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Wessen Besen ist der Besen?

„Komm erst mal! Abendbrot!“ rief Annelies Happelt ihrer Tochter Madelaine zu. Der Ruf schallte über den Flur in deren offenstehendes Zimmer. Annelies setzte sich an den beige-bezogenen Tisch, auf dem in einer grünen Vase aus Pressglas eine abgeschnittene Heckenrose stand.

Sie betrachtete zwei dampfende Bratwürste auf den Zwiebelmuster-Tellern. Am Rand lagen geviertelte saure Gurken. „Das hast du hübsch gemacht!“ lobte Mutter Annelies dröhnend. Aus einer Flasche Kindl goß sie eine Biertulpe voll. „Wenn du nicht gleich kommst!“ drohte sie vergnügt, nahm eine Scheibe dunkles Vollkornbrot aus einem Weidenkorb und das Besteck. Es verging eine Minute. Sie öffnete das Senfglas. Die Bratwürste ließen im Dampfen nach und der würzige Duft kroch in die Nase. „Madelaine!“ donnerte Annelies. „Erst machst du und machst, und richtest her, und denn biste nicht da!“

„Leck mich am Arsch“, sprach Madeleine als sie erschien. Annelies steckte sich ein Viertel Gurke in den Mund. „Wat is’n?“

„Nischt“, antwortete Madelaine. Sie saß vor ihrer Bratwurst und betrachtete diese gelangweilt.

„Wat hast’n gemacht in deinem Zimmer?“

„Ein paar Striche an ’ner Hausaufgabe.“

„Komisch!“ sagte Mutter Annelies. „Du bist irgendwie anders. So… unsortiert. Irgendwat is mit dir.“

Madelaine fuhr auf. „Det merkste! Da fragste! Wat mit mir is!“

Wütend schnitt sie ihre Bratwurst quer in zwei Hälften und ließ sie liegen, stützte ärgerlich das Kinn auf die Fäuste und grummelte: „Was ringsum passiert, dit merkste gar nicht!“

„Doch merk ich!“ widersprach Annelies mit vollem Mund. „Aber ick versteh’s nicht. Erklärs mir mal.“

„Icke versteh’t doch erst recht nicht“, sagte Madelaine dumpf-betrübt. „Aba mir reichts.“ – „Is et wirklich nur das?“

Madeleine hob die Schultern und schwieg.

„Hat sich dein Holger nich mehr jemeldet?“

Madeleine verzog keine Miene und Annelies verging der Appetit. Aus Pflichtgefühl aß sie ihre Bratwurst zu Ende und würdigte weder Käse noch Limburger Quark eines Blickes. Dann zog sie Madeleines Glas zu sich heran und goss Cola hinein. „Da!“ sagte sie. „Du mit deiner ewigen Cola! Wat is denn nu?“

„Die vaschaukeln uns von Hacke bis Nacke“, sagte Madelaine und nahm das Colaglas. Mutter Annelies stützte ebenfalls die Hände aufs Kinn. Sie wartete ab. Manche Leute haben Gespür für ihre Kinder.

„Erst“, sprach Madelaine, „sagen sie allenaselang: Allet paletti. Und jetzt stehn wa im Regen.“ Annelies nickte. „Et jbt ooch ne gute Nachricht!“

Aufmerksam blickte Madelaine sie an. Annelies schloss die Augen und besann sich: „Hab ick vorhin in’ Nachrichten jesehn. Finanzministerin Uta Nickel sacht, die Zahlungsfähigkeit der DDR is jewährleistet!“

Neugierig blickte sie auf ihre Tochter. „Et jibt 242 Milliarden Mark Einnahmen und 241 Milliarden Ausgaben. Eine Milliarde Mark Überschuss!“ Madelaine nahm den Senf. „Na gut. Hat’s gut geschmeckt?“

„Erstklassig!“

„Ist ja auch nicht so schwierig… Bratwurst“, sprach Madelaine abwesend. „Eine Milliarde“, murmelte sie.

„Du denkst an den Holger!“ bemerkte Annelies.

Madelaine schwieg.

„Naja. Dit heeßt nischt. So und so nicht!“

Madelaine ging nicht darauf ein. „Mutti… Wiedervereinigung“, sagte sie plötzlich und strich Mostrich auf einen Bratwurstabschnitt.

„Wat?“

„Unten an der Haustür is’n Aufkleber Wiedervereinigung! Haste nich jeseh’n? Woher kommt das? Wer bezahlt sowat?“ Gedankenverloren kaute Madelaine. „Jetzt ist der Parteitag. Dieser Außerordent… liche… Heeßt et so?“

„Ja. Aber vielleicht wollen drüben die Leute eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten“, mutmaßte Annelies.

