Читать книгу Das Eis schmilzt - Arved Fuchs - Страница 16
ОглавлениеZu dieser Raubtiermentalität gehört auch die Überfischung der Meere. Man muss einmal auf der Brücke eines der großen Hochseetrawler gestanden haben, um zu begreifen, dass die Fische keine Chance auf Entkommen haben. Die opulente Ausstattung mit Elektronik und Sonargeräten erinnert eher an ein Raumschiff als an ein Fischereischiff. Während die großen Hightech-Industrietrawler 365 Tage im Jahr bei jedem Wetter außerhalb der 200-Meilen-Zone weitgehend unkontrolliert fangen und an Land über eine starke Lobby verfügen, werden die kleinen Familienbetriebe durch zunehmende Auflagen drangsaliert. Ihnen wird die Existenzgrundlage entzogen, während die Großen den Rest der Beute unter sich aufteilen. Durch Überfischung und ungerechte Reglementierungen wird der Ertrag der Familienbetriebe immer geringer. Viele von ihnen geben auf. Zugleich fischen die »Großen« mit immer moderneren Schiffen die Ozeane leer. Dazu kommt das Problem des Beifangs. Das sind jene Fische, die versehentlich oder ungewollt ins Netz gehen. Sie werden ungenutzt wieder über Bord geworfen – tot, versteht sich. Einen solchen Trawl überlebt kein Lebewesen. Norwegen hat als eines der ersten Länder die Entsorgung des Beifangs streng verboten. Alles, was in den Netzen gefangen wird, muss registriert und einer Verwertung zugeführt werden. Zudem wird auch der Beifang komplett auf die Quote des Fischers angerechnet. Dadurch möchte man zu nachhaltigeren Fangtechniken bzw. zur Entwicklung neuer Netzkonstruktionen anhalten. In der EU gilt seit 2015 ein Rückwurfverbot, das bereits 2013 verhandelt wurde und seitdem schrittweise umgesetzt werden soll – wenn es nicht umgangen wird. In anderen Ländern außerhalb der EU gibt es solche Bestimmungen vielfach überhaupt noch nicht.
Aber es ist zu einfach, mit dem Finger auf die Fischer zu zeigen. Sie stehen nicht nur in einem harten, existenzbedrohenden Wettbewerb, sie beliefern einen Markt, den wir Verbraucher gestalten. Solange dem Produkt Fisch nicht die richtige Wertigkeit beigemessen wird und die Fischer nur einen mageren Ertrag erwirtschaften, werden sich die Fangtechniken vermutlich nur unwesentlich ändern. Es ist die gleiche Diskussion, die wir bei der Massentierhaltung in Geflügelfarmen und Schweinemästereien führen. Die Schnäppchenmentalität regiert den Markt leider immer noch. Billigfleisch ist immer noch der Renner. Und das, obwohl es genug Alternativen gibt – pflanzlicher oder doch zumindest tierfreundlicherer Natur. Und obwohl bekannt ist, dass die Aufzucht der Tiere neben dem Artenschutzaspekt auch alles andere als günstig für unser Klima ist. Arten müssen durch ein solides Preisgefüge geschützt werden – auch wenn es dann aus Kostengründen nicht jeden Tag das Schnitzel, den Burger oder das Kotelett zu essen gibt. In Europa ist Deutschland das Land mit den günstigsten Schlachtpreisen. Dänische Schweinemästereien lassen Lkw-Ladungen mit Schweinen nach Deutschland zum Schlachten transportieren – weil es hier so schön günstig ist. In dem größten Schlachtbetrieb Deutschlands, im nordrheinwestfälischen Rheda-Wiedenbrück, werden pro Tag bis zu 20.000 Schweine2 geschlachtet. Wir sind – ausländischen Billiglohnarbeitern sei Dank – ein Billigproduzent in Sachen Fleisch. Durch die Coronakrise ist unser Fleischkartell in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Schlecht bezahlte und daher billige Arbeitskräfte, die meist aus osteuropäischen Ländern stammen und über Leiharbeiterfirmen vermittelt werden, leben und arbeiten auf engstem Raum meist unter fragwürdigen hygienischen Verhältnissen und unwürdigen Bedingungen. Bei anderen Schlachtbetrieben verhält es sich ähnlich. Die Zahlen sprechen für sich: Der genannte Schlachtbetrieb ist schlagartig zum Hotspot für Coronainfektionen geworden. Über 650 Beschäftigte wurden positiv auf das Virus getestet. Insgesamt 7.000 Personen wurden unter Quarantäne gestellt.
