Читать книгу Das Eis schmilzt - Arved Fuchs - Страница 14
ОглавлениеGrönland ist meine Trauminsel! Atemberaubende Naturlandschaften, die ihresgleichen in der Welt suchen. Der Nordosten Grönlands, der insgesamt 45 Prozent der Gesamtfläche der Insel ausmacht, ist als Naturpark ausgewiesen. Zutritt erhält nur derjenige, der über eine recht umständlich zu beantragende Genehmigung verfügt. Ein paar Wissenschaftler, Angehörige der militärischen Siriuspatrouille – und hin und wieder eine Handvoll Besucher. Wilde, unberührte Natur. Moschusochsen, Eisbären, Walrosse und Polarwölfe leben unbehelligt von irgendwelchen Nachstellungen durch Menschen. Im Meer tummeln sich Wale, deren Bestand erfreulicherweise zugenommen hat. Schutzmaßahmen haben gegriffen, die Tiere konnten sich weitgehend ungestört vermehren. In Ostgrönland gibt es mit Ausnahme der Siedlungen Ittoqqortoormiit und Tasiilaq sowie einiger assoziierter Dörfer keine menschlichen Ansiedlungen. Erst wenn man die Südspitze Grönlands, das Kap Farvel, gerundet hat und die Westküste entlang nach Norden segelt, trifft man immer wieder auf vereinzelte kleine Ortschaften, von denen Nuuk, die Hauptstadt mit ihren 18.000 Einwohnern, die größte ist. Bedingt durch den Golfstrom, dessen Ausläufer an der Westküste für milderes Klima und wärmeres Wasser sorgt, ist es hier vergleichsweise eisfreier als an der Ostküste. Aber auch hier lässt man die Zivilisation schnell hinter sich, sobald man den Ort verlässt. Von den 56.000 Grönländern leben die meisten in den wenigen größeren Orten, der Rest in kleinen, abgelegenen Siedlungen. Ein Straßennetz oder öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht. Das Flugzeug, das nahezu alle Siedlungen verbindet, sowie Boote oder Hundeschlitten bilden das Verkehrsnetz. An einem Platz wie diesem erwartet man zuallerletzt Umweltschäden. Aber es gibt sie. Von den Auswirkungen des Klimawandels einmal abgesehen, der überall in Grönland seine Spuren hinterlässt, gibt es auch andere Zeugnisse eines gedanken- und verantwortungslosen Umgangs mit der Natur. An einem der einsamsten Plätze der Welt! Wenn wir den Wert einer funktionierenden Natur nicht erkennen, wird die Menschheit fortfahren, sie weiter zu zerstören und fortwährend neue Probleme zu generieren. Dazu ein Beispiel:
Es gibt einen Ort, den ich vor einigen Jahren mehr zufällig entdeckt hatte. Berichte über eine alte aufgelassene amerikanische Militärstation mit Namen Bluie East 2 hatten uns mit der DAGMAR AAEN durch gewundene Fjorde und Sunde dorthin geführt. Eine verlassene Militärstation aus dem Jahr 1947 – »Was wird da schon sein?«, fragten wir uns. Ein bisschen Schrott und Ruinen. Was wir dann aber dort vorfanden, traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Ölfässer, so weit das Auge reichte. Einige leer, aber viele immer noch mit Schmierstoffen und sonstigen undefinierbaren Flüssigkeiten gefüllt, die über die Jahrzehnte hinweg eine sirupartige Konsistenz angenommen hatten. Viele Fässer waren geborsten, ihr schmieriger Inhalt sickerte ungehindert ins Erdreich. Wir waren geschockt, hatten damals aber nicht Zeit für längere Recherchen. Ich entschloss mich, irgendwann mit mehr Zeit im Gepäck wiederzukommen. Im Sommer 2019 war es dann im Rahmen der Ocean-Change-Expedition so weit. Bei herrlichstem Sommerwetter gingen wir vor der Station im ostgrönländischen Ikateq-Fjord vor Anker. Um uns herum hohe Bergmassive und in der Sonne schwitzende Eisberge, die träge mit der Tide durch den Sund zogen – ein Idyll. Eigentlich. An Land trat Ernüchterung ein. Ich wusste ja, was uns dort erwartete. Eine baufällige und brüchige Pier, darauf ein rostiger Kran, der früher die Versorgungsgüter gelöscht hatte, rostiger Schrott und vereinzelte leere Fässer, von denen jedes einmal 200 Liter Öl oder Brennstoff beinhaltet hatte. Wir kletterten einen kleinen Abhang hoch und standen auf einer eingeebneten, rund 1.500 Meter langen Landebahn für die amerikanischen Flugzeuge. Die Station war ursprünglich im Jahr 1941 als Luftwaffenstützpunkt gebaut worden. Das Vorland des Gebirges lieferte die gewünschte ebene Fläche. Mittels Planierraupen wurde für die damals noch eingesetzten Propellermaschinen eine brauchbare Piste in der Wildnis geschaffen. Flugzeughangars, Werkstätten, Funk- und Wetterstationen, Wohnbaracken, ein Fuhrpark aus Lastwagen, Dampfkessel für die Energiegewinnung und für die Werkstätten – eine richtige kleine Stadt wurde hier innerhalb weniger Monate in der Wildnis errichtet. Nach dem Krieg verlor die Station rasch an Bedeutung. 1947 war endgültig Schluss. Von einem Tag auf den anderen verließen die Militärangehörigen die Anlage und schifften sich ein – Kurs Heimat. Zurück blieb alles, was nicht ins Reisegepäck passte: aus den Augen, aus dem Sinn. Das harsche Klima Grönlands und die heftigen Winterstürme ließen die Gebäude in den folgenden Jahren einstürzen. Grönländer kamen aus benachbarten Siedlungen, um sich in der verlassenen Station mit Baumaterial für ihre Hütten einzudecken. Der Rest blieb vor Ort – alles, auch die Fässer.
