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Der unheilvolle Konzertabend

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Noch gerade rechtzeitig erreichte er die Glocke, um seinen Patz ganz vorne auf der seitlichen Empore einzunehmen. Auf dem Programmzettel stand Silke Wohlgemuth, Sopran. Also würde sie singen, jedenfalls war im Foyer keine Notiz ausgehängt worden, dass sie krankheitsbedingt durch eine andere Sängerin ersetzt worden sei. Degenhardt war gespannt und beunruhigt.

Von oben konnte er sehen, dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war. Auch die Herren der Skatrunde konnte er ausmachen. Der Platz direkt am Gang, der gewöhnlich für Herrn Schwarzer reserviert war, war von einem jüngeren Mann so um die dreißig besetzt. Vielleicht sein Sohn, dachte er. Zu seiner Überraschung erblickte er Frau Reinhold auf dem Platz neben ihm. Sicher kein Zufall. Ob sie wohl mit Herrn Schwarzer des Öfteren ins Konzert gegangen war? Möglich, wer weiß. Jedenfalls war sie da, beide in Schwarz gekleidet.

Tatsächlich erschien die Sopranistin begleitet vom Bariton-Sänger mit dem Dirigenten, Rudolf Kempe auf dem Podium, vom begeisterten Applaus des Publikums empfangen. Erneut trug sie das schwarze Kleid vom Vorabend. Und - das fiel ihm besonders auf - sie trug weißgoldene Ohrringe mit Brillanten besetzt und eine doppelte Perlenkette, die ihren Ausschnitt dezent verdeckte. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Silke hatte ihn mit den Augen auf dem Rang gesucht, gefunden und ihm zugelächelt. Er nickte ihr aufmunternd zu.

Der Dirigent blickte auf das Orchester, vergewisserte sich, ob alle Musiker bereit waren, und er beginnen konnte. Auf sein Zeichen erhob sich der Chor. Sämtliche Mitglieder schwarz gekleidet. Gespannte Ruhe kehrte im Sal ein. Der Dirigent hob den Taktstock: „Selig sind, die da Leid tragen“, begann der Chor. An was dachte Silke in diesem Augenblick? Er hätte es gerne gewusst. Er selbst empfand es als vermessen, denn er verabscheute das viele Leid in der Welt, vor allem, wenn er die schrecklichen Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Wenn es denn wirklich einen Gott gibt, der in das Geschehen in der Welt eingreift, warum sorgte er nicht dafür, dass kein Leid in der Welt geschieht?

Es folgte der Bariton nach einem düsteren Vorspiel: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras. Es wird verdorren“. Ob das auch für Herrn Schwarzer gilt, dachte er, oder wird sein Geist irgendwo anwesend sein? Degenhardt fehlte der rechte Glaube. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste er zugeben, dass er überhaupt an nichts glaubte, was er nicht sehen und anfassen konnte oder was irgendwie von klugen Menschen wissenschaftlich bewiesen war. Aber auch hier hatte er durchaus Schwierigkeiten, denn Manches entzog sich tatsächlich einer wissenschaftlichen Erklärung.

Die folgende Sequenz: „Herr lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und ich davon muss und ich ein Ziel habe“ hatte für Degenhardt eine ganz reale Bedeutung, denn er kannte sein persönliches Ziel nicht und wusste doch nur allzu genau, dass er nicht ewig leben würde. Der Gedanke schmerzte ihn und er vermied ihn, wo und wie es auch immer möglich war. Nun war wieder jemand aus seinem Bekanntenkreis gestorben, und er wusste nicht wie und warum. Er würde versuchen, es herauszufinden und seine Arbeit so gut es ihm möglich war, erledigen, sich für die herrschende Ordnung einsetzen und das Verbrechen bekämpfen. Aber er wusste, dass auch er irgendwann davon musste, weil keinem Irdischen das ewige Leben beschieden war. Der Gedanke belastete ihn aber nicht sonderlich. Er lebte gern im Hier und im Jetzt und war im Grunde mit sich zufrieden, wenn er sich zuweilen auch etwas einsam fühlte. Aber das könnte sich vielleicht ja irgendwann ändern.

