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Der Zorn Gottes
ОглавлениеVom Nutzen der Gottesfurcht für Luziferianer
FRATER PSYCHOPOMP
Gottesfurcht? Ausgerechnet Gottesfurcht?! In diesem Buch? Wieso denn das jetzt?
Keine Sorge, das Ganze hat seinen Sinn. Auf den nächsten paar Seiten will ich genauer umreißen, was denn die eigene Göttlichkeit, die schnell und mühelos behauptet ist, bedeutet und welche Konsequenzen sie hat. Wer also unter den geneigten Lesern der Meinung ist, sein(e) eigene(r) Go(e)tt(in) zu sein, darf sich bitte angesprochen fühlen. Wer das nicht tut, kann sich hier immerhin noch weiterbilden – oder lieber gleich zum Text von Frater Pandagaz247 rüber blättern, der ist nämlich auch ganz cool.
Noch da? Gut. Dann kommen wir mal zum Überblick: wenn ich sage, dass es in diesem Artikel um die eigene Göttlichkeit geht, dann ist das natürlich nur die halbe Wahrheit. Es geht um Fanatismus, darum was am Fanatismus nützlich und für Luziferianer interessant ist und vor allem darum, dass man seinen eigenen Fanatismus entwickeln kann genau wie seine eigene Religion, seinen eigenen Gott und seinen eigenen Musikgeschmack. Vor allem geht es darum, die eigene Göttlichkeit näher kennenzulernen, was es nämlich wesentlich leichter macht, fanatisch davon überzeugt zu sein. Aber eins nach dem anderen.
Der Fairness halber sollte ich zum Schluss meiner Vorrede klarstellen, dass ich selber mich keineswegs als Gott sehe, zumindest jetzt gerade nicht. Ich bin Chaosmagier, Mitglied des IOT und wechsle meine persönliche Rolle in meinen Weltbildern öfter als andere ihre Leopardenunterwäsche. Mit den folgenden Seiten werde ich aber beweisen, dass ich mich mit praktischem Luziferianismus trotzdem ganz gut auskenne – nur eben nicht ausschließlich damit.
Für religiöse Fanatiker ist es ganz typisch, dass die »Befehle«, die sie von Gott erhalten, im wesentlichen immer eines besagen: »Du sollst töten«. Der Gott aller Fanatiker scheint eher der Teufel zu sein.
– Amos Oz –
Fanatismus scheint mit religiöser Überzeugung eng zusammenzuhängen, soviel ist offensichtlich, aber es lässt sich schon noch Genaueres herausfinden. Das Wort Fanatismus kommt vom französischen fanatique oder vom lateinischen fanaticus, was „göttlich inspiriert“ bedeutet. Die selbe Bedeutung hat auch das Wort Enthusiasmus, nur ist das Griechisch, nicht Latein – und heutzutage ist „Enthusiasmus“ für den Pöbel etwas gutes, „Fanatismus“ aber etwas böses. Schon allein dadurch sollte klar sein, dass ein angemessen finsterer Luziferianer den Fanatismus viel interessanter zu finden hat. Aber interessant finden ist eine Sache, verstehen ist eine ganz andere. Was heißt Fanatismus eigentlich?
Der diamantene Hort aller letzthinnigen Weisheit, die Wikipedia, erzählt mir gerade, das Wort bedeute „das unbedingte Festhalten an einer Idee oder theoretischen Vorgabe weitgehend ohne Rücksicht auf praktische Konsequenzen für [sich selbst] oder andere.“ Sehr schön, das ist genau worauf ich als erstes hinauswollte: ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Einen kleinen Schritt weiter gedacht bedeutet das: Fanatismus ist irrational.
