Читать книгу Pro tribunal - Arno Legad - Страница 7

Оглавление

Der seltsame Mann und der Bakerman

Thomas Arndts Träume hatten ihre düstere Tristesse und Melancholie verloren. Sie wurden unruhig, packend bis grausig. Er drehte und wand sich im Bett. Mit blauem Gesicht hielt der halbtote Maik die grazile Claudia im Arm und tanzte wild mit ihr im Kreise, schwang sie herum, heftiger als er selber seinerzeit. Neblig ward das Bild und verschwamm. – Stube 202 erstand. Durch die offenstehende Tür trat Arndt ein. Aber es gibt doch gar keinen Grund zum Erstaunen! Was verwundert er sich nur fortwährend? Alles befand sich an seinem Platz: In der Mitte des Zimmers steht der Tisch, die Kaffeemaschine darauf. Das Regal an der Wand enthält den Radiorecorder. Darunter steht der zerknackste Honecker. Oben an der Decke hängt die Lampe. An der Lampe hängt der Weisenkorn.

Dann wieder saß er auf dem Kutschbocke eines gelben Wagens, gezogen von zwei riesigen Rappen. Neben ihm schwingt der Schwager in einem dunklen wallenden Umhang seine scharf knallende Peitsche. Der Wagen rast durch die Nacht, an verdorrten Bäumen entlang, über Berg und Tal und Städte. Er fliegt förmlich durch die Nacht. Neben ihm wächst und schwillt der Kutscher an und wird größer und gewaltig. Hinter der übergroßen Kragenecke ist sein Gesicht halb verborgen. „Nicht so schnell, Kutscher“, krächzt Arndt. Dröhnend lacht dieser: „Ich bin kein Kutscher. Ich bin kaiserlicher Postillion!“ Hohnlachend donnert er: „Halt dich ja fest, Untermenschlein!“ und brüllt vor Lachen. Arndt wird kleiner. Er sinkt zusammen, klammert sich ängstlich fest, wird auf und niedergeschleudert, hin und her, und kann sich kaum mehr halten. –

Wiederum saß er in der Stube 202. Da kam der Egomon auf ihn. Er sah ein wenig aus wie LSD und auch etwas wie Ball. „Komm!“ grölte er laut wie ein Trunkener. „Komm! Armdrücken!“ Er hielt seine Klaue empor und sprach klirrend: „Du hast ja Angst! Ich werde dir zeigen, dass ich stärker sein kann als der Mensch. Stärker als mein eigener Gegner!“

Langsam öffnete Thomas Arndt die Augen.

Er spürte eine Hand auf der Stirn. Im Dämmerlicht erblickte er graue Unteroffiziers-Schulterklappen auf einer grauen Tarnuniform. Dann erst nahm er verschwommen Schaltmeister wahr. Dieser sah aufmerksam in sein Gesicht und sagte ohne jeden Fürwitz: „Bist krank.“

„Lass… Quatsch“, murmelte Arndt dumpf. „Du riechst ein bisschen, musst mal wieder duschen.“ Er drehte sich weg. Dann verflochten sich die Träume. Claudia wurde vom Egomon vergewaltigt. Der gelbe Wagen flog über die ganze Erde, auf der sich Längen- und Breitengrade abzeichneten. Er selber hing nur noch mit einer Hand am Geländer. Über ihm brüllte es: „Du würdest wohl gerne noch blei-ei-ei-ben…“

Plötzlich erblickte er auf dem Dache des Kutschwagens den Pjotr, der schwankend aufstand und hinab sprang in die Tiefe. Er spürte wie er selbst den Halt verlor und fiel. „Warte!“ schrie Pjotr. „Ich komm mit!“

„Du bist vorn!“ schrie Arndt zurück. Ins Bodenlose stürzend rief Pjotr: „Wir haben schon lange nicht mehr Skat gespielt.“

Plötzlich zeigte sich neben ihm fallend der Maik, der fröhlich rief: „Ich kenne ihn! Der taugt nicht viel.“

Das rief der hinabfallende Maik, der nun den Kopf abnahm. Er schleuderte diesen durch die Nacht davon. Sinkend und trudelnd rief der Kopf: „Ich kenne ihn! Der ist nichts wert.“ – „Nichts wert!“ klang es leiser werdend. „Nichts wee…“ – „Gleich“, rief Pjotr zurück, „ist es vorbei.“

Als er schwitzend erwachte, schien die vormittägliche Spätherbstsonne niedrig durchs Fenster. Am Bett stand ein unbekannter UvD mit roter Armbinde. Sachlich sagte man zu ihm: „Hör zu, Junge! Du kannst nicht bloß im Bett liegen. Wenn du nicht aufstehst, ruf ich im Med-Punkt an. Du hast heute Wache.“

„Ich steht ja… gerade auf“, flüsterte Arndt und meinte zu brüllen. Dann sprang er hoch. In Wirklichkeit kroch er vom Bette.