„Was da raus kommt? Bei diesem Partei-Dings?“

„In AK Zwo bringen sie wat davon.“

„Hoffentlich kriegen se da ’n Bogen!“

„Schade, aber wir können nich so richtig rinkieken.“

Aber wir können! Dank unserer Zeitmaschine landen wir mitten im Saale. Es ist wohl weniger ein Saal als eine riesige Halle; die „Dynamo-Sporthalle“ zu Berlin-Weißensee; offenkundig ein Behelf. Früher hatten die SED-Parteitage immer in großen Tagungszentren stattgefunden wie dem Palast der Republik. Nun tagte man überraschend im Provisorium einer Sporthalle. Der neue Behelfscharakter der Republik hatte die größte SED-Tagung erreicht… oder gelangte zu dieser zurück. So wie die Nachrichten nur noch herunterfallende Tapetenstücke aufnahmen und hilflos mit Klebestreifen befestigten, war auch hier sichtbar: Dahinter ist wenig, daran zu befestigen noch taugt: keine Gewissheiten mehr, keine Zukunfts-Zuversicht. Das sonderbare Spektakel einer abgelösten Partei hat indes Gewicht im Land:

Nach einer aktuellen Umfrage wollen fast achtzig Prozent der DDR-Bevölkerung von dieser zurückgetretenen Partei ohne jede Staatsführung weiterhin wissen. Genau über diesen Sonderparteitag wollten sie informiert werden! Sechsundsiebzig Prozent wollten den Parteitag ohne staatliche Relevanz sogar per Direktübertragung unmittelbar erleben. Diese Partei hatte die Führung staatsrechtlich abgegeben, aber sie hatte sie subjektiv aufgegeben. Objektiv hatte sie die Führung noch.

Im Publikum sehen wir den Winkler als Delegierten sitzen. Wer hätte das von ihm gedacht? Seine Rede hatte wohl eingeschlagen. Wir sehen… Ja! Wir sehen den Kosmonauten Sigmund Jähn sitzen, auch ihn also nun zum zweitenmal. Wen kennen wir noch? Da sitzt doch auch der Egon Krenz. Er ist ja von seiner nördlichen Grundorganisation gewählt worden, wenngleich knapp. Da sitzt der Dr. Kusseler von der Berliner Organisation, Dozent an der Humboldt-Universität.

Es waren Strahler aufgestellt wie zu einer Zirkusvorstellung, aber es wurde nur eine gewaltige Clownerie.

Soeben sprach vorn am Präsidium ein Herbert Kroker als Vorsitzender des „Arbeitsausschusses“. Einst hatte er einen Großbetrieb geleitet und war wegen fortgesetzt individualistischer Kritik der volkswirtschaftlichen Planung abgelöst worden. Er galt folglich als ein „Opfer des Stalinismus“ und hatte somit eine neue kleine Karriere starten können. Über den riesigen Saal sprach er hallend: „Liebe Delegierte! Liebe Genossinnen und Genossen! In einer äußerst besorgniserregenden Lage unserer Partei begrüße ich euch, 2750 Vertreter aus allen SED-Gliederungen unseres Landes, zum Außerordentlichen Parteitag. Die Lage im Lande und in der Partei hat uns zu einer vorfristigen Einberufung des Außerordentlichen Parteitages veranlasst, obwohl noch nicht alle Dokumente den erforderlichen Stand aufweisen. Der Arbeitsausschuss hat den Parteitag für den achten und den neunten Dezember vorgesehen. In dieser gesellschaftlichen Situation sieht es der Arbeitsausschuss als lebensnotwendig für unsere Partei an, auf diesem ersten Beratungs-Tag handlungsfähige Leitungsgremien zu wählen, die damit durch die Basis legitimiert sind.“

Dann trat Hans Modrow auf. Er faselte und forderte: „Lasst diese Partei nicht untergehen, sondern macht sie sauber und stark!“

Wie gab die Geschichte diesen Säuberern und „Starkmachern“ Recht? Natürlich gar nicht. „Was fällt dir auf?“ fragte des Winklers Nachbar in dessen Ohr. Doch erhielt er keine Antwort.

Modrow quakte. Man hörte.

„Mir fällt auf“, sprach da der Kusseler zu seinem Nachbarn, „dass die Partei hier für sich steht. Als schwebe sie frei im Raum. Ist die Gesellschaft für die Partei da oder umgekehrt?“

Inzwischen referierte vorn der in Wirklichkeit leitende Berghofer aus Dresden: „Angesichts der Fülle unserer Herausforderungen wird der Parteitag vielleicht zwei Tagungsrunden benötigen. Wir können uns auf den sechzehnten und siebzehnten vertagen. Trotzdem aber, liebe Delegierte, ist es lebensnotwendig…“ – und bei diesem Wort zuckte die Hörerschaft im weiten Saal leicht zusammen – „bereits am ersten Beratungstag, also heute, handlungsfähige Leitungsgremien zu wählen!“

Nahezu starr saß der Parteitag. Er wusste noch nicht, dass er nur wegen dieser neuen Leitung erschienen war.

Vorn sprach Berghofer genussvoll: „Uns liegen die Wortmeldungen aus den GO vor. Wir werden da Verschiedenes über Administrativität und politische Verzerrungen hören. Aber“, so tönte er plötzlich markig durch die Halle, „dabei dürfen wir nicht stehen bleiben! Nur ein handlungsfähiges Führungsgremium kann gewährleisten, dass die Krise des administrativ-zentralistischen Sozialismus überwunden wird! Wir schlagen dies umgehend vor.“

„Alles ist schon wieder festgelegt“, murmelte Winkler.