(Und wenn mir jetzt jemand unterstellen will, das wäre der Grund, warum ich als Chaosmagier mich dafür interessiere, bekommt er keinen Keks.) Diese Irrationalität ist vielleicht auch der Grund, warum kaum jemand sich die Mühe zu machen scheint, Fanatismus verstehen zu wollen. Damit meine ich nicht so sehr die Wikipedia. Eher Leute wie den Anthropologen Scott Atran, der zwar mühsam nachgewiesen hat, dass die ziemlich eindeutigen Beispiele für Fanatiker, die sich mit Sprengstoff bekleidet in israelische Busse setzen, ein bestimmtes Profil aufweisen (geistig gesund, gebildet, intelligent, von Fanatikern umgeben), der aber keine wirkliche Analyse liefert, was so jemand fühlt und denkt, wenn er sich entscheidet, dem Fanatismus sein Leben zu opfern. Es herrscht – nicht nur psychologisch, sondern auch politisch – eine große Ratlosigkeit.
Dann versuchen wir doch mal, ob wir es selbst besser hinbekommen. Bis jetzt haben wir den Hinweis auf die „göttliche Inspiration“ und die Irrationalität. Und weiter? Wo fangen wir an? Am besten mit Beispielen, das ist immer am einfachsten.
Die Geheimakten der Gestapo über deren Folterungen von Gegnern der Nazis enthalten ein bemerkenswertes Detail. Hilters Folterknechte berichteten, dass sie jede Opfers brechen konnten und dazu brachten, preiszugeben und zu gestehen, was immer sie wollten. Kommunisten, Juden, Sozialdemokraten und alle sonstigen tatsächlichen oder scheinbaren Regimegegner brauchten allesamt nur brutal und ausdauernd genug gepeinigt zu werden – mit Ausnahme einiger Zeugen Jehovas. Denen gelang, was bis heute als praktisch unmöglich gilt: ihren Widerstand entgegen jeder Folter durchzuhalten, die sich die Gestapo ausdenken konnte. Genützt hat es ihnen wenig, denn umgebracht wurden sie anschließend trotzdem. Dennoch haben sie eine Willensstärke bewiesen, die kaum zu überbieten ist. (Zynischer weise hatten sie die Gelegenheit dazu nur, weil ihre Leitung, die Wachtturmgesellschaft, mit den Nazis kooperiert und ihnen die Namen von Mitgliedern gegeben hatte. Aber ich will ja auch nicht behaupten, alle Zeugen Jehovas wären in ihrem Glauben unbeugsam; nur diese waren es offensichtlich.)
Sie sind nicht die einzigen, die es geschafft haben, sich ihren Folterern zu verweigern – aber unter denen, die das geschafft haben, sind sie als streng religiöse Menschen in der übergroßen Mehrheit. Die Anführer der Wiedertäufer sind relativ bekannte Beispiele, wie auch verschiedene Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg. Auch der relativ bekannte Fall James Stockdale, ein Kriegsgefangener in Vietnam, der jahrelange Folter durchlitten hat und sich als Atheist bezeichnet, war überzeugter Stoiker und damit Anhänger einer „Philosophie“, die bei genauer Betrachtung sehr religiös daherkommt und dem Neuplatonismus wesentlich näher verwandt ist als dem Atheismus.
Natürlich wissen wir nichts genaues über den Anteil streng religiöser Menschen unter denjenigen, die der Folter widerstanden haben. Erstens wird oft gefoltert ohne dass es Ziel der Sache wäre, den Willen des Opfers zu brechen. Zweitens haben dort, wo das doch der Fall ist, die wenigsten Folteropfer hinterher die Gelegenheit, darüber zu reden. Nach den wenigen Daten, die zu dem Thema vorliegen, scheinen streng religiöse – fanatische – Opfer jedenfalls im Vorteil zu sein.
Das könnte allerdings damit zusammenhängen, dass solche Leute, zumal heutzutage, besonders oft gefoltert werden. Wirft man einmal einen langen Blick in die Geschichte von kleinen Widerstandsgruppen gegen übermächtige Staatsgebilde, so stellt sich schnell heraus, dass sie fast immer von besonders entschlossenen Gläubigen bestimmt werden. Ulrich Köhler – noch ein Anthropologe – hat dazu eine Theorie der „Revitalisierung“ aufgestellt, in der er feststellt, dass der Großteil der Volksbewegungen, die sich gegen eine dominante Kultur (bzw. den Staat) auflehnen, nicht nur religiös sind, sondern auch normalerweise von visionären Erlebnissen einiger weniger ausgelöst werden, die berichten, sie hätten mit irgendeiner Gottheit gesprochen und würden deren Befehle ausführen. Womit wir wieder beim Fanatismus wären.