Dann kam das Versprechen auf das Jenseits: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth“. Unter diesen himmlischen Wohnungen konnte Degenhardt sich nicht viel vorstellen. Er lebte hier im Diesseits in einer ansprechenden Wohnung und wollte nur seine Ruhe und Frieden. Möglichst nicht nur für sich sondern auch für seine Mitmenschen. Aber dieser Traum würde wohl nie in Erfüllung gehen. Merkwürdig, dachte er, alle Menschen in der Welt sehnen sich seit Menschengedenken nach Frieden und führen doch immer wieder Kriege. Habgier und Herrschsucht waren doch stärker als alle frommen Wünsche.

Und dann kam das Unglück: Die Sopranistin erhob sich und sang mit wunderbarer Inbrunst und Hingabe: „ Ihr habt nun Traurigkeit, aber Ich will euch wiedersehen, und will euch trösten.“ Woran sie jetzt wohl dachte, hätte er gerne gewusst. Ob sie dabei an sich selbst dachte oder an jemand anderes? Er würde sie vielleicht eines Tages danach fragen, wenn sie sich besser kennengelernt hatten, was er sich durchaus wünschte. Aber dann geschah das Unfassbare: Sie begann zu weinen, Tränen flossen ich über das Gesicht, die Schminke lief ihr über die Backen, sie versuchte am Dirigenten-Pult Halt zu finden, brach zusammen und fiel der Länge nach auf den Boden.

Voller Entsetzen starrten die Menschen auf die bewegungslose Frau. Einige Musiker der vordersten Reihe waren aufgesprungen und bemühten sich um sie, versuchten sie wieder aufzurichten, aber es war vergeblich. Ein paar Sanitäter traten aus dem Hintergrund hervor und legten sie sanft auf eine Tragbahre und entfernten sich durch die Seitentür.

Der Dirigent brach das Konzert ab. Er sah keine Möglichkeit, das Konzert fortzusetzen. Er wandte sich an das Publikum und bat um Verständnis für den unerwarteten Abbruch.

Das Publikum war wie gelähmt und ging schweigend zum Ausgang. Der Kommissar ging auf das Podium und brachte etwas Ordnung in das Chaos, denn er war allseits bekannt, und man achtete seine Autorität. Er rief den Notarzt. Banges Warten. Als der Krankenwagen endlich vorgefahren war, begleitete er die Sängerin ins Krankenhaus. Dort angekommen, wurde sie sofort untersucht. Der Arzt diagnostizierte einen Schwächeanfall, vielleicht sogar einen leichten Schlaganfall. In jedem Fall müsse sie sofort mit Sauerstoff behandelt werden. Er deutete sogar die Notwendigkeit einer Operation an, die aber nicht vor den nächsten Tag durchgeführt werden könne. Bis dahin müsse sie auf der Intensivstation bleiben.

Degenhardt konnte hier nichts für sie tun. Sie hatte das Bewusstsein noch nicht wiederlangt. Er verließ das Krankenhaus und fuhr nach Hause. Auf dem Weg dorthin schaute er kurz im Hotel vorbei, um im Empfang Bescheid zu geben, dass Frau Wohlgemuth heute Nacht nicht ins Hotel kommen würde. Sie sollten nicht unnötig die Polizei alarmieren. Er würde sich persönlich um die Regulierung der Rechnung kümmern.

Bei der Gelegenheit sagte ihm die Telefonistin, dass Frau Wohlgemuth eine ganze Reihe von Telefongesprächen mit ein- und derselben Nummer geführt hätte. Sie zeigte ihm den Ausdruck. Er ließ sich eine Kopie geben, damit die Telefonrechnung bezahlt werden könne. In der kommenden Woche würde er die Gesprächsteilnehmer überprüfen lassen, um den Grund für die vielen Anrufe zu erfahren.