„Die Regie steht jedenfalls!“ murmelte auch Kusseler.

Vorn bestätigte es jetzt der Kroker und rief: „Es geht um ein neues Selbstverständnis! Nämlich um die Formierung einer modernen Partei des demokratischen Sozialismus!“

Einvernehmlich schnappte der Parteitag nach Luft, erfreut oder nicht. Da war offenbar tatsächlich alles schon wieder festgelegt. Zunächst zeigte die ganze Veranstaltung sich zwiegeteilt, in zwittriger Figur wie eine Missgeburt, wie ein Kalb das mit zwei Köpfen uns geboren ist. Zwei Clowns singen uns, nicht einer. Da hatte der „Arbeitsausschuss“ als Schwerpunkt schon eine neue Leitung vorgesehen, was es nun auch für eine sei. Eine inhaltliche Debatte über den Kurs stand hintendran. Man konnte nur staunen. Da war sogar bereits fix und fertig festgelegt, dass nur ein sogenannter demokratischer Sozialismus in Frage komme!

Sigmund Jähn lieh das Ohr seinem Nebenmann, der mitteilte: „Ich glaube, jetzt begreife ich, was Stalinismus ist. Das ist Sozialdemokratismus.“

Es folgten die angekündigten Redebeiträge. Sie ähnelten einander erstaunlich. Man sprach voller Abscheu über Schönfärberei, als wäre sie neu und man selbst daran nie beteiligt. Man sprach über „dirigistische Eingriffe“ von oben. Man verkündete Illusionen über eine täglich und stündlich muntere Kritik und Selbstkritik, über eine nie endende Beratung eines jeden mit jedem Tag und Nacht. Man sprach über fröhliche und nette, zu erwartende neue Vorschläge.

„Ich bin Arbeiter“, hallte es dann eindringlich vom Pulte und über den Saal.

„Meine Kollegen haben mich nicht hierher geschickt, um Stimmung gegen Fehler der Vergangenheit zu machen. Die kennt jeder! Das alles haben unsere Medien ausführlich beleuchtet. Wir sagen: Jetzt reicht’s! Die Stimmung ist genug am Boden. Jetzt geht es nicht mehr um Entstellungen und Fehlentwicklungen. Jetzt geht es darum, dass wir diesen Staat einfach sichern und das heißt zuerst unsere Partei erhalten!“

Der Saal nahm Anteil. Man nickte und klatschte.

„Wir brauchen“, rief der Arbeiter, „keine Rezepte aus der Wundertüte! Was wir bis jetzt erlebt haben, alles was aus der Wundertüte kam, ist mehr als genug! Natürlich braucht ein sozialistisches Land eine sozialistische Partei, die auf sauberer weltanschaulichwissenschaftlicher Grundlage dessen Geschicke führt“, rief dieser Arbeiter.

Beifall brandete auf.

„Irgendwann muss Schluss sein mit lustig! Wir fragen: Wieso konnte eine Parteiführung nicht nur zulassen, dass unsere führende Rolle aus der Verfassung des sozialistischen Staates gestrichen wurde, sondern es sogar selbst initiieren? Wieso? frage ich! Wieso?“

Der Beifall verstetigte sich, und wurde stetiger und stärker. „Das ist doch wieder so etwas aus der Wundertüte, dieser demokratische Sozialismus! Ich habe mal gelernt, dass Lenin vom Prinzip des Demokratischen Zentralismus spricht, wo beides nicht nur enthalten ist – Demokratie und Leitung – sondern sich ergänzen muss. Das muss sich auseinander ergeben! Das hat entscheidend gelitten bei uns. Wieso gehen wir nicht erst mal dahin zurück?“ Die Sporthalle tobte vor Begeisterung.

Was tat die Regie: Der neben Kroker sitzende Gysi steckte ihm den Kopf zu und wisperte nervös: „Jetzt wäre ja die Pause geplant…“

Berghofer nickte fahrig. „Das können wir nicht so stehen lassen“, bestätigte auch Kroker. „Wir nehmen noch den nächsten Redebeitrag. Vielleicht passt der besser.“

Er passte besser zur Regie.

