen und auf deren Organe verlassen können. Das habe ich persönlich in vielen Gesprächen mit den einfachen Menschen gespürt, egal ob sie Mitglieder unserer Partei waren.“

Man schwieg indigniert dazu und rollte etwas die Augen. Wen ging das etwas an? Wer interessierte sich für die „einfachen Menschen“? Herr Maleuda möge hinter seinen Ofen kriechen! Es klang ja fast wie vom Politbüro der SED!

Auch Herr Gysi rollte insgeheim.

Maleuda setzte fort: „Grundlage all dessen und unserer Tätigkeit und Wirkung ist die durch Verfassung garantierte Rechtsstaatlichkeit in unserem Land. Darauf wurde in der Vergangenheit mehrfach hingewiesen. Ich möchte deshalb vorschlagen, über die weitere Gewährleistung dieser Rechtsstaatlichkeit in dieser komplizierten Zeit zu beraten.“

Die Teilnehmer dachten nach.

Wenn man weglässt, dass Maleuda die Lage offenbar stabilisieren will, dann lässt sich daraus etwas drehen. Herstellung von Rechtsstaatlichkeit kann man fordern! Auch Gysi kam natürlich drauf: Daraus kann man etwas drehen! Mit Rechtsstaatlichkeit kennt er sich aus. Er sprang auf. „Die sozialistische Verfassung gewährleistet natürlich die rechtsstaatliche Grundlage. Wir stehen nun im Mittelpunkt der allgemeinen öffentlichen Sicht und müssen uns dazu erklären.“

„Ihr“, sagte der Kasper und hob sein Köpfchen, „steht alles neben der Verfassung. Ihr habt alle Rechtsstaatlichkeit ausgeschaltet und befindet ungewählt und unmandatiert und ohne jedes Recht an allen Verfassungsgrundsätzen und -sätzen und -organen vorbei.“

Unhörbar war’s gesagt. Doch hatte es der spitzohrige Gysi vernommen. Hastig sprach er: „Dafür müssen wir rasch die Weichen stellen! Für eine neue Wahl im Land. Grundlage der Rechtsstaatlichkeit ist die Verfassung der DDR.“ – „Die muss man bald komplett ändern!“ rief es vom Demokratischen Aufbruch. Gysi nickte rasch. Auch Kirchenvertreter Ziegler wollte wieder etwas verlauten und rief noch schneller als Gysi: „Meine Damen und Herren, welche Schwerpunkte sollen noch festgelegt werden?“

Er selber hatte wohl keine. Auch die Puppen-Runde hatte keine.

Man rätselte. Man dachte. Jemand rief: „Freie Gewerkschaften!“

„Was soll da anders sein?“ fragte der Gewerkschaftsvertreter, der nun am Tische saß. „Wird sich schon zeigen!“ rief Äppelknecht drohend.

„Muss man sehen!“ rief auch Üppig.

„Eine paritätische Geschlechter-Wahlordnung!“ rief die inzwischen anwesende unabhängige Frau. Sorgsam hatte der Ziegler notiert. „Weitere Schwerpunkte bitte, meine Damen und…“

„Die Medien!“ rief ein NDPD-Vertreter mutig.

„Die wir gerade ausgeschlossen haben?“ schrillte es von den Linken. Nun lachte man gemeinsam.

Auch diesen schwerwiegenden Vorschlag hatte Pfarrer Ziegler notiert. „Welche Schwerpunkte bewegen uns weiter?“

Es war ungewöhnlich still.

„Sicherung der Versorgung“, rief jemand plötzlich.

Unwichtig wer: Jeder war dafür. Man stimmte positiv über den Vorschlag ab. Ja, die Versorgung wurde nun hochwichtig ins Programm aufgenommen. Dann grübelte der Runde Tisch weiter. „Meine Damen und Herren“, appellierte der Herr Kirchenoberrat Ziegler. „Ich möchte uns gemahnen, dass wir in Kürze vor die Presse treten und dort einige Schwerpunkte zumindest benennen müssen!“

Da fiel der Grünen Partei etwas ein. Deren Repräsentant sprang so unversehens auf wie der Gysi und rief mit überschlagender Stimme: „Ökologie! Ökologie! Veröffentlichung wirklich aller Umweltdaten!“