In der Waffenkammer beäugte der Feldwebel ihn misstrauisch. „Alles fit?“

Thomas Arndt nahm seine Maschinenpistole mit der Nummer 2587 aus dem Ständer.

Dies war ein neuer Spieß. Der Bar war lange vergessen. Überhaupt schien von den führenden Personen nicht viel verblieben zu sein. Wie soll man eigentlich mit jemand in schwierigen Zeiten vertrauensvoll kooperieren, den man gar nicht kennt? Man war es gewohnt. Man hatte einfach Vertrauen zu jedem. „Und bei dir?“ brummte er. „Natürlich alles fit.“ Er dachte: Man meldet sich nicht krank. Punkt. Man verlässt seinen Posten nicht. Schon gar nicht als der „letzte Posten“. Nur: Dieser da hatte nicht den Dienst im Kopf. Er mochte einfach keinen Kranken auf Wache sehen. Man machte sich mehr Sorgen um die Menschen als um deren Sache. Nur kein Kranker! Nur kein… Blut. Niemandem werde bitte auch nur ein einzelnes Härchen gekrümmt! Niemand sei verschnupft! Niemand sprach von Klassenkampf, scheinbar niemand dachte an Klassenkampf, wenn auch der härtesten einer sich soeben vollzog: Und zwar abstrakt. Da ist der zweite Schlüssel.

Und zwar deshalb…

„Das ist eine Frage der Ehre“, erklärte er dem Waffenhans. „Da denkt nur niemand dran. Und zwar deshalb!“

Im dunkel-ehrwürdigen Saal wurde Sylvia vom Scheidungsgericht befragt. „Sehen Sie das Scheitern Ihrer Ehe als unabwendbar oder ist es einer besonderen Situation zuzuschreiben?“

„Beides“, antwortete Sylvia kühl. „Wir gehören nicht zusammen. Weil die Ausgangsbedingungen zu verschieden waren. Da ist es nur eine Notlösung, wenn man unbedingt zusammen leben will. Konkret zeigt sich das erst jetzt.“

„Ich möchte gern“, erörterte die Richterin, „eine Klärung im Sinn weitgehender Übereinstimmung der Beteiligten.“ Sie sah bedachtsam auf Sylvia, welche zur Antwort gab: „Wenn aber die Übereinstimmung bei uns im Wesentlichen fehlt?“

Die Schöffin, eine ältere Dame, stellte eine merkwürdige Frage:

„Wir wollen Sie nicht verstören. Ich weiß aber nicht, ob wir ohne diese Frage eine Klärung schaffen. Kann es vielleicht sein, dass dieser… schwere Einschnitt Sie veranlasst überzureagieren?“

Verneinend bewegte Sylvia den Kopf. „Das heißt“, forschte die Schöffin weiter; „Sie könnten sich nicht vorstellen, wieder zusammenzufinden, wenn dieser schwere Einschnitt, wenn das gemeinsame Kind…“

Der Vorsitzenden brach der Schweiß aus. Muss man alles bis ins Detail durchkauen? Doch Sylvia blieb kühl. „Nein. Sie drehen das um. Die Voraussetzungen fehlen. Wir haben das nur vorübergehend überspielt. Jetzt fällt der Grund dafür weg. Wie sollen wir deswegen zusammenfinden, uns wieder vereinigen? Diese Wiedervereinigung wäre keine Wiedervereinigung, weil wir noch nie zusammengehört haben oder wirklich zusammen waren.“

Nun jedenfalls bestand erst recht kein Grund, sich wieder zu vereinigen. Jasmin war tot; tot letztlich aufgrund dieser Grenzöffnung, aber was kam es darauf noch an. Es konnte keine sinnvolle Wiedervereinigung geben.–

„Ich vergleiche den Opportunismus“ – so dozierte an diesem Ersten Dezember der Dr. Kusseler vor seinen Hörern in der Humboldt-Universität, „mit der Massenanziehung, der Gravitation. Wir haben es mit Personen zu tun, die aufgrund einer spezifischen Stärke oft ein gewisses Selbstvertrauen besitzen und sich durch ihre Erfahrungen gemahnt sehen, bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten. Sie wollen dann möglichst allen Seiten zusagen, auch gegensätzlichen. Weil das nicht funktioniert, fühlen sie sich von der Seite besonders angezogen, die mehr Aussicht, also Anziehungskraft besitzt. Da spreche ich schon von Besitz. Und wenn…“, sagte er und sah sich durch Aufmerksamkeit der Studenten im Hörsaal bestätigt, „die wissenschaftliche Argumentation, der Marxismus-Leninismus, zu lustlos und schläfrig, zu bequem einher kommt und keine Anziehungskraft mehr entwickelt, tendieren sie desto stärker zur anderen Seite, zur Argumentation des Klassengegners, der Bourgeoisie –“

Hätte man doch mehr Dozenten wie Kusseler!