Am nächsten Tag fuhr er als erstes ins Krankenhaus. Aber er konnte sie weder sehen noch mit ihr sprechen, denn sie befand sich in der Vorbereitung auf die Operation. Er hinterließ seine Telefonnummer und fuhr ins Büro. Er suchte Zerstreuung in der Arbeit, denn in seiner Wohnung hätte er nicht gewusst, was er tun sollte. Aber auch in der Arbeit fand er keine innere Ruhe.

Es war Samstag, eigentlich sein freier Tag. Was sollte er mit dem regnerischen Tag anfangen? Vor dem späteren Abend würde er Silke nicht besuchen können. Also sichtete er noch einmal seine Aufzeichnungen über den Fall Schwarzer, ob er nicht unter dem Druck der Ereignisse irgendein Detail übersehen hatte. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, denn seine Gedanken weilten bei Silke, die jetzt wohl operiert würde oder schon operiert worden war.

Am liebsten wäre er wieder ins Krankenhaus gefahren, aber das machte zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn, das wusste er genau. Er würde sie nicht zu sehen bekommen. Außerdem hatten sie ja seine Telefonnummer von seinem Handy. Sie würden ihn anrufen, sobald sie sie ein erstes Ergebnis vorliegen hatten. Also musste er warten. Das war nicht gerade seine Stärke. Im Gegenteil, es machte ihn nervös und reizbar.

Daher rief er den Arzt von dem Radisson-Blue-Hotel an. Er sagte ihm, dass seine Patientin Frau Wohlgemuth bei ihrem gestrigen Konzert in der Glocke zusammengebrochen sei und im großen Krankenhaus liege und wahrscheinlich in diesem Augenblick operiert würde. Gerne möchte er mit ihm sprechen und seine Diagnose vom Vortag erfahren. Der Arzt gab ihm einen Termin am frühen Nachmittag.

Schon kurz nach zwei Uhr betrat er voller Ungeduld die Arztpraxis und wies sich am Empfang als Polizeikommissar aus, denn die junge Frau kannte ihn nicht. Schon nach kurzer Wartezeit wurde er ins Besprechungszimmer gebeten.

- Haben Sie schon etwas erfahren, wie ist die Operation verlaufen?, erkundigte sich der Arzt.

- Leider habe ich noch nichts gehört. Die Ärzte wollten mich anrufen, sobald sie eine genaue Diagnose stellen können. Ich weiß nicht, ob das lange Schweigen ein positives oder negatives Zeichen ist.

- Und, was kann ich für Sie tun?

- Ich hätte gerne Ihre Diagnose über den Gesundheitszustand von Frau Wohlgemuth erfahren. Dazu entbinde ich Sie ausdrücklich von Ihrer ärztlichen Schweigepflicht, denn es geht hier um das Leben einer mir sehr am Herzen liegenden Frau, die ich auch als Künstlerin sehr bewundere. Außerdem könnte hier ein Verbrechen vorliegen.

- Also, wenn Sie darauf bestehen: Ich habe ziemlich schlechte Nachricht für Sie. Was ich gestern noch nicht wusste und erst jetzt weiß, nachdem ich die Ergebnisse der Blutprobe erhalten habe, ist, dass sie drogenabhängig war. Wahrscheinlich hat sie regelmäßig Crystal Meth genommen, und zwar in größeren Mengen.

- Degenhardt reagierte entsetzt: Das ist doch nicht möglich! Wir hatten den Abend vorher gemeinsam verbracht, da schien sie vollkommen normal zu sein. Nichts, auch gar nichts, deutete auf eine Drogenabhängigkeit hin.

- Oft merkt man das den Menschen nicht an, wenn sie gerade high sind. Der euphorische Zustand kann durchaus ein paar Stunden anhalten, dann aber folgt der Katzenjammer unweigerlich.

- Wirklich schlimm sind die Entzugserscheinungen am nächsten Tag, wenn sie keinen Stoff mehr haben. Es kann zu Weinkrämpfen und sogar zum Zusammenbruch des Kreislaufs kommen.

