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DER TOD VON MUTTER MESSINGER
ОглавлениеWenn ein neues Jahr beginnt, ist es üblich, dass man sich Gesundheit und alles Gute wünscht. Davon machte auch die Familie Messinger Gebrauch. Die Wünsche aller haben Annas Mutter aber nicht geholfen. Sie konnte Anfang März, schon schwerkrank, noch ihren einundsechzigsten Geburtstag feiern, dann verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Anna munterte ihre Mutter mit einem kleinen Strauß Schneeglöckchen auf, was diese mit einem Lächeln quittierte. Sie schaffte es noch, an einem Sonntagmorgen die wärmende Frühlingssonne zu erleben, wobei sie mit sichtlich verändertem Gesichtsausdruck die Worte ihres Mannes entgegennahm: „Marta, ich gehe mit den Kindern in die Kirche.“ „Ja Gottlieb, es ist recht so, aber Anna bleibt bei mir“, sagte sie bestimmt. Während Vater Messinger mit seinen Jüngsten das Haus verließ, setzte sich Anna ans Bett ihrer Mutter. Diese ergriff Annas Hand und drückte sie spürbar fest, dabei rollten dicke Tränen über ihr Gesicht. Mit trüben Augen sah sie ihre Tochter an, mit leiser Stimme gingen die Worte über ihre Lippen: Gott hat mich gerufen, ich gehe heim. Nun konnte auch Anna sich nicht mehr ihrer Tränen erwehren und hörte zu, was die sterbende Mutter sich noch von der Seele sprach. Nach einigen Sekunden Pause begann sie das Vaterunser, in welches sich Anna mit einbrachte. Ihre Stimme reduzierte sich zum Flüsterton, auch der Händedruck ließ nach. Mit einem leisen Seufzer hauchte sie ihr Leben aus Annas Mutter war tot. Minuten später kehrten Vater Messinger mit seinen jüngsten Kindern vom Kirchgang zurück, wo dann ihre Heiterkeit in tief empfundene Trauer umschlug. Sie als Rest der Familie umringten das Lager der Toten und verabschiedeten sich mit einem Gebet von ihr. Unverzüglich unterrichtete der Witwer, Gottlieb Messinger, die Behörden und das Pfarramt.
Nachdem alle begriffen hatten, was geschehen war, ergriff Vater Messinger die Initiative. An Benjamin gewandt: „Spann die Pferde an, wir fahren zum Tischler einen Sarg holen.“ Mit dem Pferdewagen fuhren sie die Klöstitzer Dorfstraße hinauf ins Oberdorf. In der Werkstatt des Tischlers fanden sie den notwendigen Gegenstand. Schnell waren sich die Männer einig und kehrten nach Hause zurück. Dort bahrten Anna und ihr Vater die Frau des Hauses in einem Nebenraum auf. Dabei halfen traditionell Nachbarn und Freunde des jeweiligen Toten. Etwas später hielt Pfarrer Immanuel Baumann die Totenmesse. Dazu gehörte auch die Festlegung des Termins der Beerdigung. Benjamin, nun schon zwölf Jahre alt, erhielt von seinem Vater den Auftrag, alle seine Geschwister vom Tod ihrer Mutter zu benachrichtigen. Vater und Sohn sattelten ein Reitpferd, mit welchem Benjamin die Wohnorte seiner Geschwister problemlos erreichten wird. Versorgt mit Tagesproviant für sich und sein Pferd sowie mit Anweisungen seines Vaters verließ der Reiter den Hof. Vater Messinger schaute seinem Sohn nach, der Klöstitz in Richtung Borodino verließ. Er war sich sicher, dass Benjamin seinen Auftrag zu seiner Zufriedenheit erledigen wird. Im Haus selbst machte sich Traurigkeit und Niedergeschlagenheit breit, sind doch Anna und ihre Geschwister nun zu Halbwaisen geworden. Das und vieles andre stimmten den Witwer nachdenklich, der sich zu Anna an den Tisch setzte. Er ergriff ihre Hände, sah in ihr trauriges Gesicht und sagte dann: „Wir beide und deine zwei Geschwister sind jetzt allein in diesem Haus, die vor uns liegende Zeit wird uns alles abverlangen.“ Unsere erste gemeinsame Arbeit wird sein, deiner Mutter ein ehrenvolles Begräbnis mit allen Familienmitgliedern und Freunden auszurichten.