Den ersten Gesamteindruck verschaffte sich unser Kameramann Tim. Er startete seine Drohne, überflog das rund einen Quadratkilometer große Areal und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da standen diverse Lkw mit geschwungenen Kotflügeln, wie man sie aus alten Filmen kennt. Das ausgebrannte und zusammengefallene Skelett eines Flugzeughangars war zu erkennen, ebenso rostige Dampfkessel, Fundamente von Holzhütten und braune, vom Rost zerfressene Fässer. Nicht hier und dort verstreut, nicht zehn, 20 oder 50 Fässer waren es; es waren buchstäblich überall Fässer, die allesamt drei große Buchstaben auf dem Blechdeckel aufwiesen: USA. Sie waren einzeln, in Reihen abgelegt, zu wilden Haufen aufgetürmt oder fein säuberlich gestapelt. Tausende mussten es sein, wahrscheinlich weit mehr als 10.000, so mutmaßten wir. Wir sollten einer groben Fehleinschätzung unterliegen. Tatsächlich lagern dort rund 190.000 Fässer, wie eine spätere Analyse ergeben hat.
___WÜRDE MAN EINE VERGLEICHBARE UMWELTSÜNDE IN DEN USA ANRICHTEN, GINGE MAN DAFÜR VERMUTLICH INS GEFÄNGNIS
Die Grönländer kennen den Ort natürlich, doch bis heute ist er in keiner Seekarte und keinem Handbuch erwähnt. Einige Menschen in Tasiilaq, der nächstgelegenen großen Siedlung, haben ihre ganz eigene Meinung zum Thema Bluie East 2: Sie wollen, dass mögliche Giftstoffe unbedingt entfernt werden, ansonsten soll der Schrott aber vor Ort bleiben. Die US-Airbase sei eine kulturhistorische Stätte und solle deshalb erhalten bleiben. Für uns durchaus verständlich, gibt es doch bereits so etwas wie einen Bluie-East-2-Tourismus in Tasiilaq: Vereinzelt werden schon Touristen in kleinen Motorbooten zur US-Airbase gefahren, um sich die militärische Schrotthalde anzuschauen. Es ist zumindest eine kleine Einkunftsquelle in der ansonsten von Arbeitslosigkeit geprägten Gemeinde.
Von morgens bis abends erkunden wir das Gelände, nehmen Bodenproben und dokumentieren jedes Detail durch Foto- und Filmaufnahmen. Denn Bluie East 2 – und das ist die gute Nachricht – könnte sich schon bald verändern. Endlich, nach mehr als 70 Jahren, soll hier aufgeräumt werden. Allerdings nicht von den Verursachern. Die hatten sich ihrer Verantwortung schon in den 50er-Jahren entledigt, indem sie mit Dänemark einen Vertrag schlossen, das damals die alleinige politische Hoheit über Grönland ausübte. Einfach ausgedrückt, wurde in dem Vertrag ausschließlich der amerikanische Standpunkt zu Papier gebracht. Frei nach dem Motto: Wir Amerikaner haben euch vor Nazideutschland geschützt, jetzt könnt ihr auch den Müll wegräumen. Dänemark unterschrieb – und tat jahrzehntelang nichts. Erst 2018 wurde ein Vertrag mit Grönland unterzeichnet, der besagt, dass Dänemark bis 2024 insgesamt knapp 26 Millionen Euro zur Verfügung stellt, um die amerikanischen Hinterlassenschaften in Grönland wegzuräumen.