- Das könnte bei ihr der Fall gewesen sein, denn offenbar hat sie verzweifelt versucht, an etwas von dem Teufelszeug heranzukommen, aber sie hatte kein Geld, um es regulär bei den üblichen Dealern zu kaufen. Jedenfalls hat sie tagsüber des Öfteren mit jemandem telefoniert, sagte mir die Telefonistin im Hotel. Ich weiß noch nicht, wer der Angerufene ist. Wir werden das so schnell wie möglich herausfinden.

- Und was nun?, fragte der Arzt.

- Zunächst möchte ich Sie bitten, mir die Ergebnisse der Blutanalyse auszuhändigen. Wenn Sie Bedenken haben, dann kann ich Sie dazu auch gerichtlich auffordern lassen. Wie Sie wollen.

- Ist schon gut. Ich beuge mich der Staatsgewalt. Der Arzt bat den Kommissar um eine Empfangsbestätigung und gab ihm das gewünschte Ergebnis.

- Danke. Ich werde es zu den Akten nehmen. Vielleicht führt es uns auf die Spur der Dealer.

- Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?

- Nein, vielen Dank, im Augenblick wüsste ich nichts. Jetzt bleibt uns nur noch auf Besserung zu hoffen und zu warten.

Damit verabschiedete er sich. Er wusste wirklich nicht, was er in dieser Sache sonst noch hätte tun können. So beschloss er, einen Gang über den Marktplatz zu machen. Um etwas anderes anzufangen, fehlte ihm die Konzentration. Weshalb hatte er gestern nicht ihren labilen Zustand erkannt? War er von ihrer Schönheit, Anmut und Lebhaftigkeit geblendet worden, oder wollte er die Realität nicht sehen? Er begann an sich selbst und seinem Urteilsvermögen zu zweifeln.

Die paar Schritte ging er zum Roland, der mit unbewegter Miene vor sich hinstarrte, und suchte Entspannung im Ratskeller. Sein Blick wanderte über die Fresken von Max Slevogt, die ziemlich drastisch waren: Fast unbekleidete Frauen in aufreizender Pose. Ja, so liebreich konnten Frauen sein. Begehrenswert. Doch danach stand ihm jetzt nicht der Sinn. Er bestellte eine Flasche Graacher Himmelreich, und dachte dabei an den vergangenen Abend mit ihr. Wie gern hätte er sie jetzt bei sich gehabt, allerdings ohne Drogen und mit natürlicher Fröhlichkeit. Wer weiß? Vielleicht ein Andermal. Wie es ihr wohl gehen mochte? Sorgenvoll starrte er auf sein Handy, aber nichts regte sich. Keine SMS, kein Anruf. Nichts.

Er starrte auf das düstere Bild in der Ecke: „Das Schwarze Loch“. Gehörnte Teufel mit Schwänzen und Bocksbeinen stritten sich mit Mistgabeln um die Seele eines Menschen. Wem gehörte sie? Was wäre, wenn es seine Seele wäre oder die von Herrn Schwarzer? Er verdrängte die bange Frage, auf die er keine Antwort erhalten würde. Ihm blieb nur Hoffen oder Bangen. Dazu blieb ihm noch viel Zeit. Lieber nicht daran denken.

Schwarzers Loch? Ja richtig. Da wartete noch ein anderer Fall auf die Lösung. Er müsste möglichst bald einen Termin mit Frau Schwarzer vereinbaren. Am besten wohl bei ihr in Worpswede. Und auch mit dem Sohn Werner Schwarzer müsste er sprechen, den er von Ferne im Konzertsaal gesehen hatte. Wie war es möglich, dass Frau Reinhold neben ihm gesessen hatte? Viele Fragen. Es gab noch viel zu tun. Er genehmigte sich noch ein Glas Wein. Es half ihm, sich dem Gedanken an das Himmelreich zu nähern. Der Gedanke gefiel ihm besser als der an die Hölle.