Wo in einer Revolte Religion eine geringe Rolle spielt, zum Beispiel in der Französischen Revolution, stehen hinter der revolutionären Bewegung große Menschenmassen. Das hat andere Gründe und ist für uns jetzt nicht interessant. Jedenfalls braucht es entweder einen großen Rückhalt in der Bevölkerung oder eben Fanatismus, um eine solche Entschlossenheit zu entwickeln, wie man sie braucht, um sich mit einem Staat anzulegen.
Damit will ich nicht sagen, dass es besonders sinnvoll ist, eine Revolution anzetteln zu wollen – das wäre nochmal ein ganz anderes Thema. Ich erlaube mir aber den Hinweis, dass wenn Richard Cavendish meint, das Ziel des Schwarzen Magiers wäre letztlich die Eroberung des Universums, der unmittelbar relevanteste Teil des Universums – zumindest vorerst – natürlich der Staat und die Kultur sind, in denen der Schwarze Magier lebt. Wenn fanatische Menschen bei solchen Eroberungsversuchen im Vorteil sind, dann ist das für Schwarzmagier aus ganz pragmatischen Gründen von Interesse.
In dem uns nächsten Beispiel für eine Revolte, der Opposition gegen die Regierung der ehemaligen DDR, waren es die Christen, die an vorderster Front standen und lange vor den großen Montagsdemonstrationen eine oppositionelle Szene etabliert haben. Natürlich sind auch dort Leute verschwunden und natürlich wurde auch dort gefoltert, wenn auch dank der modernen Massenmedien nur in relativ gut versteckten Ausnahmefällen. Im Klima der permanenten Stasiüberwachung Verbrechen wie „Staatsfeindliche Hetze“ zu begehen, erforderte mehr innere Stärke, als die meisten damals hatten. Die Christen hatten die nötige Entschlossenheit und den Christen verdanken wir die friedliche Revolution von 1989.
Aktuellere Fälle von Widerstand gegen eine übermächtige und folternde Staatsmacht sind natürlich vor allem die Muslime im Irak (und anderswo) und die Falun-Gong-Bewegung in China. Und schon wieder: alles religiöse Leute. Aber natürlich sind das nur die besonders eindrücklichen Extrembeispiele, an denen sich am besten zeigt, was es für Möglichkeiten eröffnet, fanatisch zu sein. Aber schau dich nur um, such nach außergewöhnlich erfolgreichen Leuten und du wirst fast immer feststellen, dass sie in irgendeiner Weise Fanatiker sind. Vielleicht ist es ihnen nicht bewusst, und vielleicht sehen sie es selbst nicht so. Aber außergewöhnlicher Erfolg hat in vielen, meiner Meinung nach den meisten, Fällen einfach damit zu tun, dass jemand bereit ist (oder es zumindest einmal war) wesentlich mehr Einsatz für etwas zu bringen als es normale (das heißt: nicht außergewöhnlich erfolgreiche) Menschen tun. Das betrifft ebenso den besessenen Künstler, der wochenlang 16 Stunden am Tag eine fixe Idee auf eine Leinwand bannt wie den Unternehmensgründer, der „unbedingt“ (ohne Rücksicht auf Verluste, das heißt: fanatisch) geschäftlichen Erfolg will und dafür die 80-Stunden-Woche und den Herzinfarkt mit 55 in Kauf nimmt. Immer ist Fanatismus die Triebfeder, die den Einzelnen aus den Milliarden heraushebt. Gegenbeispiele gibt es natürlich – die haben eben Glück gehabt, das gibt‘s auch. Aber wie man sich Glück verschafft, wird schon in genügend anderen Büchern besprochen, also zurück zum Thema.