„…welche sich darauf einstellt und ihre Argumente sanft und einfühlsam vorträgt, gewissermaßen entschärft“ – Man schrieb mit. Man lauschte mit geschlossenen Augen. Kusseler genoß einigen Ruf. „…um den Seitenwechsel zu erleichtern, um den Übergang zu mildern und den Klassenverrat zu verniedlichen.“ Kusseler ging auf und ab und sprach weiter. „Wenn man den Opportunismus schärfer erkennen will, darf man sich auf die Erscheinungsebene begeben. Denn die verschiedenen Ausprägungen machen einen gemeinsamen Kern deutlich; die Dinge nie wirksam zu ändern. Im Wesen der Sache ist Opportunismus immer rechts. Er erscheint jedoch als linker Opportunismus in Form des Sektierertums, des Radikalismus oder als rechter Opportunismus in Form des Revisionismus, des Reformismus und Parlamentarismus.“

In Bonn saßen zwei Herren in einer großen BMW-Limousine mit abgedunkelten Scheiben am gepflasterten Straßenrand. „Wie sieht es aus?“ fragte der eine.

Der seltsame Mann gab kund: „Wir haben alles vorbereitet, Herr Kinkel.“

„Reden wir uns jetzt mit Namen an, Herr X Y?“

„Entschuldigung. Was uns betrifft, wir sind zufrieden. Aber etwas habe ich dazugelernt. Man muss weiter ausholen, wenn man die DDR-Menschen von diesem Staat und von allem wegbringen will.“

Kinkel nickte. „Es gibt einen Vier-Stufen Plan. Zunächst wird die politische und vollziehende Gewalt in Frage gestellt und diskreditiert. Man wird diese mit allen möglichen Vorwürfen überhäufen. Dann wird sie peu a peu aufgelöst. Nach den Politikern wird auch die Justiz personell ausgetauscht, das ist ja klar. Politik und gehobene Verwaltung wird von zweitrangiger West-Auswahl übernommen. Die werden nach Osten umziehen und erhalten das extra vergütet. Die Richter ähnlich – so lange bis neue in unserem Sinn nachgewachsen sind. Dann die Geistes-Elite: Alle Rektoren, Professoren, Lehrstuhlinhaber und so weiter werden ausgewechselt. Wer sich wehrt, wird als Stasi-IM gebrandmarkt. Dann kommt die Medienfrage: Alle Zeitungen und Sender müssen sich marktwirtschaftlich aufstellen, werden von den großen Konzernen übernommen und erhalten von dort ihre neuen Chefredakteure. In den Schulen werden die Lehrer auf ihre Einstellungen und Gesinnung abgeklopft. Da kommt keiner raus. Und dann…“

Kinkel lehnt sich entspannt zurück. „beginnt das eigentlich Spannende. Dann wird die DDR nämlich rigoros moralisch umgedeutet und abserviert. Es wird eine Prozesswelle gegen ehemalige Funktionsträger losgetreten, wo die Leute mit soviel Vorwürfen und Dreck beworfen werden, dass immer etwas hängenbleibt. Die Medien werden vollgestopft mit Geschichten über Privilegien und Korruption, bis keiner mehr hinterher kommt, das zu überprüfen und zu widerlegen. Wird natürlich auch nicht mehr gebracht. Damit wird der Staat und das gesamte Gesellschaftssystem delegitimiert. Alle Narrative werden dann umgeschaltet. Umschaltung heißt das Zauberwort der Stunde. Von Demokratie wird keiner mehr bei der DDR sprechen wollen, wenn hinter jedem Wort ‚Unrechtsstaat’ irgendeine Unrechtsgeschichte steht oder das Wort Mitläufer oder das Wort Apparat.“

„Ich kann“, wandt der seltsame Mann ein, „mir das kaum vorstellen.“ Kinkel grinste. „Muss man sich alles vorstellen? Wir haben ein ganzes System zur Meinungsbildung entwickelt. Mit kritischen Einwänden. Eigentlich haben die Amerikaner es entwickelt. Geht wohl bis auf Goebbels zurück. Von verschiedener Seite wird immer dasselbe gesagt. Schon mit Begriffen kann man alles machen. Wenn es Unzufriedenheit gibt, kann man ein ‚linkes Establishment’ generieren. Man kann später von einer ‚Ost-West-Konfrontation’ sprechen. Das klingt allgemein und sachlich. Aber die Konfrontation ging dann vom Osten aus. Man kann vom ‚Ostblock’ sprechen und wird nie etwas von einem Westblock sagen. Block klingt einfach nach Blockwart oder -aufseher. Oder ‚Unrechtsstaat, Stacheldraht’. Dazu kommen die Fabeln. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es gibt das Narrativ, die DDR sei von Grund auf antifaschistisch. Ich komme eben von einer Besprechung. Wir haben da einen eifrigen Schreiber, der ein ‚Braunbuch’ über die DDR geschrieben hat. Da hat er hunderte Fälle, wo frühere NSDAP-Mitglieder Karriere in der SED machten.“