Hier lachten alle Sonstigen. Wo auf der Welt können alle sich ständig ändernden Daten ständig veröffentlicht werden. –

Konzeptionell ähnlich gewichtig trat diesen Tages der Modrow auf. „Die Regierung ist handlungsfähig“, erklärte er im Staatsfernsehen staatstragend und dankte, dass die Menschen im Lande weiter arbeiteten. Ihm entgegnete die Fernsehjournalistin: „Die Zeichen stehen in diesem Land sozusagen auf Sturm. Ich habe den Eindruck, dass manche es direkt in den Untergang steuern wollen.“

Modrow lächelte. Doch wusste er mitzuteilen, dass die Weihnachtsfeiertage näher rückten. Er erinnerte, dass die Mütter sich Gedanken machten um ein schönes Weihnachten für ihre Kinder. Eine Regierung könne nur arbeiten, wenn ein „arbeitsfähiges Wirken“ im Lande vorhanden sei!

„Es bezieht sich hier ein Feld mit ein“, verkündete er weiter, „das besonderen und spezifischen Charakter hat.“ Dazu sprach er wieder einmal über Amtsmissbrauch und Korruption und brachte gänzlich sinnlos das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit damit in Zusammenhang. Er dankte „Bürgern“, die dessen Objekte nun heimsuchten. Er sprach, dass er angewiesen habe, das „Bespitzeln“ der Bürger höre auf.

Ja, ja, er wusste zu führen!

Die Waffen allerdings sollten bleiben wo sie hingehören: „Es kann sozusagen hier nicht etwas eintreten, was Unsicherheit in das Land lässt. Und diejenigen, die sagen: ‚Wir sind das Volk!’ müssen einsehen, dass sie nur im Interesse des Volkes auftreten können!“

So sprach der Hans Modrow – und wirkte gleichermaßen führend wie desorientiert und befangen wie ein jeder im Lande… wie ein Kurt Hager vor ein paar Wochen.

Dazu lächelte er fast auch ebenso unbeholfen wie jener. Dies war der eine Appell. Der nächste kam sofort und direkt vom Generaloberst Schwanitz, der aufrief, die Mitarbeiter des Amtes für Nationale Sicherheit nicht zu verfolgen: Leben und Gesundheit dieser Personen sei in Gefahr. Dies klang unglaublich dramatisch. Allerdings mochte oder konnte er nicht sagen, welche Leute diese Mitarbeiter wirklich verfolgten und bedrohten – und zu welchem Zweck.

Unmittelbar nach Modrow-Apell und Schwanitz-Appell teilten die DDR-Nachrichten mit, dass wie vom Himmel gefallen eine völlig unbekannte „Verfassungskommission“ die Auffassung vertrete, ihr bisheriges Mandat sei überholt.

Es bestehe die Aufgabe, eine gänzlich neue Verfassung zu schaffen. Woher kommt diese Verfassungskommission?

Die Aktuelle Kamera setzte fort: Der seltsame SED-Arbeitsausschuss verkündet, dass „ein stalinistischer Sozialismus zur Existenzkrise der Menschheit beigetragen“ hätte. Hier war ein doppeltes Paradoxon formuliert, dem niemand der Menschheit noch folgen konnte. Das nächste paradox klingende Wortspiel folgte auf dem Fuße: Man sei für „radikale Demokratie“.

Die CDU beider Staaten begrüßte Reise-Erleichterungen für Bundesbürger und Westberliner in die DDR. Das Amt für Nationale Sicherheit öffnete seine Türen in der Normannenstraße für „besorgte Bürger“. Man besah dort die Reißwölfe. Ein Aktenvernichtungsgerät fand sich neben dem Schreibtisch des Ministers Mielke! Da war doch wirklich gegen „Moral und Gesetz“ gehandelt! „Da besteht doch der Verdacht“; fragte ein besorgter Bürger einen herumstehenden Sicherheitsmitarbeiter, „dass Akten vernichtet wurden, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssten.“

„Der Verdacht besteht“, bestätigte der Sicherheitsmitarbeiter hilflos. Er hatte sogar mitgeteilt, dass er nicht wisse, was eigentlich vernichtet ward.