___ES SIND NICHT IMMER DIE ANDEREN, DIE DIE SCHULD HABEN. WIR ALLE TRAGEN VERANTWORTUNG. DURCH UNSER KONSUMVERHALTEN GESTALTEN WIR DIE MÄRKTE
Den drei Säulen der Nachhaltigkeit – Ökonomie, Ökologie und Soziales – möchte ich eine vierte hinzufügen: die der Ökumene. Wikipedia definiert den Begriff Ökumene nämlich nicht nur als Dialog und Zusammenarbeit zwischen christlichen Konfessionen – und im Übrigen nicht nur zwischen christlichen, sondern allgemein zwischen monotheistischen Religionen –, es nennt auch den Begriff der »Geografischen Ökumene«, was sich auf den ständig besiedelten und landwirtschaftlich nutzbaren Teil der Erdoberfläche bezieht. Die Weltbevölkerung wächst unablässig und mit ihr der Bedarf an Nahrungsmitteln und Lebensraum. Die Artenvielfalt sowie ein schonender Umgang mit den Ressourcen in der Natur sind Grundvoraussetzung für die Lebensgrundlage der Völker und damit einer anzustrebenden friedlichen Koexistenz. Stattdessen werden Naturlandschaften in großem Stil vernichtet. Weltweit sterben immer mehr Arten aus. Die Angaben schwanken zwischen 100 und 150 Spezies pro Tag. Der Erhalt der Artenvielfalt ist aber eine der Grundvoraussetzungen für die Lebensgrundlage der Völker.
___UMWELTZERSTÖRUNG, ERDERWÄRMUNG UND RESSOURCENKNAPPHEIT WIE ZUM BEISPIEL WASSERMANGEL SIND DIE KEIMZELLE VON KONFLIKTEN UND KRIEGEN
Jedes Jahr roden wir etwa 130.000 Quadratkilometer Wald, das entspräche in nicht einmal drei Jahren etwa der Fläche Deutschlands, Tendenz steigend. Allein in Brasilien verbrannten im August 2019 innerhalb von fünf Tagen 471.000 Hektar Wald.3 Und es brennt seitdem ja weiter. Bei den verheerenden Buschbränden in Australien sind über eine Milliarde Tiere ums Leben gekommen. Ganze Arten sind in ihrem Bestand gefährdet, die Koalabären eingeschlossen. Die heiße Asche trieb über 12.000 Kilometer über den Pazifik bis zur südamerikanischen Andenkette und ließ Rußpartikel regnen.4
Der Zugang zu Wasser wird zunehmend schwieriger und damit konfliktreicher. Nur Zyniker wundern sich, dass die Menschen dann fortziehen, anstatt zu verdursten und zu verhungern oder umgebracht zu werden.
Der Zusammenhang zwischen Umweltveränderung und Migration ist komplex und sicher eine der Hauptursachen für Flüchtlingsströme. Auch der Syrienkonflikt hat zumindest teilweise seine Ursachen dort. Vor der Rebellion litt das Land unter einer verheerenden Dürre. Bei zeitgleicher Übernutzung der Grundwasserreserven verloren in den Jahren 2007/2008 rund 45 Prozent der in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen ihren Job. Bei solchen wirtschaftlichen Nöten finden Populisten und reaktionäre Tendenzen sowie ein religiöser Fundamentalismus einen guten Nährboden vor.
Durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe verändern wir das Klima sowie die chemische Zusammensetzung der Ozeane – mit unabsehbaren Folgen für die Flora und Fauna und damit auch für die Menschen. Der zynische Begriff des Wirtschaftsflüchtlings wird den Ursachen nicht gerecht. Es handelt sich vielmehr um politische und um Klimaflüchtlinge.
