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Reisen bildet!

Wobei es darauf ankommt, wie man reist und was man darunter versteht. Bildung setzt voraus, dass der Betreffende sie zulässt und dafür empfänglich ist. Meine Reisen als Jugendlicher waren meist mit einem Bildungsauftrag versehen, etwa als jugendlicher Austauschschüler in einer französischen Familie. Es ging darum, Fremdsprachen zu lernen und – wie mein Vater es formulierte – über den eigenen Tellerrand hinwegzublicken.

Ich bin mein Leben lang gereist. Stets getrieben von Neugier auf andere Länder, Kulturen, das Naturerlebnis und das, was man schlicht »das Abenteuer« nennt. Es war diese Unbekümmertheit, die ich so liebte. Meine Eltern hatten mir einen Leitsatz mit auf den Weg gegeben: »Was immer du tust, du musst es richtig machen.« Das war die moralische Leitplanke. Etwas »richtig machen« impliziert Verantwortung – gegenüber der eigenen Leibhaftigkeit wie auch dem Umfeld, in dem man unterwegs ist, und natürlich gegenüber den Menschen, denen man begegnet. Ich unternahm weiterhin waghalsige Expeditionen, fühlte mich aber immer der Maxime »richtig machen« verpflichtet.

Für mich wurde das Leben in der Natur zu einer sehr realen Lebenswelt. Ich lernte, mich in Eis und Schnee oder auf den Ozeanen mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu bewegen wie über den Jungfernstieg in Hamburg. Die Zeit, die ich mit den Inuit verbrachte, war für mich eine Lebensschule, die ich erst Jahre später so richtig wertzuschätzen wusste. Die Inuit hatten mir den Umgang mit der harschen und vermeintlich lebensfeindlichen Umgebung vermittelt. Sie lehrten mich neben vielen praktischen Dingen, dünnes Eis von dickerem, tragfähigem zu unterscheiden. Ich lernte den Einfluss der jahreszeitlichen Veränderungen auf die Ausdehnung und Stabilität des Packeises zu erkennen, die Schneebeschaffenheit zu beurteilen, intuitiv einen sich nähernden arktischen Sturm zu erfassen und meinen inneren Frieden mit der Kälte zu machen. Die kanadischen Inuit waren meine eigentlichen Lehrmeister. Vor diesem Hintergrund müssen meine späteren Expeditionen gesehen werden. Allein durch die Inuit wurde ich zu einem guten Beobachter. Das ist wichtig. Denn wer wie ich mit ähnlich archaischen Mitteln wie die frühen Polarforscher und Entdecker unterwegs war, musste die Natur lesen können. Wenn ich die Eisstärke falsch einschätze, breche ich durch und erfriere. Wenn ich die Zeichen eines sich nähernden Sturms nicht rechtzeitig erkenne und keinen Schutz suche, erfriere ich ebenfalls – oder ertrinke, wenn ich auf dem Wasser bin. So einfach ist es. Die Natur gibt die Spielregeln vor, und es ist an uns, sie zu berücksichtigen. Die Natur kann ohne uns existieren, wir aber nicht ohne sie. Obwohl – das ist ein rein menschliches Denkschema. Es gibt nicht »die Natur« hier und »den Menschen« dort – wir sind alle Teil des Ganzen. Die Natur mag sich verändern, sei es durch natürliche Prozesse oder durch unser Dazutun. Der Natur ist es gleich, fragt sich nur, inwieweit wir mit den Veränderungen klarkommen. Ich glaube, ein großer Teil der heutigen Umweltprobleme beruht darauf, dass wir uns einbilden, wir wären der Lenker aller Naturprozesse. Es stimmt: Wir können eingreifen und verändern. Aber können wir unser Handeln auch perspektivisch überblicken? Können wir Fehler, die bereits geschehen sind, korrigieren? Politiker denken in Legislaturperioden und Anleger und Unternehmen in Shareholder-Value. Der Dieselskandal macht deutlich, dass Betrugs- und Vernebelungstaktiken offenbar als legitimes Mittel angesehen werden, um Profit zu machen. Das mag den Einzelnen ärgern und im Anschluss Sammelklagen regnen. Aber was ist mit der Natur – die eigentlich Leidtragende solcher Maßnahmen? Im Ergebnis und der Summe aller Eingriffe reagiert sie mit Veränderung.