Zur Pause sprangen die Delegierten auf, sprangen durcheinander, fuchtelten… Winkler ging an einer Ansammlung vorbei und hörte: „Genosse Kusseler, haben wir nicht vergessen, dass der Mensch im Mittelpunkt steht?“

Kusseler gab zur Antwort: „Im Mittelpunkt steht der Mensch. Das war wohl die Losung, aber so einfach ist es nicht in der Gesellschaftswissenschaft. Da nimmt der Mensch selbst nicht nur als Subjekt sondern auch als Objekt ständig teil und beeinflusst alles. Ob er will oder nicht. Dem Menschen bei uns ging es zwar erstmal besser als je zuvor, aber dieser Mensch ändert auch unbewusst. Und er ändert sich selbst unbewusst. Auf Dauer funktioniert es nicht, dieses: Im Mittelpunkt der Mensch. Nur wenn es dem Sozialismus besser geht, dann geht’s auch dem Menschen besser. Das wurde bei uns vergessen. Indem wir ständig praktizierten im Mittelpunkt steht der Mensch und es Sozialismus nannten, wurde übersehen was im Sozialismus wirklich im Mittelpunkt steht: der Klassenkampf, auch der im Innern; der Kampf gegen bourgeoise Einstellungen. Erst wenn das als zentrale Herausforderung begriffen ist, kann der Mensch dauerhaft in den Mittelpunkt rücken.“

Winkler schlenderte weiter. Einige Delegierte hatten sich um eine Dame in silbriger Bluse mit grauen Hosen gescharrt. Sie hatte beide Hände gehoben und raunte in verhaltenem Ton: „Ich habe keine Angst zu sagen, was ich weiß. Mich bewegt nur die Frage, was dieser Hintergrund nützen kann. Die Ausschussmitglieder sind nicht vom Himmel gefallen, das stimmt. Diese Gruppe von SED-Genossen hat sich ungefähr im November gefunden, als die Kampagne gegen Machtmissbrauch anfing. Nach allem was ich weiß, hat sie Verbindung zur sowjetischen Botschaft. Ziel dieser Gruppe war es wohl, sämtliche alten Gesichter von Axen bis Krenz loszuwerden, um die eigene Stellung zu sichern und auszubauen. Im Sinne dieser Genossen sollte sich die SED als selbstgesäuberte solide Kraft präsentieren, um die Position und die Laufbahn dieser Genossen zu beflügeln. Oder auch, um diese abzusichern. Dadurch kam es zu der seltsamen Lage, dass Egon als er die Idee mit dem Arbeitsausschuss übernahm, die eigene Gegengruppe hoch brachte.“

„Die neue Generation, die ganz neue Parteiaristokratie!“ rief jemand wütend. Etwas nervös hob die silbrige Delegierte ihre flachen Hände höher und winkte ab. „Moment! Wie man das nennt… Ich nenne nur mal die Namen Berghofer, Bisky, Kroker und Gysi. Wie man das jetzt einordnet, ist jedem selbst überlassen.“

„Und Markus Wolf?“ rief jemand dazwischen.

„Und Markus Wolf, ja… im weiteren Sinn.“ Die silbrige Dame nickte blaß.

Ein älterer Hörer fragte: „Da haben wir es ja mit einer echten Fraktion zu tun die es laut Statut gar nicht geben darf?“

„Sicher!“ sprach die Dame. „Diese Gruppe hat Verbindungen in die Berliner Kultur- und Medienszene, in alle Hochschulen der Hauptstadt und auch in die Akademie…“

„…der Wissenschaften?“

„Ja. Und auch zu Funktionären der Bezirksleitungen Berlin und Potsdam und Dresden.“

„Dann hängt Genosse Modrow da drin!“ rief eine jüngere Teilnehmerin überzeugt. Die silbrige Genossin hob ihre Hände noch weiter und senkte sie dann langsam, als wolle sie dies zusammendrücken. „Fest steht“, sagte sie bedeutsam, „dass die Demonstration der sogenannten Parteibasis am dritten Dezember am Werderschen Markt aus diesem Zirkel kam.“

„Jetzt stehen wir da!“ rief es unterdrückt aus dem Pulk. Eine andere Stimme sprach nachdenklich: „Egon Krenz konnte nicht weiter helfen. Aber der ist wenigstens noch einer von den Ehrlichen.“ Die Silbergraue nickte. „Am 30. November hat sich auch diese Gruppe aber ganz offen und ehrlich konstituiert und präsentiert, und zwar im Werk für Fernsehelektronik in Oberschöneweide, und zwar auf einen Vorstoß hin der Kreisleitung an der Humboldt-Uni. Diese Plattform hat sich dann als solche sogar öffentlich im Rundfunk erklärt – das wisst ihr doch – und gesagt: ‚Der Parteiführung und dem sie stützenden Apparat entziehen wir unser Vertrauen.’“

„Die haben auch mitgeteilt“, ergänzte der ältere Hörer, „Die Regierung Modrow unterstützen wir! Und dann haben sie gesagt, die Rettung der Partei liegt in der kompromisslosen Erneuerung, die einer faktischen Neugründung gleichkommt.“

Man schwieg in der Runde zu soviel Hintergrund.

„Es gibt also, könnte man sagen“, fasste die Dame zusammen, „zwei entgegengesetzte Ideen einer Neugründung: die Idee einer marxistisch-leninistischen Neugründung, und auch die einer reformistischen Auflösung. Drittens gibt es noch die Idee von der sozialdemokratischen Stabilisierung.“

Winkler bemerkte das folgende Schweigen, und dass man sich nach ihm umwandte. Konfus gestimmt ging er weiter. Was muss man nicht hören! Das ist aber dicke! Es kam noch dicker. Ein Delegierter an dem er vorüber ging, sprach soeben zu seinem Begleiter: „Die Abteilung Parteiorgane des ZK hat schon im Oktober das Politbüro darüber informiert, dass in den Grundorganisationen mit hohem Anteil an Intelligenzberufen zunehmend Ansichten vertreten werden, die von denen des Neuen Forum nicht mehr zu unterscheiden sind. Verstehst du! Wir werden verraten und verkauft! Von den eigenen Genossen!“

„Najadoch“, antwortete der andere.