Nach diesen Feststellungen verließ der Familienvater das Haus und begab sich in den Stall zu seinen Tieren. Weil Benjamin noch nicht von seiner Tagesreise zurück war, versorgte er ohne seinen Sohn das Vieh. Es war inzwischen dunkel geworden. Als er seine Arbeit beendet hatte, machte er sich langsam Sorgen um Benjamin. Deswegen ging er zur Straße und hielt Ausschau nach dem Reiter, konnte aber wegen der Dunkelheit nichts sehen und auch nichts hören. In Gedanken versunken suchte er das Haus auf, wo Anna mit ihrer Schwester den Abendbrottisch deckte. Anna sah ihrem Vater an, dass er sich sorgte und schenkte ihm aus dem Krug einen Wein ein.
Ihr Gespräch über das Tagesgeschehen wurde durch ein Pferdewiehern unterbrochen. Freudig stürzten alle zur Tür und auf den Hof, wo sie den Heimkehrer freudig begrüßten. Gemeinsam nahm die Familie am Abendbrottisch Platz, wo Benjamin kräftig zulangte, war es doch ein anstrengender Tag für Benjamin. Gespannt nahm der Vater den Bericht seines Sohnes entgegen, wie seine Kinder die Nachricht vom Tod ihrer Mutter aufgenommen haben. Es gab herzzerreißende Szenen und die Tränen flossen in Strömen. „Meine beiden Brüder Otto und Julius kommen morgen schon, sie wollen das Grab ihrer Mutter ausheben“, so Benjamin. Vater Messinger erläuterte seinen Kindern, was sich in den nächsten Tagen ereignen wird. Jedem übertrug er eine bestimmte Arbeit. Wenn alle seine Kinder mit ihren Familien anreisen, wird es eng auf dem Hof. Mit vereinten Kräften trafen sie in Familie alle Vorbereitungen, auch für Übernachtungen wurde gesorgt. Weil die Sonne sich neigte, riet Vater Messinger, das Vieh zu versorgen, um dann den arbeitsreichen Tag ausklingen zu lassen. Für den Tagesabschluss jedoch, sorgte Annas Abendbrottisch.
Ein strahlender Frühlingsmorgen eröffnete den Tag der Beerdigung, der für die gesamte Familie Messinger eine Belastung bedeutete. Etwas Freude kam auf, als die Brüder Otto und Julius auf den Hof geritten kamen. Das Wiedersehen mit Vater und Geschwistern war rührend, aber auch mehr bedrückend. Hatten sie sich doch längere Zeit nicht gesehen, weil die Wohnorte weit voneinander entfernt waren. Es gab in den dreißiger Jahren zwar in den Städten Personen-Verkehrsmittel, aber nicht über Land. Sich gegenseitig zu besuchen, war nur mit dem Pferdewagen, mit dem Pferd oder zu Fuß möglich. Nun drängte der Vater seine Kinder zum gemeinsamen Frühstück, was sie bereitwillig taten. Danach spannen Otto, Julius und Benjamin die Pferde an und beluden den Wagen mit diversen Schachtwerkzeugen. Damit verließen die drei Jungs zügig den Hof, ihr Ziel war der Klöstitzer Friedhof. Der Platz befand sich neben den Eltern ihrer verstorbenen Mutter, also ihren Großeltern. Nachdem die Grabgröße abgesteckt war, begannen die Brüder abwechselnd zu graben. Es war in Klöstitz üblich, dass die Familien für ihre Verstorbenen selbst die Gräber aushoben.