„Das ist doch kein Geheimnis. Es waren doch keine höheren Chargen aus dem Dritten Reich, sondern einfache Parteimitglieder. Seinerzeit war ja fast jeder in der NSDAP.“

„Hunderte!“ wiederholte Kinkel. „Und jetzt können Sie sagen, im Westen sind es hunderttausende, und diese haben als Spitzen des Dritten Reiches den ganzen Staat aufgebaut. Aber genau das wird doch keiner mehr erfragen, wenn es in keinem Medium auftaucht. Und das wird auch nicht auftauchen! Es hängt eben viel an den Stichwörtern. Wir werden nur noch EIN Wort zulassen für den Sicherheitsdienst da drüben. Darauf wird man alles Linke runterbrechen: Stasi! Ganz einfach! Das klingt schon so wie Nazi.“

Kinkel grinste. „Sowas fällt einem nicht so einfach ein. Da braucht man Konzeption! Genauso wie jede Demokratisierungstendenz mit dem Stempel ‚links’ zu brandmarken, linkes Ding… und so weiter. Das heißt alles nur noch so. Weg ist der Müll. Bei uns ist die Demokratie – und nur bei uns! Dafür braucht man Denkfabriken und eine Konzeption.“

„Wir werden aber auch hier… Wir werden immer konkrete Geschichten brauchen.“

„Haben wir! Hinter jedem Vorwurf steht ein konkreter Name, ob echt oder nicht. Und sobald die MfS-Akten bei uns gelandet sind, haben wir die schönste Giftküche. Bei über neunzig Prozent der Leute ist wahrscheinlich nichts erfasst, außer Belanglosigkeiten. Wie bei uns auch. Aber das WAS politisch erfasst wurde, ist oft negativ hinsichtlich DDR. Und jetzt können wir sagen; das bildet die Stimmungslage der Bevölkerung ab! Dies ist eine Variante. Dann kann man immer jemanden vorzeigen und sagen: IM! Das allein wiegt dann schon schwer. Wir werden später gar nicht mehr so ins Detail gehen müssen. Günstig ist es genau dann, dem SED-Staat die Horror-Szenen anzudichten. Man kann sich doch alles ausdenken! Leute, die für ein bisschen Westwährung ihre Erinnerungen frei anpassen, werden sich genug finden. Die Beleg-Unterlagen lassen sich dann herstellen.“

Die Frage des seltsamen Mannes war: Wie? Aber er sprach sie nicht aus.

Kinkel antwortete dennoch freimütig: „Im Büro des Politbüromitglieds Axen saß irgendein unwichtiger Referent namens Puscher. Dieser Mann wollte mal in den Sechzigern Karriere machen und ist trotz allen Kratzens nicht weiter gelangt als ins Zentralkomitee der SED. Irgendwie ist sein Vater auch mal gemaßregelt worden, konnte seine Karriere nicht weiter fortsetzen. Der frisst uns aus der Hand. Er ist auch schon seit Jahren mit Kontaktleuten aus Gorbatschows Lager umringt. Ein Spitzel nicht nur von uns – sondern auch von Gorbatschow. Der ist so hasserfüllt… Der würde behaupten, Honecker habe Konzentrationslager in Planung gehabt für politisch Verdächtige. Aber…“

Kinkel schloss kurz die Augen. „Da muss man reflektieren. Er ist noch zu wenig schlüssig, kann nicht zusammenhängend schreiben. Wir werden also ein Interview mit ihm forcieren. Da kann er seinen Frust abladen. Da wird er erklären, die Stasi habe sein Kind töten wollen. Das Kind lebt zwar noch. Aber der schildert irgendwie, warum der Stasi-Anschlag missglückt ist. Der wird die These bearbeiten, nicht die Partei habe in Wirklichkeit die Macht gehabt, sondern die Stasi. Solche Leute brauchen wir. Und die kriegen wir. Denn bei uns ist das Geld!“

Kinkel lächelte süffisant. „Die Stasi hat mal eine Abhörleitung installieren wollen, quer durch sein Büro, und nur der Einspruch des SED-Sicherheitsmenschen Herger hätte es verhindert.“

Moment mal! fiel Kinkel auf. Hier stimmt etwas nicht! Dieser Herger ist ja Parteifunktionär. Dort durfte ja die Stasi gar keine Leute haben… Muss ich prüfen lassen. Muss geändert werden. Hoffentlich vergesse ich’s nicht!