„Von der Filmhochschule dieses Bisky wurde gemeldet, dass dort komplett parteiliche Positionen aufgegeben wurden! Und diese Typen haben jetzt das große Sagen.“

Verwirrt schlenderte Winkler durch die Pulks von Delegierten und schnappte Gesprächsfetzen auf. „Gysi sitzt doch da oben, auf dem Präsidium!“

„Das ist der Richtige! Der kennt den richtigen Weg!“ – „Der ist ehrlich!“ – „Meinst du?“ –

„Aber WIESO sitzt er denn da oben? He? Der ist doch bloß Vorsitzender der Untersuchungskommission Amtsmissbrauch und Korruption! Sag mal! Wieso macht er hier den Oberclown? Ich finde, der macht sich reichlich breit!“ – „Aber es geht doch gerade darum auszumisten! Das ist doch die Hauptaufgabe! Den ganzen Schlamassel erstmal aufzudecken!“

„Meinst du, dass uns soviel Zeit jetzt bleibt, wo es um’s Ganze geht?“

„Und jetzt beschließen wir hier“, rief jemand, „selber die Auflösung der Betriebsparteiorganisationen? Das ist doch eine Katastrophe! Damit geben wir doch den Löffel ab, unsere eigene Machtbasis!“

In einer anderen Gruppe stand der DDR-bekannte Kosmonaut. „Was sagst du, Genosse Jähn?“ hörte Winkler fragen. „Mich interessieren vor allem die Redebeiträge“, sprach dieser sanft und bescheiden, der heute in Zivil auftrat. „Hinter jeder dieser Wortmeldungen steckt eine Geschichte. Man muss sich Zeit nehmen dafür.“

Drei Meter weiter wurde Winkler am Ärmel gepackt. „Woher bist du?“

„Aus Teltow“, sprach Winkler und löste seinen Arm aus dem Griff.

„Bist du auf Seiten dieses Arbeitsausschusses?“

„Das weiß ich nicht“, gab Winkler ehrlich zu.

„Der Arbeitsausschuss ist von Krenz so nicht gewollt gewesen! Aber der ist real ein Produkt seiner reformistischen, antisozialistischen Erneuerungspolitik, Genosse!“

„Man könnte auch sagen“, meinte ein Weiterer Vorübergehender; „zuerst kommen die versteckten Kapitulanten und danach die offenen.“

„Das ist mir zu hoch“, erklärte Winkler und grübelte und ging weiter. Fast wäre er dem Krenz in die Arme gelaufen. „Egon!“ redete man ringsum auf den hilflos lächelnden Krenzen ein. „Wir alle haben gedacht, du hast’n Plan. Aber du hattest ja gar keinen Plan, Egon! Du hast ja keinen Plan!“

„Aber“, rechtfertigte sich dieser, „ich bin doch einfach nur ein SED-Genosse. Wie ihr alle! Woher soll die ganze Weisheit auf einmal kommen?“

„Vielleicht sollte man die Klassiker nicht nur im Bücherschrank stehen haben! Sondern auch mal ’reinschauen!“

Krenz lächelte hilflos dazu.

„Hast du mal was von ‚Götterdämmerung’ gehört, Egon?“

Dieser nickte hilflos-freundlich.

„Jetzt kommt das Menschheitsdämmern! Durch dein Versagen!“

Nebenan erhob sich lautstarker Disput. „Nein!“

„Doch!“ – „Nein! Es geht eben nicht um Köpfe im Sozialismus, um Personen! Es geht um Verstand! Kopf statt Köpfe!“

Ein paar Schritte weiter klärte ein jüngerer Mann einen grauhaarigen auf: „Wir müssen bei einer eventuellen Wiedervereinigung nur die sozialen Sicherheiten erhalten, also absichern.“

Wie kann man, fragte sich Winkler, diese Sicherheiten absichern? Wenn wir die Macht dazu abgeben?

Eine Teilnehmerin mittleren Alters belehrte eine Jugendliche: „Mir hat damals ein Film schlagartig die Augen geöffnet, der alte Brecht-Film ‚Kuhle Wampe’. Da werden die einfachen Leute erstmal so richtig kulturlos gezeigt, bis klar wird, dass sie nur gemeinsam neue Ufer erreichen. Und zum Schluss denn die entscheidende Frage: Wessen Welt ist die Welt?!“ –

An der Wand stand eine einzelne Frau mit angegrautem Haar. Sie wirkte ebenso verunsichert wie sich Winkler fühlte. „Woher bist du, Genossin?“ fragte Winkler; er fügte die ungewohnte Anrede von sich selbst überrascht hinzu.