Auf dem Hof ist Vater Messinger mit seinen Helfern dabei, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Am Nachmittag 14 Uhr sollen alle Trauergäste gebührend empfangen werden. Für den Witwer war es von Wichtigkeit, den Pferdewagen herzurichten, mit welchem der Sarg seiner verstorbenen Frau zu Grabe gebracht werden soll. Zur Mittagszeit trafen die drei Brüder auf dem Hof ein und berichteten ihrem Vater stolz über die geleistete Arbeit auf dem Friedhof. Noch waren alle mit den Vorbereitungen beschäftigt, als die ersten Geschwister mit ihren Familien auf dem Hof eintrafen. Das Wiedersehen aller war einerseits ein freudiger Anlass, andererseits flossen bei allen die Tränen. Den Ansturm aller Geschwister hatte Anna erwartet und für sie einen großen Kessel Borschtsch gekocht. Dazu reichte sie das traditionelle bessarabische Weißbrot. Seit langem war der große Esstisch, wo vor Jahren die Großfamilie ihren Platz fand, voll besetzt. Es war nicht zu übersehen, dass es allen schmeckte. Der Vater und Großvater Messinger verspürte eine innere Zufriedenheit, wenn er so die Tischrunde beobachtete, wäre da nicht der traurige Anlass, der alle hat zusammen kommen lassen.
Weil die Zeit unaufhaltsam vorrückte, bahrten vier der ältesten Brüder den Sarg ihrer verstorbenen Mutter auf den mit Kränzen geschmückten Pferdewagen auf. Diesen postierten sie auf dem Hof vor dem Haus. Schon waren die ersten Trauergäste auf dem Hof eingetroffen, denen noch viele von Nah und Fern folgten.
Oberpastor Immanuel Baumann
Trauerzug zum Klöstitzer Friedhof
Der Hof füllte sich zusehends, bis dann Pastor Baumann von Otto und Julius mit der Kutsche zur Trauergemeinde gebracht wurde. Dieser nahm vor dem Wagen einen Platz ein und begann bei geöffnetem Sarg mit seiner Predigt. Pastor Baumann ließ das Leben der Toten Revue passieren. Er wies des Öfteren darauf hin, dass das Leben ihr immer alles abverlangt hatte. Mit dem gemeinsamen Vaterunser endete die Andacht und Benjamin spannte mit einem seiner Brüder die Pferde vor den Leichenwagen. Beide nahmen auf dem Kutschbock Platz und fuhren vom Hof. Zum Kutschieren ist Benjamin von seinem Vater bestimmt worden. Im folgte die Kutsche mit dem Pastor und dem Witwer, die Otto und Julius abwechselnd lenkten. Auf dem Weg zu dem zwei Kilometer entfernten Friedhof begleitete den Trauerzug ein Glockengeläut. Die strahlende Frühlingssonne stand hoch am Himmel, als der Trauerzug den Friedhof erreichte. Hier stellten vier Leichenträger den Sarg über dem Grab ab. Nach der üblichen Zeremonie verabschiedeten sich viele Trauergäste am Grab von der Toten. Ein Glockengeläut begleitete dann die Teilnehmer auf ihrem Heimweg.