„Diese Leute“, sinnierte Kinkel, spöttisch mit den Mundwinkeln zuckend, „findet man doch überall, diese Puschers und Gysis, an jeder Straßenecke… Drüben und bei uns auch. Die verstehen Ehre zu Recht als literarisches Füllwort und glauben gleichzeitig, Doppel- und Dreifachagenten seien ungewöhnlich.“ Er lachte spitz auf. „Ja, ohne die könnten wir einpacken. Mit denen lässt sich immer sagen; die Stasi hat alles gewusst, hatte Agenten bis in die Wehrsportgruppe Hoffmann. Also terroristisch-kommunistische Weltverschwörung und so weiter…“

„Was wird mit mir?“ fragte Herr X Y.

„Wenn die Regierung Kohl wieder klargeht, bin ich Justizminister, nehme ich an.“

„Und… Herr Minister?“

„Dann“, sagte Kinkel gönnerhaft, „fallen Sie hundertprozentig nicht nach unten. Das ist doch selbstverständlich, Herr X Y.“

Dieser fragte nach: „Niemand kennt so einen Puscher, weder in Ost noch West. Und dann; diese Enthüllungsstorys von angeblichen Insidern wird niemand abkaufen. Man weiß doch im allgemeinen, wie es tatsächlich war.“

Kinkel winkte ab. „Ja, der Mann spinnt zu offensichtlich, der ist völlig überdreht. Gutes Beispiel. Dieser Mann, den niemand in West oder Ost kennt, erzählt Ihnen alles über Ost und West, was man sich nur erträumen kann. Dass er an sogenannten Abrüstungsgesprächen mit der SPD im Westen beteiligt war, obwohl die SPD gar nicht in der Regierung saß. Ich habe den Interview-Entwurf gelesen. Da im Osten hätte auch die Mafia im Politbüro gesessen. Der erzählt ganz locker den größten Unsinn. Die Stasi-Leute hätten ihm freimütig mitgeteilt, zu welchen Zimmern sie Nachschlüssel haben. Man muss immer aufpassen. Aber irren Sie sich nicht… Je absurder eine Behauptung, und je öfter wiederholt, desto eher wird sie geglaubt. Der macht sich auch nichts daraus, einen Buchenwald-Häftling zu denunzieren, macht hinter jedem Satz drei Ausrufezeichen.“

„Was hilft es dann?“ fragte X Y zweifelnd.

„Es ist nur wieder eine Variante unter vielen, die öffentliche Meinung zu bekommen. Die Wirkung zählt. Man muss es nur glätten. Wir schaffen ein ganzes Geflecht von Behauptungen, die aufeinander bezogen sind und sich ergänzen. Da erkennt keiner die DDR wieder. Bei uns ist dann nämlich auch die Zeit. Die arbeitet für uns.“ Er sinnierte weiter. „Sie erinnern sich wohl daran, wie wir die Wörter Perestroika und Glasnost popularisiert haben – durch fortgesetzte Wiederholung in den Nachrichten. Es gibt auch eine ganze Clique junger Filmemacher, die lauern nur darauf, sich auf die Schreckensgeschichte DDR zu stürzen und wissen kaum, wie sich das schreibt.“ Wieder lachte Kinkel auf. „Die werden natürlich gezielt gefördert. Ja, dieser Andreas Tresen… Leander Blaumann… In diesen Filmen erkennt man ein paar Automarken wieder und sonst gar nichts.“ Kinkel griente. „Marc von Donnerbalken. Völlig überdreht. Aber insgesamt wertvoll für uns. Wir müssen es zügeln. Dosieren. Aber auch das gehört zum Geschäft. Mit diesem Manipulations-Handwerkskasten kann man inzwischen die Weltmeinung prägen. Man kann bei jedem verdächtigen Wort wie fortschrittlich oder auch progressiv in Klammern dahinter setzen: Stasi-Attribut. Und von der DDR wird generell nur im Zusammenhang mit dem Wörtlein ‚ehemalige’ geredet werden. Damit ist klar: Es ist vorbei.“

Er stützte das Kinn auf die Hand. „Sozialismus ist vorbei.“

Dann rutschte die Hand weg. Der Wagen ruckte an, fuhr ein paar Meter und stand. „Verdammte…“, knurrte Kinkel. Er fragte in raschem Tempo: „Was macht eigentlich Ihr Sonderbudget?“

Der seltsame Mann wiegte den Kopf. „Momentan ist alles klar.“

„Unterschreiben Sie“, forderte Kinkel, „ab sofort mit Xaver Hygi. So jetzt Schluss. Ich muss weg.“

„Und trotzdem“, bemerkte Herr Hygi, „habe ich noch einen Hinweis zu diesen Sachen.“