Es waren Namen und persönliche Daten von ausländischen Kundschaftern. Indes ist Schalck-Golodkowski in Westberlin aufgespürt und verhaftet worden, meldeten die Nachrichten. Kaum zur Kenntnis genommen: Im Sinne eines sauberen Abschlusses hatte er die internationalen Konten der Forum-GmbH schließen und deren Vermögen auf das Außenhandelskonto der DDR überweisen lassen.

Hoch oben, auf der Siegessäule im nebelfeuchten Westberlin sprach der Neues-Forum-Üppig: „Herr Mueller, ich bin Ihnen sicher sehr verbunden, dass Ihre Gesellschaft für Internationale Konzeption uns beraten will. Aber warum müssen wir uns hier oben treffen?“

Feiner Regen fiel. „Haben Sie denn keine Sorgen“, fragte Herr Mueller, „dass die Stasi aus der DDR Sie abhört? Vielleicht sogar hier abhört?“

„Kaum.“

„Dann müssen Sie aber akzeptieren, dass wir Sorgen haben! Das wäre auch für Sie gefährlich. Diese Leute sind außerordentlich versiert.“

„Sicher. Aber jetzt haben sie andere Sorgen, vermute ich.“

„Wie auch immer“, murmelte Herr Mueller. „Nun müssen wir voraus blicken.“. Er sprach und blickte in den grauen Himmel über Berlin: „Herr Üppig, Sie haben alles richtig gemacht. Allgemein gesagt. Ihr Vorausgehen hat den etablierten Parteien die Sache erleichtert. Das hat die Initiative gut greifen lassen zum Rückzug aus diesem Forum, dieser sogenannten Nationalen Front. Bis auf die Bauernpartei wurde diese Sache von den großen Parteien gut angenommen. Die übrigen Organisationen in der Volkskammer, wie diese FDJ oder FDGB oder der Frauenbund, spielen keine Rolle. Nur die großen Parteien zählen.“

Üppig bestätigte: „Das hat uns schon unser Partner in der BRD gesagt.“ Missbilligend setzte Mueller fort: „Die sind jetzt alle nur noch auf den Runden Tisch fixiert, wo Sie selber sitzen. Dazu werden wir die Einzelheiten gleich besprechen. Zuerst nur soviel: Halten Sie sich mit Angriffen gegen die anderen Teilnehmer zurück, außer gegen die SED natürlich.“

Üppig stutzte. „Das wissen Sie schon?“

Ungerührt sprach Herr Mueller: „Zuerst muss das Neue Forum noch ein Stück weiter gehen. Sonst sind Sie schnell weg vom Fenster! Der Ostblock besteht nicht nur aus der DDR. Gehen Sie weiter! Richten Sie das Augenmerk auf die regimetreuen Länder. Sehen Sie mal nach Rumänien. Das Haupt-Stichwort wird zukünftig sein: ‚Menschenrechte’. Beziehen Sie sich auf die Menschenrechte in Rumänien und fordern etwa, dass alle staatlichen Auszeichnungen für Caucesco aberkannt werden!“

„Begründung?“

„Eben die Menschenrechte. Genauer brauchen Sie das nicht auszuführen. Das Stichwort allein garantiert, dass nichts mehr genauer hinterfragt wird. Es geht hier nicht so sehr um das Land Rumänien als darum, ein deutliches Zeichen zu setzen. Und indirekt verdeutlicht das Stichwort, dass auch in der DDR die Menschenrechtslage katastrophal ist. Damit haben wir den doppelten Nutzen, dass Sie sich klar positionieren und außerdem feststellen, dass das System Sozialismus eben ein Menschenrechtsproblem hat. Verstehen Sie?“ Herr Üppig verstand.

„So, und jetzt passen Sie mal ganz genau auf! Am 15. Januar wird es eine spontane Erhebung von Volkszorn gegen das Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße geben. Etwa um siebzehn Uhr. Auf der vorausgehenden Tagung des Runden Tisches, die live übertragen wird, müssen Sie und andere Oppositionskräfte entsprechend Stimmung vorbereiten. Irgendwelche Zahlen über Mitarbeiter und Bewaffnung dieses Organs reichen jetzt schon. “

Pro tribunal

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