Es lohnt sich, das eben Gesagte im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich anschaut, wie der Fanatismus, dieses böse böse Wort, im Allgemeinen beschrieben wird – von Postings in satanischen Internetforen bis zu Artikeln in der FAZ. Da ist die Rede von „Dummheit“ (was Unsinn ist, denn fanatische Menschen sind erfahrungsgemäß eher überdurchschnittlich intelligent), „Rückständigkeit“ (als ob Fanatismus ein Phänomen der Vergangenheit wäre) oder „Irrationalität“ (was stimmt, aber nicht gerade präzise ist). Wäre es nicht viel treffender, Fanatismus durch „Entschlossenheit“ zu charakterisieren? Oder, wenn wir in der Sprache des Okkultismus bleiben, durch „Willenskraft“? Damit hätten wir dann ein drittes Merkmal für Fanatismus.
Das vierte und an dieser Stelle letzte Merkmal ist eines, in dem ich den Feuilletons ausnahmsweise Recht gebe, und zwar Intoleranz. Fanatiker sind nicht nur oft gefoltert worden, sie haben auch besonders oft selbst Andersdenkende gefoltert. Spätestens seit dem Milgram-Experiment wissen wir zwar, dass jeder Mensch dazu gebracht werden kann, zu foltern, aber in der Praxis waren – und sind – es vor allem glühende Verfechter einer Religion oder Ideologie, die foltern. Ich behaupte, dass die US-Soldaten im Irak weniger foltern und morden würden, wenn sie nicht so elendiglich überzeugt wären, das Richtige für ihren weißen, Schwule hassenden Jesus und „God‘s Own Country“ zu tun.
Damit haben wir schon vier Eigentümlichkeiten des Fanatismus. Zur Erinnerung und für alle, die zwischendurch auf dem Klo waren:
1. Inspiration durch „Gott“
2. Irrationalität
3. bedingungslose Entschlossenheit
4. Intoleranz
Für den Moment soll das reichen. Ich denke, unter Luziferianern wird man sich schnell einigen können, dass die Punkte eins, zwei und vier Merkmale sind, die vor allem im Zusammenhang mit Religion auftreten, was unseren Anfangsverdacht bestätigt. Ich denke auch, unter Okkultisten und anderen Leuten, die beim Kettenrauchen gern von ihrem tollen magischen Willen reden, wird man sich ebenso schnell einigen können, dass Punkt drei eigentlich ganz nützlich klingt. Und wenn etwas ganz nützlich klingt, dann kann die einzig relevante für pragmatisch orientierte Magier natürlich nur lauten: wie bekommen wir diese Entschlossenheit, ohne uns irgendeinem Sklavengott zu verschreiben? Und was hat das alles nun mit Luziferianismus zu tun?
Die Erklärung wird bedauerlicherweise nicht ganz unkompliziert, aber wir haben alle Bausteine dafür zusammen und müssen sie nur noch auf die richtige Weise zusammenbasteln. Offenbar brauchen wir eine Art Religion, oder zumindest etwas, was ihr (wie James Stockdales Stoizismus) ähnlich genug ist, um uns die Entschlossenheit zu geben, die offenbar zu so außergewöhnlichen Leistungen fähig macht. Wie diese Religion oder Philosophie aussehen muss, erzählen uns die oft genug genannten vier Merkmale.
Zuerst einmal – und das ist sicher der interessanteste Punkt – muss diese Religion irrational sein. Das ist nicht so problemlos, wie diejenigen glauben werden, die jede Religion für irrational halten, denn manche Religionen sind irrationaler als andere. Es macht einen Unterschied, ob man relativ vernünftig überprüfbare Meditationserlebnisse zur Grundlage seiner Religion macht, oder ob man entgegen jeder Logik die Legenden eines vorderasiatischen Hirtenvolkes zur absoluten Wahrheit erklärt und versucht, sie gegen die Wirklichkeit durchzusetzen. (Das erste wäre zum Beispiel im Buddhismus der Fall, das zweite bleibt dem Leser zum Selbststudium überlassen.) Außerdem hat Anton Szandor LaVey mit seiner Version des Satanismus eine der rationalsten Religionen/Weltanschauungen abgeliefert, die die Religionsgeschichte überhaupt kennt – und die ich an dieser Stelle wohl kaum zu erklären brauche. LaVey hilft uns also bei der Verwertung für den Fanatismus nicht weiter, wir brauchen eine möglichst irrationale Religion.