„Bitte! Aber seien Sie nicht so ängstlich. Wir werden die Chefredakteure noch speziell briefen. Wie Goebbels schon; das haben die drüben vergessen. Die haben geglaubt, alles geht wie von selbst. Aber…“ Er lachte. „Das tut es eben nicht. Da sind wir auch noch da!“

„Platzieren Sie“, riet der seltsame Herr Hygi, „diese irren, die irrsten Geschichten nicht so weit vorn! Nicht so auffällig! Dann fällt man zu sehr drüber. So etwas darf erst in der Mitte kommen. Das sollte man bei all diesen zukünftigen Erzählungen beachten. Man darf die Leute im Osten nicht überfallen, man muss auch mal Nachsicht walten lassen. Man muss sie mitnehmen. Vielleicht ein spezielles Ostblatt etablieren. ‚Ost-Super-Illustrierte’ oder so ähnlich. Mit ein paar Ost-Stars. Und dann mit harten Überraschungen rauskommen! Man sollte ruhig auch mal, ehe wieder die Systemfrage gestellt wird, ein kleines revolutionäres Zeitungsblättchen zulassen. Da können die Betonköpfe jahrelang Stimmung machen. Man kann das lesen oder abonnieren, ohne dass sich etwas ändert, und ohne dass die Leute auf die Idee kommen, sich wirklich zu organisieren, um etwas zu ändern. Und im Falle echter gegenläufiger Meinungsbildung habe ich dann das Vergnügen, das von der Spitze her…“

„Zur Seite zu bringen, ja.“ Kinkel lachte.

Es war dunkel – wie ja stets seit einiger Zeit. Beim Wachposten am Muni-Punkt widersprach der Arndt einem jungen Gefreiten. „Natürlich“, sagte er nachdenklich, „wollten oder brauchten wir im Kern der Sache keine Mauer. Natürlich behindert sie uns, sogar extrem. Wie sollten wir den Rest der Menschen überzeugen? Wie sollen sie unser gemeinsames Leben erkennen, um teilnehmen zu wollen?“

Er stand hinter der Mauer am Turm. „Die Mauer und die ganze Grenzbefestigung waren nur ein Notbehelf“, sprach der Thomas Arndt zum Turm hinauf. „Solange sie uns auskaufen wollen, Volkseigentum verschieben, uns ausspionieren und bespitzeln, unsere Währung verramschen. Milliarden hat der Westen uns gestohlen, ehe wir die Grenze schlossen. Wir wurden boykottiert und sabotiert. Weil die uns immer ersticken, ehe wir uns richtig entwickeln können. Sie wollen uns doch nicht groß werden lassen. Das gilt oder galt, bis es unserem Gemeinschaftsmodell weltweit an Stärke nicht mehr fehlt. Diese befestigte Grenze bot uns Schutzraum. Wir haben nur nichts mehr draus gemacht. Nun haben sie da oben beschlossen, es ganz zu beenden. Und damit wird die Mauer ebenfalls hinfällig. So rum wird ein Schuh daraus. Die Mauer kann verschwinden, weil die Zukunftsaussichten für die Menschheit sowieso aufgegeben werden.“

Nach einer Zeitlang Schweigen fragte der junge Gefreite: „Kennst du Bakerman?“ Arndt antwortete: „Nein. Bakerman kenn ich nicht.“

„Das ist ein Lied… Hört man jetzt überall im Radio. Irgendwie gefällt mir das.“ Der Junge summte vom Turme herab: „Mmhmmh- Bakerman… is baking bread.“

„Sehr ruhig“, sagte Arndt.

„Ja, das ist ruhig. „Na-la-mmh – is baking bread.“

„Ein Zeuge“, sagte Arndt. „Dies Lied ist ein Zeitzeuge. Nichts was sonst noch besteht. Da ist nichts mehr, kein Nachdenken, keine Wissenschaft, keine Kunst… Nur noch Bakerman, der bäckt.

Tja, Jörg…“

– „Die Zeit bäckt ihr Brot!“

„Jeder backt sein Brot.“

Es war sehr still im Wald. Nichts regte sich. Nur sehr weit fern war ein vorbeifahrendes Auto zu hören. „Was wird man später über uns sagen?“ klang es vom Turme herab. Arndt schwieg.