Im Rahmen einer Ausschreibung zur Entsorgung der Fässer von Bluie East 2 wurde eine grönländische Firma namens »60 North« ausgewählt. Eine Mammutaufgabe wartet auf das Unternehmen. Einerseits ist da die gigantische Menge an Material, die abtransportiert werden soll, auf der anderen Seite betrifft es die schwierige Logistik. Zu erreichen ist der ehemalige Luftwaffenstützpunkt nur aus der Luft oder per Schiff und Letzteres auch nur in den eisfreien Sommermonaten Juli und August/ September. Zudem wird schweres Gerät benötigt, da teilweise auch der Boden abgetragen werden muss. In den Fässern wurden offenbar Flugbenzin, Heizöl, Diesel und Schmierstoffe transportiert. Der Boden in der Region könnte umfangreich vergiftet sein. Mit der Schneeschmelze dürften schädliche Stoffe jedes Jahr in den Sund gespült werden. Um das herauszufinden, haben wir Bodenproben genommen. Im Institut für Umweltanalytik im bayerischen Möhrendorf wurden die 34 gesammelten Proben genau analysiert. Glücklicherweise ergaben die Analysen, dass der dauerhaft gefrorene Boden dafür gesorgt hat, dass die Schadstoffe nicht tief ins Erdreich eindringen konnten.
Zwei Tage verweilen wir an dem Ort. Die amerikanischen Umweltgesetze sind streng, das ist auch gut so. Für den Umweltskandal, der in Grönland zurückgelassen wurde, ginge man auf heimischem Boden in den USA womöglich ins Gefängnis. Umweltzerstörung ist ein krimineller Akt und kein Kavaliersdelikt.
Insgesamt soll es auf der größten Insel der Welt noch ca. 30 weitere verlassene US-Militäreinrichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg geben. Darunter auch die bis heute betriebene Luftwaffenbasis Thule Airbase im äußersten Nordwesten Grönlands. Am 21. Januar 1968 stürzte dort ein B-52-Bomber mit vier Wasserstoffbomben ab. Zur Zeit des Kalten Krieges befand sich immer mindestens ein B-52-Bomber, eine sogenannte Stratofortress, in der Luft, um auf einen möglichen Atomschlag der Sowjets umgehend reagieren zu können. Einer dieser taktischen Langstreckenbomber geriet während des Fluges in Brand und musste von der Mannschaft verlassen werden. Unbemannt stürzte er etwa zwölf Kilometer von der Thule Airbase entfernt aufs Eis und zerschellte, wobei die konventionellen Sprengladungen der Atomwaffen explodierten und das atomare Material verteilten. Ein Areal von mehr als acht Quadratkilometern wurde nuklear kontaminiert. Die arglosen Grönländer und auch Dänen vor Ort wurden zu Bergungsaktionen herangezogen. Viele von ihnen starben Jahre später an den Spätfolgen der nuklearen Verstrahlung. Bis heute ist unklar, ob wirklich alle vier Bomben gefunden wurden – man geht davon aus, dass eine Bombe nach wie vor verschollen ist. Ein Politikum, das bis in die jüngere Zeit das dänische Parlament beschäftigt hat. Noch 2009 hat der dänische Außenminister einen Bericht angefordert, in dem es um die Bergung der atomaren Rückstände einschließlich der verschollenen Bombe geht.
___UMWELTZERSTÖRUNG IST DURCH NICHTS ZU ENTSCHULDIGEN – AUCH NICHT DURCH VERMEINTLICH NOTWENDIGE MILITÄRISCHE OPERATIONEN
Ein Arzt, mit dem wir in Grönland sprachen und der auch Dienst in Qaanaaq getan hat, einer Siedlung, die nur wenige Flugkilometer vom Unglücksort entfernt liegt, sprach von einer ungewöhnlich hohen Krebsrate bei den dort ansässigen Grönländern. Auch heute noch.