Mein erster Kontakt mit der Arktis fiel in das Jahr 1979. Seitdem bin ich regelmäßig – eigentlich jedes Jahr über Wochen und Monate hinweg – in der polaren Landschaft unterwegs. Meine von den Inuit erlernten Kenntnisse habe ich ausgebaut und vertieft. Und ich habe eine tiefe Zuneigung zu den vermeintlich unberührten Naturlandschaften gewonnen. Aus diesem Grund habe ich mich schon sehr früh für alle Umweltthemen interessiert. Ob es das Verklappen von Dünnsäure in den 80er-Jahren auf der Nordsee betraf, die Rodung des Regenwalds von Borneo oder die PCB-Ablagerung in der Nahrungskette. Ich habe immer eine Meinung dazu gehabt und diese auch geäußert. Was immer man tut: Man ist immer ein politisch handelnder Mensch. Verharrt man im Schweigen, entscheiden andere für einen. Ich bin ein eher aktiv handelnder Mensch, deshalb mische ich mich in die Diskussionen ein. Auch wenn es durchaus unbequeme und kontrovers diskutierte Inhalte betrifft.

So auch beim Thema Klimawandel. Im Jahr 1989 war ich eingeladen, an der internationalen Icewalk-Nordpolexpedition des Briten Robert Swan teilzunehmen. Swan hatte ein achtköpfiges internationales Team zusammengestellt – ich war als einziger Deutscher dazu eingeladen worden. Eine Nordpolexpedition ist wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe, der man sich im arktischen Raum stellen kann. Aggressive Temperaturen, die unter minus 50 °C liegen, driftende Packeisfelder, offenes Wasser, alles in allem ein extrem schwieriges und gefährliches Terrain. Die rund 1.000 Kilometer zu Fuß mit Rucksack und Schlitten im Schlepp zu bewältigen wäre schon Aufgabe genug gewesen. Jeder von uns – trotz aller Erfahrung und Fitness – agierte ständig am Limit dessen, was er physisch und psychisch in der Lage zu leisten war. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Pérez de Cuéllar, hatte persönlich die Schirmherrschaft übernommen und uns, das Polarteam, an den Hudson ins Hochhaus der UN nach New York eingeladen. Er tat dies, weil es bei der Expedition um mehr als um ein Abenteuer ging. Wir arbeiteten mit kanadischen Wissenschaftlern zusammen, die Untersuchungen bezüglich des Ozonlochs in der Stratosphäre anstellten und sich mit dem »Arctic haze« – einer Art Smog – auseinandersetzten. Bereits damals ging es um das Thema Klimaerwärmung. Auf dem Weg zum Pol nahmen wir Messungen vor, sammelten Schneeproben, starteten Messsonden und dokumentierten das Erlebte und die Ergebnisse. Einige Teammitglieder waren wissenschaftlich geschult und hatten sich auf diese Aufgabenstellung entsprechend vorbereitet.

___AM ANFANG STAND DAS ABENTEUER. ALS ICH IM JAHR 1979 ALS JUNGER MANN ZUM ERSTEN MAL NACH GRÖNLAND FUHR, SPÜRTE ICH TROTZ DES HARSCHEN KLIMAS EIN GEFÜHL VON RUHE UND GEBORGENHEIT

Ein von Menschen verursachter Klimawandel? Ich konnte mir das damals beim besten Willen nicht vorstellen. Wer sind wir Menschen, dass wir meinen, das Klima verändern zu können? Heute wissen wir, dass wir es nicht nur können – wir haben es bereits getan.