In diesem Augenblick läutete das Handy. Eine SMS forderte ihn auf, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Was konnte geschehen sein? War es eine gute oder eine schlechte Nachricht? Bald würde er es wissen.

Vorsichtshalber nahm er ein Taxi, das gleich in der Nähe am Liebfrauenkirchhof parkte. Er warf im Vorbeigehen noch eine Münze in das Brunnenbecken, denn es versprach Glück. Er konnte es gebrauchen.

Nicht lange brauchte der Fahrer und sie hielten vor dem Eingang zum Großen Krankenhaus an der Sankt-Jürgenstraße. Er erkundigte sich nach Frau Wohlgemuth und wurde zur Intensivstation geleitet. Ein schlechtes Zeichen? Vielleicht auch nicht. Schließlich war es ein schwerwiegender Fall, suchte er sich selbst zu beruhigen.

Nach wenigen Minuten stand er vor der fest verschlossenen Schiebetür: Nicht eintreten!, stand auf dem Leuchtschild zu lesen: Besucher melden sich bitte telefonisch an. Er läutete. Die Türe wurde geöffnet.

- Kommissar Degenhardt?

- Ja. Derselbe.

- Bitte folgen Sie mir.

- Kurz darauf betrat er den nur spärlich beleuchteten Raum. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Krankenbett und rührte sich nicht.

- Er sprach sie an: Silke, ich bin es, Martin.

- Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht: Schön, dass du gekommen bist. Ich habe auf dich gewartet.

- Wie geht es dir?

- Schlecht, ich bin müde und möchte nur noch schlafen. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.

- Das werden die Medikamente sein, versuchte er sie etwas zu beruhigen.

- Ich glaube, ich werde sterben.

- So etwas solltest du nicht denken. Du bist nur überanstrengt. Ruhe dich etwas aus, dann wird es schon gehen.

- Nein, das ist es nicht. Ich glaube, es geht mit mir zu Ende. Ich möchte dich um etwas bitten: Ich habe hier keine Angehörigen, meine Eltern leben an der Mosel und Kinder habe ich nicht. Sorge du bitte dafür, dass meine Sachen aus dem Hotel genommen werden. Verschenke sie an Bedürftige. Und der geliehene Schmuck muss zurückgebracht werden.

- Ich verspreche es, ich werde mich um alles kümmern.

- Jetzt will ich nur noch schlafen. Damit schloss sie die Augen. Degenhardt war beunruhigt und betätigte die Notklingel. Kurz darauf kam ein Arzt hereingestürmt. Was ist los?, fragte er.

- Sie sollten mal nach Ihrer Patientin schauen, ich weiß nicht, ob sie schläft oder stirbt.

- Der Arzt trat an ihr Bett, fühlte ihren Puls: Sie ist soeben gestorben, sagte er.

- Degenhardt rang nach Fassung. Frau Wohlgemuth hat mich eben gebeten, mich um die Rückgabe ihres Schmucks zu kümmern. Sie hatte ihn für ihren Konzertauftritt von einem Juwelier geliehen. Ich weiß, wer es ist.

- Die Stationsschwester wird Ihnen ihre persönlichen Sachen aushändigen. Werden Sie sich auch um die notwendigen amtlichen Bescheinigungen und ihr Begräbnis kümmern?

- Ja, das wird wohl an mir hängen bleiben. Ich werde meine Assistentin Frau Michaelis damit beauftragen, weil ich zu wenig Zeit habe.

- Herr Kommissar, ich danke Ihnen für alles, was sie für die Verblichene getan haben.

- Keine Ursache. Ich habe es gerne getan und wünschte, dass sie noch am Leben wäre.

- Wir alle haben hier getan, was wir konnten. Aber sie war zu schwach.