„Aus Quedlinburg.“

„Schöne alte Stadt“, anerkannte Winkler ohne Flirtabsicht.

„Ja… schön. Aber was hilft’s, wenn man die Schönheit nicht mehr erhält?“

Winkler war verblüfft. „Tut man es gar nicht?“

„Teils teils. Aber es fehlt der richtige Plan.“

Unterdessen beriet die Regie. „Die Stimmung ist eher auf einen Schnitt und einen kompletten Neubeginn eingestellt“, sorgte sich Kroker. „Die kommen noch mit Marx und Lenin daher, wenn das so weiter geht!“

Gysi wedelte ab. „Es gibt auch das Lager das einfach nur sauber Schluss machen will!“

„Aber das geht nicht! Wie die sich das vorstellen!“

Markus Wolf beschwichtigte den Zweifler: „Gregor biegt das wieder hin! Deshalb soll er auch später sprechen, nicht gleich zu Beginn…“

„Ihr könnt den Besen schon holen!“ tönte Meister Gysi selbstgewiss strahlend. Er wusste wohl auch etwas mehr.

Die Stimmung indes stand tatsächlich ungünstig für die Reformer, die Reformisten. Der Parteitag hatte genug von Reformen aus der Wundertüte: Her mit der kompletten marxistisch-leninistischen Generalinventur! Zugleich, wie wir hörten, gab es Stimmen, die einfach irgendwie abschließen wollten, um dann zu sehen wie sich die Mitgliedschaft und das Volk dazu stellten. Ein Ausschussmitglied Berghofer gehörte zu diesen Auflösern und stand hier gegen die Gysi-Truppe. Er sprach abseits zu dem Mann, dessen Name uns wie Käse klingt: „Das ist alles irreparabel.“

„Also muss diese Partei erstmal verschwinden!“ –

Die Pause endete. Die Delegierten nahmen Platz.

„Was sollte mir denn aufgefallen sein?“ fragte Winkler seinen Nachbarn als er sich setzte. „Na, dass der Gysi da vorn sitzt!“

„Wir haben“, sprach Kroker über den Parteitag hinweg, ‚jetzt verschiedene Stellungnahmen aus der Basis gehört. Inzwischen ist der Abend vorangegangen. Wir können jetzt über alles Hin und Her und Für und Wider lange debattieren. Aber um die Fortführung unserer Partei sicherzustellen, schlägt euch die Tagungsleitung vor, zunächst wie vorgesehen die neue Parteileitung zu bestätigen.“

Unsportlich rief man aus der Sporthalle: „Erst die inhaltliche Richtung!“

Man rief: „Erst Kurs klären!“

Leichter Tumult entstand. „Keine vorgesehenen Abläufe mehr!“

„Keinen Stalinismus!“

„Aussprache fortführen!“

„Was ist mit den Anträgen?!“

Die Tagungsleitung reagierte nervös. Kroker, Berghofer und Gysi fuchtelten gemeinsam mit den Armen. „Genossen! Genossen! Dazu… soll doch gerade jetzt Genosse Gysi sprechen!“

Der Geräuschpegel sank. Ein rhetorisch-witziges Redelein vom Clown Gysi kann kaum schaden! Man war neugierig. Man beruhigte sich. „Wir würden für die weitere Aussprache“, erläuterte der Kroker durchs Mikrofon, „die Medien herausnehmen, damit wir uns in Ruhe konzentriert unserem Schwerpunkt zuwenden können! Gibt es Gegenanträge?“

Diese gab es natürlich nicht. Niemand war darauf vorbereitet. Niemand fand jetzt Zeit, es zu durchdenken. Was war gewünscht? Keine Öffentlichkeit! Keine Offenheit! Keine Klarheiten! Gekungel hinter verschlossener Tür!

Und das fordern die sogenannten Antistalinisten.

„Wir bitten dann die Medien, die geschlossene Sitzung des Parteitages zu respektieren“, forderte der Kroker, „und die Medienvertreter den Saal zu verlassen.“

„Jetzt“, sagte Winklers Nachbar, „spricht der Oberclown.“ Nunmehr stand Gysi auf dem Podium auf und rief mit aller Inbrunst und so laut seine hell kratzende Stimme es zuließ: „Genossen!“

Den Zusatz „Liebe“ und „Genossinnen“ ließ er wegen Verdachts zu großer Formelhaftigkeit entfallen. „Ich bin und bleibe Mitglied dieser Partei!“

Man klatschte anerkennend. „Ich bin aber“, krähte er, „nicht Mitglied dieser Partei geworden, um mir von Leuten die sich als Kommunisten bezeichnen, sagen zu lassen, was für uns richtig und falsch ist, was unserer Gesellschaft nottut, was sie braucht und was nicht!“

Ein rhetorisches Meisterstück! Er sagte, dass er gegen Kommunisten einträte. Aber er sagte es so, dass es schien, er meine Leute die sich fälschlich nur als solche verkauften und tatsächlich keine waren. Und die gab es mehr als zuhauf, wie man wusste und verabscheute. Bewundernd und verwirrt schwieg das Publikum.