Viele folgten der Einladung des Witwers zu einem Imbiss auf dem Hof. Nachbarn und Freunde sorgten nach der Beerdigung für ein reichliches Angebot, wovon eine große Anzahl Gebrauch machte. Die untergehende Sonne machte dem turbulenten Tag ein Ende und der Hof leerte sich so nach und nach. Es kehrte wieder Ruhe ein, so dass sich die Familie, die Großen und Kleinen, im Haus zusammensetzen konnten. Der Gesprächsstoff war das Ereignis des Tages, der Spuren hinterließ. Noch am späten Abend traten einige Familienmitglieder den Heimweg an. Die anderen suchten ihre Schlafgelegenheiten auf. Vater Messinger aber saß noch lange in seinem Lehnstuhl und versuchte seinen Kummer im Wein zu ertränken. Er schaffte es nicht, sein Bett zu erreichen und wachte verwundert am Morgen in seinem Lehnstuhl auf. Überrascht war er auch, dass seine Söhne bereits das Vieh versorgt hatten. Anna hatte mit ihren Schwestern in der Zeit den Frühstückstisch gedeckt, so dass ihr Vater sich frisch gemacht stärken konnte. Es blieb nicht aus, dass ihm seine Kinder Mut machten und ihm versprachen, dass er immer mit ihrer Hilfe rechnen könne. Als Vater genoss er es, alle seine Kinder nach langer Zeit vereint wieder zu sehen. Etwas ganz Besonderes war es für ihn, dass er seine schon schulpflichtigen und die noch kleinen Enkel näher kennen lernte. Ob er das noch einmal erleben wird? Eher nicht. So war es nicht verwunderlich, dass beim Abschiednehmen die Augen aller feucht wurden und die Tränen sich ihren Weg suchten. Einer nach dem anderen verließ mit dem Pferdewagen den Hof seines Vaters. Einige haben eine Tagesreise vor sich, waren aber mit Proviant versorgt. Den weitesten Weg hatten Otto und Julius, aber als Reiter bewältigten sie ihn schneller. Sie waren als Erste gekommen und die Letzten, welche sich vom Vater sowie dem Rest der Familie verabschiedeten. Auf seine beiden ältesten Söhne war er besonders stolz, weil sie es zu Reichtum gebracht hatten. Mit leichtem Trab verließen sie Klöstitz, wobei ihnen ihr Vater nachdenklich nachsah. Die Jungen bemerkten das und schwenkten für ihn zum Abschied ihre Pudelskapp (Pelzmütze).
Langsam ging Vater Messinger zum Haus zurück, wo er auf dem Bänkle (Bank) Platz nahm. Sein Hof war nicht nur leer geworden, sondern es herrschte auch eine erdrückende Stille. In Gedanken versunken stellte er fest, dass für ihn ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat. Obwohl die Verstorbene in letzter Zeit nicht mehr seine Frau hat sein können, vermisst er sie sehr. Und die klaffende Lücke in seiner Familie ist nicht zu übersehen. Auch ist eine neue Orientierung unumgänglich, um mit den noch im Haus verbliebenen Kindern den Bauernhof zu bearbeiten. Die Frühjahrsbestellung Anfang April stand an. Über die ganze Problematik sprach der Vater nach dem Abendessen mit Anna, ihrer Schwester und Benjamin. Über diesen Sachbestand hat die klein gewordene Familie lange und tiefgründig geredet. Schließlich wurde folgende Festlegung getroffen: Anna übernimmt den kompletten Haushalt, wobei sie von ihrer Schwester unterstützt wird. Den Stall, Hof und die Feldarbeit übernehmen der Vater und Sohn Benjamin. Auch machte es sich erforderlich, einen Knecht einzustellen, weil Benjamin nicht immer verfügbar ist. Dieser besucht zurzeit eine Landwirtschaftsschule, ist er doch seines Vaters Nachfolger. Sicherlich ist es so, dass diese Festlegung allen alles abverlangen wird, was jedem bewusst ist. Die vor ihnen liegende Zeit wird es zeigen, ob sie die sich auferlegte Last tragen können. Mit dem Blick wieder nach vorn gerichtet, ging die Familie Messinger daran, die auf dem Lande immer wiederkehrende Frühjahrsbestellung anzugehen. Die Frühlingssonne brachte wieder das pulsierende Leben der Klöstitzer Bauern voll in Gang. Neben der zur Verfügung stehenden Technik, die meist mit Muskelkraft angetrieben wird, ist das Pferd nicht wegzudenken. Diese selbst zu züchten, war das Steckenpferd der bessarabischen Bauern. Das Aufziehen von Federvieh war den Frauen vorbehalten, das sind: Gänse, Puten, Enten, Hühner sowie das Borstenvieh. Große Rinder und Schafherden durften auch nicht fehlen, weil das die Fleischreserven der Familien sind, der Überschuss wird auf dem Markt verkauft und füllt so den Geldbeutel des Bauern.