In den 90er-Jahren waren wir mit meinem Segelschiff, der DAGMAR AAEN, auf den polaren Routen unterwegs. Nur meine Erfahrung mit dem Eis ermöglichte es dem Team und mir, Routen zu befahren, die ansonsten bestenfalls den stärksten Eisbrechern vorbehalten waren. Die legendäre Nordwestpassage durchfuhren wir 1993. Wir waren die Einzigen in jenem Jahr und insgesamt erst das dritte Schiff überhaupt, dem die Passage in nur einer Saison ohne Eisbrecherunterstützung gelang. Das Pendant zu der Nordwestpassage ist die in Sibirien liegende Nordostpassage. Bei dem Versuch, sie zu durchfahren, bissen wir uns förmlich die Zähne aus. 1991/1992 und 1994 versuchten wir die Passage zu bewältigen – und blieben immer wieder im Packeis stecken. Ich war frustriert und hatte keine Lust, einen weiteren Versuch zu starten. Im Jahr 2002 wurde ich von einigen Crewmitgliedern überredet, es doch noch einmal zu versuchen. Und siehe da – wir kamen problemlos innerhalb weniger Wochen durch die gesamte Passage. Dort, wo uns in den Jahren zuvor meterdicke Eispressungen den Weg versperrt hatten, lag offenes Wasser vor uns. Und mehr noch – das Wettergeschehen war ein anderes geworden. Die Tiefdrucksysteme zogen offenbar auf veränderten Bahnen, sorgten für stürmisches und regnerisches Wetter: höchst ungewöhnlich für diese Breiten während der Sommermonate. Bei mir erzeugte unser Erfolg zunächst ein vages, unsicheres Gefühl. Unterschwellig meinte ich, Veränderungen im Eis zu erkennen. Eine rein subjektive Wahrnehmung, die mich aber nicht mehr losließ. Irgendwie war ich verstört.

Alles eine Laune der Natur, wie viele – insbesondere russische Experten – meinten? Oder eine sich abzeichnende Tendenz, eine Entwicklung? Ich war extrem verunsichert, konsultierte wissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema, sprach mit den Autoren. In den Fachgremien und den wissenschaftlichen Kreisen herrschte zu meinem Erstaunen bereits damals große Übereinstimmung: Es waren die Auswirkungen des Klimawandels, die uns so geschmeidig durch die ansonsten für kleine Schiffe unpassierbare Passage hatte durchkommen lassen. Wir waren das erste Überwasserschiff, das den Nordpol komplett ohne Eisbrecherunterstützung umrunden konnte – gewissermaßen eine Weltumsegelung auf der wahren Nordroute. Davon hatten die alten Polarfahrer wie John Franklin und andere geträumt. Sie bezahlten für den Versuch noch mit ihrem Leben.

Als Konsequenz aus diesem Erlebnis in 2002 entschied ich mich 2003, ein weiteres Mal durch die Nordwestpassage zu fahren, genau zehn Jahre nach unserer ersten Durchfahrt. Ich wollte Vergleiche anstellen, selbst sehen, ob es Veränderungen gab. Das Ergebnis war ernüchternd. Es gab eine relativ hohe Eisbedeckung. Den Winter 2003/2004 mussten wir in Cambridge Bay, einer kleinen Siedlung auf halber Strecke, verbringen, da es einfach keine Route durch das Eis gab. Aber dennoch. In anderen Regionen der Arktis war das Eis weiterhin auf dem Rückzug.

___KEINE ANDERE LANDSCHAFT HAT IN DEN LETZTEN JAHRZEHNTEN EINEN SO GRAVIERENDEN WANDEL VOLLZOGEN WIE DIE ARKTIS

Und an der Nordküste Alaskas hatten wir Siedlungen besucht, die ins Meer abzurutschen drohten. Der Permafrostboden, auf dem Menschen seit Tausenden von Jahren siedelten, taute auf und wurde dadurch ein leichtes Opfer für die Brandungswellen der Beaufortsee. Shishmaref, Kivalina und Point Barrow waren massiv davon betroffen. In der Weltpresse fand dieser Umstand nur selten Beachtung – es betraf ja auch nur einige Hundert Menschen. Die Inuit haben keine Lobby.

Damals habe ich meine Unbekümmertheit verloren. Ich konnte von da an nicht mehr einfach von den Expeditionen nach Hause kommen, schöne Bilder zeigen, spannende Geschichten erzählen und den Rest ausklammern. Ich fühlte und fühle mich immer noch als ein privilegierter Mensch, der über einen so langen Zeitraum diese großartige Natur erleben durfte und Zugang zu ihr gefunden hat. Es ist die Pflicht des Chronisten, sich einzumischen und zu berichten. Für mich war und ist es zugleich eine Art Lobbyarbeit für eine Natur, die mir so viel bedeutet. Und die damals aktuelle Entwicklung machte mir Angst.