Gysi meisterte weiterhin:

„Der Sozialismus hat bei uns, wie wir alle wissen und sehen, eine Entwicklung genommen, die mit dem was die Zielstellung war, nichts mehr oder nur noch sehr wenig zu tun hat! Wir haben uns alle an veraltete und irgendwo steckengebliebene Schubkästen gehalten und viel zu wenig die Lebenswirklichkeit beachtet!“

In der Sporthalle schwenkte man zu Fairness über und klatschte. Dies alles traf wohl zu. „Wir haben“, schwadronierte im Diskant Herr Gysi, „uns alle – und ich nehme mich da gar nicht aus – ein Bild gemalt, an das wir uns halten konnten. Nun hat uns die Realität eingeholt. Nun müssen wir uns dieser Realität aber auch stellen! Jetzt müssen wir bekennen, dass viele unserer Ansichten überholt sind und ganz offensichtlich überholt sind!“

Der Parteitag schwieg noch verwirrter und klatschte vereinzelt.

„Genossen! Ich habe von der Tagungsleitung den Auftrag übernommen, das Grundsatzreferat über die notwendige Erneuerung und Modernisierung unserer Partei zu halten. Der Kern aber, liebe Genossinnen und Genossen, dieser Modernisierung unserer Partei ist der demokratische Sozialismus, denn nur unter Mitwirkung aller kann eine Lebenswirklichkeit erreicht werden, die mit dem was wir wollen übereinstimmt!“

Es war die wohl bemerkenswerteste Rede des Oberclowns. Er fistelte weiter über sozialistische Demokratie und demokratischen Sozialismus.

Kusseler sagte: „Man hat den Eindruck, dass er gar nicht weiß, was historischer und dialektischer Materialismus ist.“

Gysi krähte: „Die Freiheit von Problemen die wir haben, ist uns noch lange nicht so viel wert, wie die Freiheit von Problemen, die wir jetzt noch gar nicht haben!“

In der Sporthalle verhielt man den Atem ob dieses köstlich unbegreiflichen Wortgeklingels. „Wie uns Genosse Kroker“, krähte Gysi mit gesteigertem Nachdruck, „vorhin schon sagte, müssen wir uns über eines klar sein, Genossen! Nämlich darüber, dass eine Partei wie unsere in einer derart angespannten und zugleich desolaten Situation überhaupt nur noch EINE Chance hat zu überleben: Indem sie klar und deutlich ihre eigene Spitze festlegt und sagt, wer sie führen soll!“

Meister Gysi schwieg etwas erschöpft.

Der Parteitag war unsicher.

„Das ist blanker Opportunismus!“ rief jemand. Ein anderer entgegnete sofort: „Willst du einpacken?“ Und in dieser Sekunde entlud sich die Spannung. Man sprang auf die Füße. „Wir wollen…“ – „Sofort wählen!“ – „Keinen blinden Reformismus!“ – „Diskussion!“ – „Auflösung!“– „Anträge behandeln!“ – „Neugründung!“

„Echte Sauberkeit!“ Der Parteitag drohte im Chaos zu versinken.

Kroker fuchtelte und schrie durchs Mikrofon: „Genosse Modrow! Genosse Modrow! Bittet ums Wort!“

Dies half. Man war noch immer DDR-Bürger.

Dort vorn stand der Regierungschef. Ganz klein stand er da und schmächtig, stand hinterm Mikrofon und schwieg. Er stand da wie ein Puppe. Doch der gigantische Saal kam zur Ruhe. Nun aber! Es war dessen eigener Regierungschef, der wirklich eigene aller Menschen. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Heiser und sympathisch klingend sagte Modrow: „Ich wende mich an alle Delegierten dieses Parteitages…“ An wen sollte er sich sonst wenden?

„Ich stehe diesem Land und seinen Bürgern in der Verantwortung.“

Anerkennungsvoll wurde gelauscht. „Das geht natürlich nicht“, ermahnte sich auch Dr. Kusseler halblaut selbst, „dass man Hans Modrow sitzen lässt.“

Er hatte wohl noch keine Ahnung wovon er sprach.

„Ich sage euch ganz offen“, sprach Modrow heiser und sympathisch, „dass dieses Land, dass die DDR nicht mehr regiert werden kann, wenn mir keine Partei zur Seite steht. Wenn ich keine Partei hinter mir habe. Dazu gehört auch eine handlungsfähige Spitze. Wenn bei der Schärfe des Angriffs auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig ist, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht“, rief er heiser-dramatisch, „dann tragen wir alle die Verantwortung dafür, wenn dieses Land untergeht!“

Nein! dachten entsetzt die Delegierten. Nur das nicht! Ich kann meinen Kollegen, meinen Bekannten und Freunden ja nie mehr in die Augen sehen!