Die immer wiederkehrenden Arbeiten auf dem Bauernhof werden zur Routine. Nach der Aussaat einiger Getreidesorten, auch Mais, Raps und Sonnenblumen, beginnt die Pflegearbeit. Das betrifft im Besonderen die Weinberge, was bestimmtes Wissen und Erfahrung voraussetzt. Wenn dann die Getreideernte und deren Drusch beginnt haben wir schon Hochsommer. Die Sonnenblume als Öllieferant und der Mais als Nahrungsmittel für Mensch und Tier muss auch unter Dach und Fach. Oft ist es so, dass die Weinlese eine besondere Ernte ist, weil der Wein das Getränk der Bessarabier ist. Dieser ist bei jeder Mahlzeit auf dem Tisch zu finden und bei Feierlichkeiten schenkt der Gastgeber den Besten aus.
Es ist normal und Sitte, dass bei Zusammenkünften von jungen Männern der Wein aus Eimern ausgeschenkt wird. War dieser leer getrunken, wurden Wetten veranstaltet und der Verlierer bezahlte einen Eimer Wein. So und ähnlich trug es sich in Männervereinen zu, weil sie ja Selbstversorger waren. Anders lief es bei Jungmädchenvereinen ab, sie beschäftigten sich mit Strick- und Nadelarbeiten und sangen Volkslieder dabei. Auch Anna besuchte diese in den langen Wintermonaten und arbeitete wie alle Freundinnen an ihrer Aussteuer. Wenn draußen der Winter seine Macht ausübte, gingen die Eltern nach getaner Arbeit zur Bibelstunde. Die Nachbarn richteten es sich so ein, dass jeder einmal seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Welcher auch die Gestaltung des Abends übernahm: Predigt, Gesang und Gebete. Zum Schluss war es üblich, Neuigkeiten auszutauschen, weil es Medien wie heute nicht gab. Diese Arbeit und Beschäftigung sowie der Rhythmus ist von der jungen Generation übernommen und auch weitergegeben worden.
Wenn im Dezember Klöstitz im meterhohen Schnee versunken war und eisige Ostwinde durch das Schagatal wehten, war der schönste Platz am Abend auf der Ofenbank. Am Tage hatten die Männer mit den Schneemassen zu tun, das Vieh zu versorgen und die Landtechnik in Stand zu bringen. Aber am Abend trafen sich alle in der warmen Stube, wo Vater Messinger Geschichten und aus seiner Jugend erzählte. Besonders still wurde es im Zimmer, als er von der Wolfsplage um 1900 erzählte, damals gab es besonders strenge Winter. Dadurch sind die Grenzflüsse Dnjester zur Ukraine und Bruth zu Rumänien komplett zugefroren. Somit konnten große Wolfsrudel die Flüsse nach Bessarabien überqueren. Diese breiteten sich in den Grenzregionen aus und richteten unter anderem in Schafställen großen Schaden an. Das hatte zur Folge, dass der Jagdverein wiederholt Treibjagden anberaumte. In diesem Winter erlegten die Jäger in der Klöstitzer Region 118 Wölfe. Aber das Heulen der Wölfe hörte nachts trotzdem nicht auf, was den Kindern in der Nacht Angst einflößte. Wenn dann noch am Morgen Wolfsspuren auf dem Hof sichtbar waren, machte das auch die Eltern nachdenklich so der Erzähler.
Jagdverein des Dorfes
Die Adventswochen sind vergangen und die Weihnachtstage stehen vor der Tür, das bedeutet für Anna und ihre Helfer höchste Belastung. Zum andern ist es das erste Weihachten ohne ihre Mutter, die sie nicht mehr um Rat fragen kann. Mit Wehmut und etwas Bangen machte sie sich mit ihrer erwachsenen Schwester daran, das Weihnachtsgebäck verschiedener Art zu backen. Denn das ist nicht nur Tradition in Bessarabien, sondern Selbstversorger-Arbeit. Vielleicht ist es Annas Prüfungsarbeit, die sie als perfekte Hausfrau ausweisen wird. Die zwei jungen Frauen brauchten volle zwei Tage, um all das Gebäck in den Backofen zu bringen. Hierbei hat sie ihr Vater beobachtet und festgestellt, dass seine Töchter, vor allem Anna, vollkommen überbelastet waren. Dies stimmte ihn nachdenklich und er fasste den Entschluss, das zur Zufriedenheit aller abzuändern.