Unweit der Thule Airbase hatten die Amerikaner in den 60er-Jahren das »Project Iceworm« gestartet. Hinter diesem Codenamen verbarg sich ein gigantisches Tunnelprojekt, das aus 21 in das grönländische Inlandeis gebohrte Tunnelröhren bestand, sowie einer auf den Namen »Camp Century« getauften Siedlung unter dem Eis. Labors, eine Kirche, ein Krankenhaus sowie ein Kino eingeschlossen. Bis zu 600 Atomraketen sollten acht Meter tief im Inlandeis stationiert werden. Die gesamte Anlage hatte eine Ausdehnung von rund 55 Hektar – das entspricht gut neunmal der Fläche des Louvre. In den Tunneln wurden Schienen zum Transport der Nuklearwaffen montiert, ein Miniatomkraftwerk installiert und gigantische Tanks für Brennstoff angelegt. 200 Militärangehörige sollen unter dem Eispanzer stationiert gewesen sein, bis zu 200.000 Liter Diesel wurden in diversen Tanks eingelagert. Die Ingenieure hatte bei der Planung allerdings die Agilität und Dynamik der grönländischen Eismassen falsch eingeschätzt. Schon bald nach der Inbetriebnahme der Anlage wurde deutlich, dass die sich mehr oder minder ständig in Bewegung befindlichen Eismassen die Tunnel zum Einsturz brachten bzw. die Tunnelröhren verschoben. Decken stürzten ein, die Anlage war dem enormen Eisdruck nicht gewachsen. Bereits sieben Jahre nach der Inbetriebnahme wurde das Projekt wieder aufgegeben. Die Amerikaner verfuhren nach dem gleichen Prinzip wie bei Bluie East 2 – man schloss die Türen und rückte ab. Allerdings sind die Hinterlassenschaften von Camp Century noch um einiges brisanter als die der anderen Stationen. Das Kernkraftwerk nahm man wieder mit, aber die vom Eisdruck geborstenen Tanks mit dem Diesel blieben zurück; der Inhalt versickerte im Eis. Man schätzt, dass etwa 24.000 Liter Abwasser zurückblieben – was immer man darunter verstehen mag. Der Fuhrpark, die Versorgungsleitungen, leicht radioaktives Kühlwasser des demontierten Atomreaktors sowie große Mengen an PCB-haltigen Chemikalien – alles blieb, wo es war.
___DAS GEBIET DER ALTEN MILITÄRANLAGEN IST BIS HEUTE ALS SPERRZONE AUSGEWIESEN. DIE AKTIVEN STATIONEN SIND FÜR AUSSENSTEHENDE OHNEHIN TABU
Der Klimawandel lässt das Inlandeis schneller schmelzen als erwartet. Es ist vermutlich nur eine Frage von einigen Jahrzehnten, bis die Altlasten durch die Eisschmelze wieder freigesetzt werden – mit entsprechenden Folgen für die Ökosysteme.
Der Zutritt dorthin ist bis heute streng untersagt. Eine tickende Zeitbombe lagert dort im Eis. Im Sommer 2019 überraschte US-Präsident Trump die Dänen und Grönländer gleichermaßen mit dem Angebot, Grönland kaufen zu wollen – als ob es sich dabei um eine beliebige Immobile handele. Als dieses absurde Ansinnen sowohl von grönländischer wie auch dänischer Seite entschieden abgelehnt wurde, reagierte der Präsident verstimmt und sagte einen Staatsbesuch in Kopenhagen ab.
Auch wenn die Beispiele das suggerieren mögen – es geht nicht um USA-Bashing. Die Sachlage ist in Grönland nun einmal, wie sie ist.
Militärische Altlasten gibt es nicht nur in Grönland, ich habe sie auch auf dem sibirischen Festland, auf der Inselgruppe Franz-Josef-Land und an anderen Orten gesehen. Selbst in der Antarktis gab es Anfang der 90er-Jahre bei einigen Stationen Müllhalden, obwohl diese laut Antarktisvertrag gar nicht hätten existieren dürfen. In der amerikanischen Mc-Murdo-Station betrieben die Amerikaner in den 60er-Jahren kurzfristig einen Kernreaktor, den sie allerdings nach Protest der anderen Vertragsstaaten wieder demontierten. Die Müllhalden sind mittlerweile ebenfalls entsorgt. Aber damit verlagert sich nur das Problem.
UNSERE BESTREBUNG, DIE ERDE ALS EINEN MÜLLPLATZ ZU VERWENDEN, SOWIE DAS GRENZENLOSE UND RÜCKSICHTSLOSE AUSBEUTEN DER RESSOURCEN MÜSSEN EINEM NEUEN DENKEN PLATZ MACHEN.
___Die Drohnenperspektive offenbart das ganze Ausmaß der Müllhalde.
___Die US-Militärbasis Bluie East 2 zu ihrer aktiven Zeit. Eine große strategische Bedeutung hatte sie nie wirklich.
___Zahlreiche Fässer sind immer noch mit einer öligen Substanz gefüllt. Durch den Frost sind sie geplatzt und entleeren ihren Inhalt in die Natur. Lauren und ich nehmen Bodenproben.
___Eines der alten Häuser der Inughuit unweit der Thule Airbase. Die Grönländer wurden quasi zwangsumgesiedelt.
___Im Institut für Umweltanalytik im bayrischen Möhrendorf werden unsere Bodenproben auf Schadstoffe untersucht – mit spannenden Ergebnissen.
___Schmelzwasser, das von den Eisbergen herabströmt, ergänzt unsere Frischwasservorräte. Es ist vermutlich viele Jahrzehnte alt.