Dieser Clown trug eine schwarze Maske. Führer wollte er gern sein. Wohin und wozu – das war ja eine ganz andere Frage. Es war seine Führung. Mit seiner Regierung, weil IHM diese Partei zur Seite stand, ging das Land unter. „Wenn keine Partei mich unterstützt, ist dieses Land nicht mehr regierbar!“ rief Modrow heiser und sympathisch. „Es darf jetzt nicht an der Konsequenz fehlen, an Entschlossenheit, einen neuen Vorstand zu wählen!“

Da war sie wieder: die notwendige Konsequenz. Daran hatte es gefehlt, doch da war sie wieder. Auch der Gysi mochte darauf noch gern etwas Dramatik liefern und krähte etwas vom beträchtlichen Parteivermögen der SED. Und wieder setzte sich das Alte durch; siegte die Gewohnheit.

Veränderung – wie man weiß – tendiert nicht zur Revolution. Sie neigt immer zur Restauration. Zum Alten. „Stimm zu!“ soufflierte die Gewohnheit. „Stimm zu! Da ist wieder eine Führung, die immerhin sich als solche bekennt, und die vor allem weiß was sie will! Die wird dich schon wieder anzuleiten wissen! Es kann doch gar nicht anders sein! Lehne die Auflösung ab!“ säuselte die Gewohnheit. Kein sauberer Schnitt! Keine kommunistische Neugründung! Was du hast, weißt du. Was du kriegst, weiß keiner.“

Man wählte. Man wählte wieder, was und wen man präsentiert bekam.

Die werden schon wissen, worauf es ankommt!

Die Wahlergebnis wurde verkündet: 95,3 Prozent! Es war fast wie in alten Zeiten. Man bestimmte den Namen der eigenen Partei der ursprünglich Wissenschaftlichen Weltanschauung um in: SED-Partei des demokratischen Sozialismus. Als gründete Neptun eine Partei des nassen Wassers.

Und gewählt wurde nun der Gysi. Eine nette junge Frau – es musste eine nette junge Frau sein – überreichte ihm symbolisch einen riesigen Besen.

Dies war die Sternstunde der Modrow und Gysi. Die Arbeiterverräter, die Sozialdemokraten hatten endgültig die Macht übernommen, um alles folgerichtig in den Sand zu setzen, was einst errungen war. Hinter dem Podium schwenkte der strahlende Gysi begeistert den Besen. –

Einige Jahre später wird er stolz verkünden, dass er es war, der die DDR-Bürger so reibungslos ins BRD-Gefüge integrierte.

Kusseler überlegte halblaut: „Damit fegen sie wohl die letzten Reste Marxismus-Leninismus hinaus und zeigen dem Gegner: Wir übergeben euch alles besenrein?“

Da stand Rumpelstilzchen Gysi und schwenkte seinen Riesenbesen, fast größer als er selbst. Und so lustig es dem ersten Augenscheine nach schien: Etwas an diesem Bilde stimmte nicht. Man musste sehr genau hinsehen. Auch dem Arndt kam nur so etwas wie eine Ahnung.

Es war der Tod, der da schwenkte. Er bleckte seine Riesenhauer und schwenkte in Wirklichkeit eine gewaltige Sense. Jede Borste an diesem Besen war ein Maschinengewehr das genau ins Herz der organisierten Arbeiterbewegung und Menschheit und ins Herz der Einheit und jeder Menschenzukunft zielte. Die Dame, welche von „Kuhle Wampe“ gesprochen hatte, fragte leise: „Wessen Besen ist dieser Besen?“

Da war alles umgedreht. Da war alles umgewandt und gewendet. Nicht mehr das Volk hatte die Macht, sondern die Leute mit dem Maschinengewehr. Stets ist die Frage: Wer säubert? Wem gehört der Besen? Den Lenin, Liebknecht, Thälmann oder den Ebert, Noske und Gysi?

Wir haben zu lange gewartet, fiel dem Kusseler ein. Wie muss eine klassenmäßige Revision aussehen? Jetzt haben wir keine Zeit mehr, wie wenn die letzten Körnchen durchs Stundenglas rinnen…

Daraufhin dann durfte der Parteitag zwar inhaltlich diskutieren. Aber da saß der Gysi. Und dort stand der Besen. Wer lässt sich gern hinausfegen?

„Ich nehme lieber einen Rasierapparat“, erklärte Kammersänger am Morgen nach dieser Nacht. Im Waschraum ging er an Arndt vorbei. Dieser stand vorm Spiegel am himmelblauen Waschbecken. Er beugte sich vor und spülte mit kaltem Wasser die eingeschäumten Wangen ab. „Ich auch, Kammersänger. Ich auch“, bestätigte er und beäugte einen zentimetergroßen Schnitt, aus dem ein Blutstropfen trat. „Dies war nur eine Ausnahme von der Regel.“ Kammersänger war stehengeblieben.

„Das ist wie alles. Ich habe einen Fehler gemacht. Wir alle.“

„Was meinst du?“

„Mich und uns alle. Den Sozialismus.“

„Was denn nun? Uns oder den Sozialismus?“ fragte Kammersänger verschmitzt. – „Nein. Du hast recht. Ich meine uns alle…“

Arndt besah im Spiegel den Blutstropfen. „Ein kleiner Schnitt, aber deshalb bringe ich mich nicht gleich um.“

Pro tribunal

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