Vorerst aber gilt es das Weihnachtsfest gebührend zu feiern. Dazu fehlte noch der traditionelle Weihnachtsbaum, den besorgten Benjamin und sein Vater. Schnell waren die Pferde vor den Schlitten gespannt und los ging es zum Tarutinower Wochenmarkt. Für die beiden Männer war es eine Freude, durch den Pulverschnee zu fahren. Auf dem Markt angekommen, traf Vater Messinger schnell alte Freunde, die untereinander Neuigkeiten austauschten. Er verschwieg auch nicht, dass seine Frau verstorben war. Auch seine Freunde berichteten von familiären Problemen, was sie nicht daran hinderte mit einem Glas heißen Wein anzustoßen. Während Vater mit seinen Freunden den heißen Wein schlürften, besorgte Benjamin einen schönen Tannenbaum. Tannenbäume wuchsen nicht in Bessarabien, sie mussten aus der Ukraine oder aus den Karpaten importiert werden. Vieles hätte sich die inzwischen größer gewordene Männergruppe erzählen können, aber es war Zeit geworden, die Heimreise anzutreten. Die mit Futter versorgten Pferde waren angespannt und die Heimreise begann. Immerhin brauchte man drei Stunden bis Klöstitz, bei dem aufkommenden Schneegestöber etwas länger. Bei der stundenlagen Fahrt war Benjamin eingeschlafen, eingehüllt in seinen Pelz und die Pudelskapp (Pelzmütze) tief ins Gesicht gezogen. Weil es inzwischen dunkel wurde, hat sein Vater eine Laterne angezündet. So kamen sie verspätet, aber sicher auf ihrem Hof an, wo man sie schon sehnsüchtig erwartet hatte. Anna hatte mit ihrer Schwester und dem Knecht bereits das Vieh versorgt. So konnten sie alle gemeinsam zu Abend essen, wobei Benjamin ganz aufgeregt das auf dem Markt Erlebte zum Besten gab. Mit etwas Stolz meinte er, ich habe den schönsten Tannenbaum auf dem Tarutinower Markt gekauft.
Wie immer an jedem Morgen, so auch am Heiligabend, ist die erste Arbeit das Versorgen der Tiere. Danach wurde gemeinsam das Frühstück am großen Familientisch eingenommen. An diesem Tage ruhte jegliche Arbeit, er dient nur zur Vorbereitung des Weihnachtfestes. Dazu gehörte der Weihnachtsbaum, den Benjamin und sein Vater auf einem Ständer befestigte. Nachdem beide ihn in der guten Stube aufgestellt hatten, machten sich Anna mit ihrer Schwester daran, ihn anzuputzen. Der Knecht brachte Brennmaterial in die Küche, das Anna brauchte, um mit ihrer Schwester das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Benjamin und seine Schwester vollendeten etwas später das Schmücken des Tannenbaumes. Ihr Vater war fast unbemerkt in der Sommerküche tätig geworden, wo er die Geschenke seiner drei Kinder einpackte. Es war festes Schuhwerk für seine Töchter, Benjamin bekam Stiefel. Als wohlhabender Großbauer konnte er es sich leisten, wertvolle Geschenke zu machen. Lautstark rief Anna über den Hof ihren Vater zum Mittagessen, der dann eilig, durch den Schnee stapfend das Haus erreichte. Er nahm seinen Stammplatz am Tisch ein, wo sein Jüngster das Tischgebet sprach. Annas Mittagessen schmeckte allen, dabei machte auch der Weinkrug seine Runde.