Wie sich noch herausstellen wird, ist es für diese Zwecke ausreichend irrational, sich für Gott zu halten. Allein die Idee, seine eigenen paar Dutzend Kilo Fleisch und zweieinhalb Pfund Hirnmasse für göttlich zu halten, ist so offensichtlich absurd, dass es um so leichter ist, sie fanatisch zu behaupten. Aber dazu gleich.
Zweitens muss eine Art unmittelbarer Kontakt mit dem Absoluten/Göttlichen vorkommen. Ob als direkter Kontakt wie im Gebet der Inquisitoren oder als festes Wissen wie das der shintoistischen Kamikaze-Piloten ist egal, aber jedenfalls nützt uns eine distanzierte, abgehobene Göttlichkeit wie der kabbalistische Ain Soph herzlich wenig. Natürlich kann man jede Religion auf unterschiedliche Weise verstehen und in jeder Religion sich vom Göttlichen direkt berührt fühlen. Aber wieder macht es die eine Religion leichter als die andere: die haitianischen Sklaven in den Befreiungskriegen konnten direkt ihre Petro-Loa invozieren und besessen in den Kampf ziehen, während die deutschen Soldaten, die mit ihren „Gott mit uns“-Gürtelschnallen im Schützengraben verreckt sind, kein solches rituelles Rüstzeug hatten. Für Luziferianer ist der Kontakt natürlich besonders einfach: wer selber Gott ist, ist klar im Vorteil.
Intoleranz und Entschlossenheit findet sich in so ziemlich jeder Religion, vorausgesetzt sie wird einigermaßen radikal gelebt. Fassen wir diese beiden also zusammen und stellen wir fest: wir brauchen radikale Religiösität. Und da es hier um Luziferianismus geht – wobei sich der ganze Text problemlos auf Wicca oder jedes andere Paradigma ummünzen ließe – soll die zugrundeliegende Religion natürlich die Wertschätzung und Verkörperung des Luziferprinzips sein.
Jetzt setzen wir Radikalität, Irrationalität, unmittelbaren Kontakt und Luziferianismus nur noch zusammen. „Wie können wir fanatischen Luziferianismus erreichen?“ heißt dann in anderen Worten: „Wie können wir radikalen, irrationalen Luziferianismus mit unmittelbarem Kontakt zum luziferianischen Prinzip erreichen?“ Praktischerweise brauchen wir uns da nicht selbst Gedanken zu machen, denn das hat schon jemand für uns getan. Wir brauchen ihn nur noch umzudeuten, denn er ist … christlicher Theologe.
Wir treffen hiermit auf den Gegensatz von Rationalismus und tieferer Religion.
– Rudolf Otto –
Rudolf Otto ist sicherlich unter den Vertretern der deutschen evangelischen Theologie einer derjenigen, die am meisten der Gotteslästerung beschimpft worden sind. Im Laufe seines kurzes Lebens erreichte er vor allem eins, nämlich eine noch heute (nach über hundert Jahren) in jeder besseren christlichen Buchhandlung vorrätige Veröffentlichung. „Das Heilige“ heißt sie und ist wirklich einen Blick wert. Wer aber keinen Bock hat, für so etwas Geld auszugeben, oder wer befürchtet, beim Betreten eines so zweifelhaften Etablissements wie einem christlichen Buchladen auf der Stelle zu Staub zu zerfallen, findet hier die wichtigsten Punkte in Kurzform, denn sie werden uns in der Formulierung eines fanatismusfähigen Luziferianismus ausgesprochen nützlich sein.