- Davon bin ich überzeugt. Manchmal kommt eben jede Hilfe zu spät. Er reichte dem Arzt die Hand und fuhr nach Hause. Da es Sonntag war, dauerte die Fahrt zur Weser nicht lange. Es setzte sich auf seinen bequemen Sessel am Fenster mit Blick auf die beiden Domtürme, holte die Flasche Cognac aus dem Schrank, goss sich einen kräftigen Schluck in das Kelchglas, schwenkte den Inhalt bedächtig im Kreis und nahm seine Katze auf den Schoss, streichelte sie, bis sie zu Schnurren begann. Eine friedliche Stille lag im Raum. Doch in seinem Innersten war er aufgewühlt. Es war die letzten Tage wirklich etwas zu viel gewesen: Erst der Tod von Herrn Schwarzer und nun der von Frau Wohlgemuth. Einige Tage möchte man gerne aus dem Kalender streichen. Diese gehörten dazu.

Er fühlte eine gähnende Leere in sich, als blickte er in den grenzenlosen Weltraum. Mit Mühe besann er sich auf das Hier und Jetzt. Gut, dass er seine Katze bei sich hatte. Lieber wär ihm aber die Frau gewesen, die nun nicht mehr da war. Vielleicht sollte er nach einer anderen Frau Ausschau halten. Aber er wusste, dass er im Umgang mit Frauen ziemlich kompliziert war, dass er es ihnen nie wirklich recht machen könnte. Früher oder später würden sie über die viele Zeit mäkeln, die er für seinen Beruf aufwandte. Sie würden ihm eine Szene machen. Das hatte er doch schon zur Genüge erlebt.

Viele Jahre hatte er sich erfolgreich gegen Gedanken an die Vergangenheit gewehrt. Aber jetzt unter dem unmittelbaren Eindruck des Todes der von ihm so sehr geschätzten Sängerin, standen die Erinnerungen wieder unauslöschlich vor seinen Augen.

Wie ähnlich war damals seine Situation gewesen: Er hatte mehrere Kriminalfälle parallel zu bearbeiten gehabt. Bei dem einen Fall war er in eine Schießerei verwickelt gewesen. Sie waren bei der Durchsuchung eines Hauses nach Waffen und Sprengstoff plötzlich mitten in der Stadt aus dem Hinterhalt angegriffen worden. Sie wurden von mehreren Seiten unter Beschuss genommen. Dicht neben ihm wurde sein bester Freund von einer Kugel tödlich getroffen und brach zusammen. Er selbst hatte noch versucht, ihn in Sicherheit zu bringen, was aber wegen der vielen Schüsse aus unterschiedlichen Richtungen nicht möglich war. Sein Kamerad rief vergeblich um Hilfe, die ihm aber nicht gewährt werden konnte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er am nächsten Tag nach einer Notoperation verstarb.

Er selbst litt damals unter schweren Herzrhythmusstörungen, was ihm aber selbst nicht so richtig bewusst war. Er hatte es als momentane Überlastung abgetan, doch schließlich musste er sich einer Operation am Herzen unterziehen.

Die Operation verlief nicht ganz ohne Komplikationen, denn er erwachte aus der Narkose nicht richtig. Die Ärzte waren sich über die Ursache nicht ganz einig, einige hielten es für eine Hirnhautentzündung, andere für einen Re-Infarkt. Jedenfalls wurde er erneut operiert. Als er zwei Tage später aus der Narkose erwachte, wurde ihm mitgeteilt, dass seine Frau und seine beiden Söhne bei ihm gewesen seien. Sie hätten ihn aber nicht sprechen können und seien abgereist.

Etwa eine Woche später fuhr er - noch immer ziemlich benommen - nach Hause, um festzustellen, dass seine Frau mit allen ihren persönlichen Sachen aus dem Hause ausgezogen war. Seitdem versuchte, er so gut es ging, allein zurechtzukommen, verkaufte das Haus und nahm sich eine Wohnung in der Innenstadt, damit er nicht so einsam und abgeschieden von allem Leben war.

Immer wieder hatte er versucht, seine Frau zur Rückkehr zu bewegen, sie aber hatte sich in einer anderen Stadt behaglich eingerichtet, neue Freundschaften gefunden und freute sich ihrer Unabhängigkeit.

Ein rabenschwarzer Tag

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