___KEINER VERLÄSST OHNE TRIFTIGEN GRUND SEIN FAMILIÄRES UND SOZIALES UMFELD AUF DAUER – ES SEI DENN, IHM IST DIE LEBENSGRUNDLAGE ENTZOGEN WORDEN
Die Stigmatisierung der Flüchtlinge macht es nur leichter, sie abzuweisen. Nachhaltigkeit entsteht aus der Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt und nur im ganzheitlichen Verständnis realisiert werden kann. Im Gegenzug führt ein selektives Denken und Handeln unweigerlich in die Sackgasse. Viktor Orbán kann seinen Zaun um sein Land so hoch bauen, wie er will – wenn verzweifelte Menschen keinen anderen Weg sehen, werden sie durch nichts aufzuhalten sein.
Denn: Was macht eine Familie aus dem afrikanischen Tschad, wenn ihr die Lebensgrundlage wegbricht? Sie orientiert sich dorthin, wo sie sich eine Perspektive erhoffen kann. Sie wandert aus. Darf man sich über Flüchtlingsströme wundern, wenn man den Menschen vor Ort keine wirtschaftliche Grundlage ermöglicht? Solange in den betreffenden Ländern keine Wertschöpfungskette implementiert wird, werden ganze Bevölkerungsgruppen am Existenzminimum leben – oder sich ein neues Lebensumfeld suchen.
Die Menschen, die den langen und gefährlichen Weg von Afrika aus zum Mittelmeer wählen, um sich dann in die Hände gewissenloser Schleuser zu begeben, kommen ja nicht nach Europa, weil sie das große Abenteuer suchen. Sie haben meistens keine Alternative. Diese Entwicklung mag viele Ursachen haben, ganz sicher sind diese nicht alle dem Klimawandel geschuldet. Aber arme Länder werden so lange fortfahren, ihren Regenwald zu roden, wie es für das Holz Abnehmer gibt und damit Geld zu verdienen ist. Wenn von der internationalen Staatengemeinschaft keine Ausgleichszahlungen geleistet werden, um diesen Regenwald zu erhalten – wie mehrfach zugesagt –, wird man fortfahren, ihn zu roden.
Global Governance meint ein Konstrukt aus Prinzipien, Regeln und Gesetzen, die einer gesellschaftlichen Akzeptanz folgen. Es gibt viele Best-Practice-Beispiele von Unternehmen, die sich der Verantwortung stellen. Auch die Energiewende sehe ich auf dem richtigen Kurs – selbst wenn es immer wieder logistische Probleme gibt und geben wird. Wenn man in den 80er-Jahren die Macher der Energiewirtschaft gefragt hätte, ob diese sich die Zukunft ohne Kohle und Atomkraft vorstellen könnten und dass stattdessen regenerative Energie einen Anteil von rund 45 Prozent an der Nettostromerzeugung in Deutschland einnehmen würde, hätte man die Fragenden ausgelacht. Und jetzt? Allein im Jahr 2015 wurden in Deutschland 20 Prozent mehr Strom aus erneuerbaren Energien produziert als im Jahr zuvor. Im ersten Halbjahr 2020 stieg der Anteil an »grünem Strom« zeitweise auf über 50 Prozent.
Es geht also! Keiner hat behauptet, dass es einfach oder billig werden würde, aber eine andere zukunftsfähige Alternative haben wir schlichtweg nicht. Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Nur im Schulterschluss zwischen den Bürgern, der Politik und der Wirtschaft kann das gelingen. Und eben nicht in egoistischer Raubtiermentalität.
NEVER GIVE UP!
___Ein moderner Trawler pflügt schwer beladen durch eine aufgewühlte See. Obwohl eher klein, fängt er doch mehrere Tonnen Fisch – pro Stunde.
___Eishaie werden im isländischen Húsavík angelandet. Zuvor wurden sie mit Robbenkadavern angelockt und gefangen.
___Ein Fischer auf den Orkney-Inseln zeigt stolz zwei gefangene Hummer.
___Ein alleinerziehender Fischer mit seinen beiden Töchtern von den Faröern. Für die kleinen Familienbetriebe wird es immer schwieriger, sich gegen die Konkurrenz der Industrietrawler zu behaupten.
___Ein Fischer von Guinea-Bissau trägt einen kleinen gefangenen Hai nach Hause.
___Fischerei wird wie hier in vielen armen Ländern noch mit archaischen Wurfnetzen durchgeführt, während draußen vor der Küste die großen Industrietrawler die Meere regelrecht leer fischen.