Inzwischen wissen wir, weiß jeder, der es hören will oder auch nicht, dass der Klimawandel Realität ist. Die Terminologie hat sich entsprechend verändert. Anstatt von dem harmlos klingenden »Klimawandel« zu sprechen, ist mittlerweile der Begriff »Erderwärmung« in diesem Zusammenhang üblich. Man redet vom anthropogenen Zeitalter. Der Begriff anthropogen umfasst sämtliches menschengemachtes Hergestellte, Verursachte, Entstandene oder Beeinflusste. Der Mensch verändert das Klima, in der Arktis konnte man es zuallererst erkennen. Die Arktis erwärmt sich derzeit mehr als doppelt so schnell wie der Rest der Welt. Sie ist eine Art Frühwarnsystem der Natur, und wir täten gut daran, die Warnsignale, die sie aussendet, ernst zu nehmen. Über Jahrzehnte hinweg geschah jedoch genau das Gegenteil. Ein »Weiter wie bisher« war die Maxime. Es rief eine neue Spezies Mensch auf den Plan: den Klimaskeptiker und Klimaleugner. Während die Wissenschaft fundierte Erkenntnisse und Modellrechnungen vorlegte, wurden die Skeptiker und Leugner nicht müde, mit fadenscheinigen Argumenten dagegenzuhalten. Klimaveränderungen habe es schließlich schon immer gegeben, hieß es, und das Ganze sei doch nur Angstmacherei einiger Interessengruppen. Der IPCC1-Report spricht eine deutliche, auch für Laien verständliche Sprache und liegt den handelnden Politikern in schöner Regelmäßigkeit vor. Trotzdem ist nichts passiert. Bei dem Report handelt es sich keineswegs um Forschungsergebnisse einiger weniger wissenschaftlicher Institute. Der IPCC ist eine Art Gutachtergremium, das die weltweit gesammelten Erkenntnisse zu dem Thema Klimawandel beurteilt und anschließend eine Empfehlung an die Politik abgibt. Es ist sich zu 97 Prozent sicher, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Warum leistet man sich eigentlich eine teure Wissenschaft, wenn man nicht bereit ist, deren Erkenntnisse zu berücksichtigen? Ein Beispiel: Es besteht wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Rauchen extrem gesundheitsschädlich ist. Trotzdem gibt es Menschen, die zeit ihres Lebens Kettenraucher sind und nahezu 100 Jahre alt werden. Dennoch würde deshalb wohl kaum einer ernsthaft den Umkehrschluss ziehen und behaupten wollen, dass Rauchen unschädlich ist oder sogar eine lebensverlängernde Maßnahme darstellt.

MAN SOLLTE AUF DIE WISSENSCHAFT HÖREN!


___Ob mit dem Faltboot zum magnetischen Pol oder zu Fuß zum geografischen Nord- und Südpol – immer stand das Naturerlebnis für mich im Vordergrund.


___Nach 56 Tagen und rund 1.000 Kilometern zu Fuß über das Eis des Arktischen Ozeans erreiche ich mit dem Icewalk-Team den Nordpol.


___Unterwegs zum geografischen Nordpol. Das war im Jahr 1989. Heute ist das Packeis durch die Erderwärmung so dünn geworden, dass solche Expeditionen viel zu gefährlich und daher kaum realisierbar sind.


___Bereits in den 1980er-Jahren protestierten wir im Rahmen einer Nordsee-überquerung mit Faltbooten gegen die Verklappung von Dünnsäure sowie die Einleitung anderer schädlicher Substanzen in das Meer.


___Mein erstes Boot. Als Knirps starte ich am Strand von Westerland zu meiner ersten großen Reise.


___Im Jahr 1995 fanden auf dem Mururoa-Atoll im Pazifik die letzten großen Atombombentestversuche der Franzosen statt. Nachdem das Greenpeace-Schiff von Spezialeinheiten geentert und schwer beschädigt worden war, führten wir vor dem Atoll die Protestaktion fort.

»Wir sind nicht die letzte Generation, die den Klimawandel erleben wird, aber wir sind die letzte Generation, die etwas gegen den Klimawandel tun kann.«

Barack Obama, ehemaliger Präsident der USA


Das Eis schmilzt

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