Tiefverschneites Dorf Klöstitz
Ein bessarabisch geschmückter Weihnachtsbaum
Der Tag neigte sich und die Familie Messinger war bereit, den Kirchgang am Heiligabend anzutreten. Sie brauchten nicht lange zu warten, bis der Glockenklang, der durch das Schagatal schallte, sie zur Messe rief. Aus allen Häusern strömten die Klöstitzer auf der breiten Dorfstraße zur Kirche, die sich bis auf den letzten Platz füllte. Die Orgel stimmte für die Gläubigen das Weihnachtslied an: Der Christbaum ist der schönste Baum, den wir auf Erden kennen. Mit aller Inbrunst sang die Gemeinde mit. Die Konfirmanden führten ein Krippenspiel auf, welches der Kirchenchor musikalisch begleitete. Pastor Immanuel Baumann zelebrierte seine Weihnachtspredigt, welche die Gemeinde andächtig annahm. Nach dem gemeinsamen Vaterunser verließen sie alle unter Glockengeläut die Kirche. Weihnachtlich gestimmt steuerte Alt und Jung ihr Zuhause an.
Nachdem die Familie Messinger für ihr leibliches Wohl gesorgt hatte, wechselten sie zur guten Stube. Dort stand der liebevoll geschmückte Weihnachtsbaum, an dem sie gemeinsam die (Talglichter) Kerzen anzündeten. Mit dem Lied: „O du fröhliche“ und einem Gebet eröffneten sie für sich das Weihnachtsfest. Der Vater sprach mit seinen Kindern über die Bedeutung des Festes und über das Christkind. Freudig tauschten sie dann ihre Geschenke gegenseitig aus und waren alle vom Inhalt überrascht. Beim Aus- und Anprobieren des Geschenkten ließen sie sich viel Zeit. Anna hatte in den vergangenen Monaten bei ihren abendlichen Treffen für alle etwas gestrickt. So verteilte sie: Pullover, Socken, Handschuhe, Schals und anderes. Eine Zeitlang waren alle mit sich beschäftigt, bis dann jeder einen Platz am warmen Ofen fand. Weil es zur damaligen Zeit für Normalverbraucher keine Unterhaltungsmedien gab, erzählte man sich bei Petroleumlampenlicht Geschichten. Wer könnte das besser als Vater Messinger. Als er seine Erzählungen für kurze Zeit stoppte, ermunterten ihn alle weiterzumachen, nur Anna nicht, sie war eingeschlafen. Dieser Anblick war Anlass, seinen Kindern die Nachtruhe anzubieten. In Gedanken versunken suchte er sein Nachtlager auf. Seine Nachdenklichkeit galt seiner überlasteten Tochter Anna, und er beschloss, das abzuändern.
Feiertage kommen und gehen, aber die Arbeit bleibt bestehen, was eine alte Weisheit ist. Das trifft auch für die Jahre zu, die aufeinander folgen. Alle sind voller Hoffnung und Zufriedenheit, wie immer beim Jahreswechsel. Die Wochen vergehen und die Sonne gewinnt an Kraft, was den Schnee schmelzen lässt. Das nutzen die ersten Frühblüher und Anna pflückte nachdenklich die ersten Schneeglöckchen.
Dabei rollten ihre Tränen und sie fragte sich, soll es schon ein Jahr her sein, als meine Mutter heimging? In Gedanken kehrte sie ins Haus zurück, wo ihre Schwester das Abendbrot auf den Tisch brachte. Wie immer nach getaner Tagesarbeit, begibt sich die Familie zu Tisch. Anna bat nach dem Tischgebet ihren Vater und ihre Geschwister um eine Gedenkminute für ihre Mutter. Mit den Worten: „Das war das Letzte, was ich für sie gemacht habe“, stellte sie das Sträußchen Schneeglöckchen auf den Tisch. Nach längerem Schweigen kam dann das Tagesgeschehen zur Sprache und auch, was am nächsten Tag anliegt. Im Gespräch bei einem Glas Wein legte Vater Messinger den Arbeitsplan für die nächsten Tage fest. Benjamin und der Knecht werden mit zwei Gespannen zum Pflügen fahren. Anna und ihre Schwester haben im Haus und auf dem Hof zu tun. Er selbst fährt wie jedes Jahr im Frühjahr für drei Tage zum traditionellen Tarutinower Pferdemarkt.