Nach längerer Stille fragte es erneut herab: „Wie werden die Leute uns später sehen?“

„Die Leute gibt es nicht.“

„Man wird uns beschimpfen. Aber warum?“ Der Gefreite Jörg schwieg vom Turme herab. Dann sagte er. „Es wird aber auch Leute geben, die etwas anderes sagen.“ – „Es gibt immer Leute, die etwas anderes sagen.“

„Lausig kalt“, ließ es sich vom Turme vernehmen. „Warum wird jetzt wieder ein Doppelposten eingesetzt?“

„Weil die HSA abgeschaltet ist.“

„Und warum DAS?“

„Passt nicht mehr in die Zeit“, antwortete Arndt. „Nur kein Ernst, nur kein Nachdenken, keine Konsequenz. Die Waffen, die Munition werden nicht mehr im Sinne des Volkes eingesetzt; also können sie uns ganz gestohlen bleiben. Sie sind zwar noch da. Aber wenn ein Terrorist unbedingt zugreifen will – soll er doch! Soll er die Freiheit jetzt haben… Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

„Vielleicht…“, sann es laut herab, „wird man später sagen: Die waren blöd! Oder man sagt: Die waren zu leichtsinnig.“

„Beides“, bestätigte Arndt. „Beides. Aber wenn man das Wesen einer Sache begriffen hat, ist es völlig egal, was einem dann einer sagt. Auch wenn einen manche Einzelheit irre machen kann. Es ist doch immer so, dass der Regen von oben nach unten fließt, auch wenn es manchmal nach oben spritzt. Wir hier sind ja auch gar nicht so leichtsinnig. Wir stehen noch doppelt da, um die Waffen des Volkes zu schützen. Aber die da oben haben alle Verantwortung weggeschmissen.“

„Es wird sogar“, raunte es von oben, „Leute geben, die sagen; wir waren kriminell. Diese Bürgerrechtler. Man hört nur noch diese Leute. Wer soll denen später widersprechen?“

„Zeitzeugen“, sagte Arndt. „Auch Zeitzeugen gibt es, die etwas Wirkliches wissen. Da sind also die Zeugen der Zeitgeschichte und andererseits diese Bürgerrechtler. Wer kann recht behalten? Es ist sehr einfach zu prüfen: Die DDR und ihre gesamte Verfasstheit waren im Sinne aller einfachen Menschen eingerichtet, wie jedes ihrer Gesetze belegt. Bei uns heißt es in der Verfassung: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Bei uns steht in der Verfassung zum Beispiel das Recht auf Wohnen. Das ist real. Wer dagegen auftritt, der agiert also im unmenschlichen Sinne. Er sagt damit: Nur Kapitalismus ist menschlich. Glaube das wer will.“

Er sah scharf hinauf. „Hast du immer noch die Waffe über der Schulter? Stell doch ab!“

Von oben war ein dumpfes Poltern zu hören.

„Nachher“, erklärte Arndt, „wechseln wir. Du kommst runter. Ich geh hoch.“ Mit froststarren Fingern zog er eine Zigarette aus der Pappschachtel Juwel. „Rauchst du?“

„Nein. Als ich sieben Jahre alt war“, erzählte der Jörg vom Turm, „habe ich mal mein Kinderzimmer überprüft. Ich hatte so viel Spielzeug… Baukästen, Vero-construc, Modelleisenbahn, Elektro-Baukasten, Optik-Baukasten. Da konnte man alles mögliche machen; ein Mikroskop oder ein Fernglas. Und einen Chemie-Baukasten. Und Autos. Einen großen Plastik-Kipper, Unmassen Bücher und Teddys und Plüschtiere jederart.“

Arndt betrachtete das Stahltor. Plötzlich schaute ein weißes Gesicht darüber – zu ihm hin. Es zeigte sich scharf und prägnant und rund wie ein Vollmond, und hatte spärliche Haare. „Warte mal!“

Auf den Wangen war ein Prickeln zu spüren, der Herzschlag beschleunigte sich. Arndt überlegte. Er riegelte das knarrende eiserne Tor auf und sah um die Ecke zu den großen und dunkel schweigenden Stämmen.

Woher kenne ich das? Niemals zuvor habe ich dort ein weißes Gesicht gesehen? – Dann schloss er das Tor, stellte sich wieder unter den Turm und bat: „Erzähl weiter!“

„Natürlich auch Spiele; Tischfußball, Tisch-Eishockey, Federball- und Tischtennisschläger, Fußbälle“, erzählte der Jörg vom Turme. „Jedenfalls war kaum noch Platz in den Schränken. Dann kommt der Augenblick, wo man denkt: Jetzt bist du eigentlich schon groß.“ Ein Lachen erklang leise vom Turm. „Ich habe sogar gedacht: Du kennst die Welt! Du weißt jetzt Bescheid.“

„Wirklich?“ fragte Arndt erstaunt.

„Vielleicht war ich auch schon acht. Dann ging ich schlafen.

Aber es arbeitete in mir. Man will doch langsam mal erwachsen werden! Da habe ich den Entschluss gefasst, einen schweren Entschluss. Und habe dann mein ganzes Spielzeug weggeschenkt. Da ging ich durchs Wohngebiet mit einer Handvoll Plüschtiere und einem Beutel voll Autos und bin einfach auf jedes Kind zugegangen. Je nachdem wie es guckte, habe ich dem ein kleines Lastauto oder ein Plüschtier hingehalten. Ich seh mich noch, wie ich meinen Lieblingshasen übergebe. Der hatte silbergraues Fell und eine grüne Samtschleife am Hals. Der Junge war sogar ein bißchen größer als ich. Er war rotblond, wirkte ein bisschen struppig. Aber es schien zu passen.“

Längeres Schweigen.

„Ich hatte das Gefühl, ich mach’s richtig.“ –

„Warst du nicht traurig? Tat’s nicht weh?“

„Das hat mich meine Schwester damals auch gefragt. Tut es dir nicht leid? Der Schmerz kam etwas später, die Traurigkeit. Komischerweise als ich mitbekam, als ich mich ganz sicher fühlte, dass es richtig war.“

Schweigen.

„Vielleicht“, sprach es von oben herab, „wollte ich diesen Schmerz.“

„Selbstmitleid!“ bestätigte Thomas. „Ich nehme an, du hast deine Einsicht dann erst völlig erfasst. Du hattest wegen der richtigen Tat für dich selber Sympathie.“

Thomas Arndt dachte nach.

„Man mag sich selbst.“

„Ist das falsch?“

„Nein, natürlich nicht. Aber es darf unser Handeln nicht bestimmen. An erster Stelle muss schon eine größere Einsicht stehen. Die muss den Ausschlag geben. Aber das hat ja auch einen Umkehrschluss.“

Die Wolkendecke riss auf. Einzelne Sterne blinkten. Es verging eine unglaublich lange Zeit. Dann fragte es von oben: „Ja, und welchen?“

„Einen sehr schroffen, sehr gegenwartsbezogen…“

Jörg sann diesen Worten hinterher. „Sehr schön!“ bestätigte er von oben. „Den hätte ich gern!“

„Wer sich selbst nicht liebt wie wir“, klärte Arndt auf, „weil wir nichts mehr aus diesem Staat zu machen wissen, spürt keinen Schmerz darum. Deshalb wird auch der Schmerz um die DDR sich erst später entfalten können. Und in anderen. Bei deiner Schwester war es anders. Die hat dich persönlich geliebt, und deshalb hat sie diesen Schmerz empfunden – aber nur um deinetwillen. Wir dagegen lieben ja auch diejenigen nicht, die für uns stellvertretend die DDR aufgeben. Also kann kein Schmerz aufkommen, auch nicht um unserselbstwillen.“

Plötzlich – und mit dieser Einsicht – sah Thomas den kleinen Jörg mit seinem geliebten silbergrauen Plüschhasen mit grüner Samtschleife am Hals und rosa Schnuppernase, den er langsam einem rotblonden struppigen Jungen entgegenstreckt. Und dies war richtig. Und da empfand er unversehens selbst den schneidenden Schmerz, bitter und tief.

„Dabei“, sagte er langsam, „passt die Metapher noch nicht einmal besonders gut.“

„Was für eine Metapher?“

„Mit deinem Spielzeug. Denn du hast ja aus richtiger Einsicht gehandelt. Wir hier dagegen geben unseren Staat weg – ohne Sinn. Er nützt ja keinem anderen mehr. Er verschwindet nur. Das ist einfach eine große Schande.“

„Und das heißt?“

„Das heißt wahrscheinlich, dass wir es zeitlebens nur verdrängen werden. Wie man eine Schande eben verdrängt. Und je größer die Schande, um so gründlicher wird sie eben verdrängt. Umso weniger Trauer wird aufkommen. Der Aufschrei hält sich in Grenzen. Warum? Wir waren alle Kinder der DDR, folgsame und unartige, frech-verwegene und still beobachtende. Die DDR war unser Vater- und Mutterland. Irgendwann sagt man dem Kind, dass dieser und jener nun fehlen und für alle Zeit fehlen werden. Der Verlust ist unfassbar, und darum erfasst das Kind diesen nicht.“ –

Ein Psychologe spräche an dieser Stelle vielleicht von dissoziativer Amnesie? Etwas das zu schrecklich ist, um es auszuhalten zu können, wird vergessen. Eine andere Stelle wird dafür eingenommen. Überrascht fragte Jörg: „Schätzt du das wirklich so ein?“

„Das nehme ich an“, präzisierte Arndt. „Oder noch besser gesagt, ich sehe es. Die Verdrängung läuft doch schon. Jeder sieht alles zusammenkrachen. Und jeder schwatzt von einer besseren DDR. Keiner sagt: Wir werden nichts behalten. Das ist wie bei… Bakerman. Wahrscheinlich ist es deshalb so ein Hit. Es hilft zu verdrängen. Es duddelt uns ein: Alles ruhig. – Alles nett… Bakerman is baking bread…”

Pro tribunal

Подняться наверх