Otto hat sich für das Erleben des Göttlichen interessiert, das heißt dafür, wie es sich anfühlt, dem Absoluten zu begegnen. Das ist für uns interessant, da wir magischer Logik folgend natürlich wissen, dass nicht unbedingt „Gott“ ein Gefühl erzeugen muss, sondern auch ein Gefühl „Gott“ erzeugen kann. Sich in dieses spezielle Gefühl hineinzusteigern kann – das weiß nicht nur ich aus eigener Erfahrung – den Kontakt mit dem Absoluten, was oder wo es auch sei, enorm verstärken und damit die göttliche Inspiration hervorrufen. Rudolf Ottos entscheidende und für viele Christen ausgesprochen widerwärtige Erkenntnis war die, dass die direkte Begegnung mit dem Göttlichen nicht rational zu erfassen ist. Das gilt (und das war seinen Kollegen noch viel widerwärtiger) nicht speziell für den christlichen Gott, sondern für jede Religion. Den Luziferianismus hat er sicher nicht gemeint, aber auch für den gilt, was er herausgefunden hat.
Laut Rudolf Otto hat die Begegnung mit dem „Heiligen“ – was bei ihm noch ein abstrakter Begriff ist, mag jeder Leser für sich durch seinen persönlichen Begriff des allerhöchsten göttlichen Prinzips ersetzen – immer zwei Komponenten, zwei Erfahrungen unbeschreiblicher Art. Diese sind bedeutsamerweise irrational, und zwar insofern, dass sie nicht in Worten ausgedrückt und authentisch an andere weitergegeben werden können. Es handelt sich um eine vor-sprachliche, vor-rationale Ebene des menschlichen Erlebens, um rein gefühlsmäßige Eindrücke. Dennoch können diese Erlebnisse, obwohl sie sich ebensowenig wie das der Liebe adäquat ausdrücken lassen, zumindest umschrieben und beschrieben werden. Logisch, sonst hätte sich das mit dem Buch auch irgendwie erübrigt, denn darin versucht der Herr Theologe seitenlang genau das, was er vorher selbst für unmöglich erklärt hat.
Die eine Komponente nennt er das mysterium tremendum, das schauervolle (oder schaudern machende) Geheimnis. Dummerweise hat die deutsche Sprache ein völlig unzureichendes Vokabular, was die verschiedenen Arten von Angst angeht, aber Tatsache ist, dass tremendum dasjenige am Heiligen meint, das so etwas wie Angst einflößt. Spätestens hier wird der notorisch coole Schwarzmagier von heute die Augenbrauen hochziehen und zu sich meinen: „Angst? Ich hab doch keine Angst vor gar nichts.“ Stimmt, und genau das ist das Problem. Aber bevor wir dazu kommen, will ich versuchen, etwas genauer zu umschreiben, was Rudolf Otto mit dem tremendum meint.
Die Angst des tremendum ist keine konkrete Angst wie die vor einem bissigen Hund und auch keine vage Angst wie die vor der nächsten Telefonrechnung. Es ist eine metaphysische Angst vor der Wertlosigkeit gegenüber dem Unermesslichen. In Ottos Buch wird es mal als Grauen bezeichnet, mal als Erschauern, dann wieder als Ehrfurcht oder Scheu. Emile Durkheim hat einen besseren Begriff für die (meiner Erfahrung nach) selbe Sache: er spricht von Anomie, dem völligen Fehlen von Werten und Normen. Die Begegnung mit dem absolut Heiligen bringt unvermeidlich dieses Gefühl mit sich, denn für das Heilige, das Göttliche, „ganz andere“ und unbedingte, gelten natürlich keine Regeln, wie wir sie kennen. Eine solche Begegnung verdeutlicht erst, wie unbedeutend absolut alles profane (nicht-heilige) ist und dass das jeden Sinn mit einschließt, denn wir vielleicht zu kennen glauben.
Durkheim bringt Anomie mit Entfremdung und einem Gefühl der eigenen Wertlosigkeit in Verbindung, was natürlich daran liegt, dass er über Selbstmord geforscht hat und feststellte, dass das Erleben von Anomie ein Faktor ist, der Selbstmorde fördert. Selbstmord hat übrigens wahrscheinlich – ganz wird das wohl nie geklärt – auch Rudolf Ottos Leben beendet.
Interessanterweise stellt sich die Situation völlig anders dar, wenn man als Luziferianer (anders als die von Durkheim untersuchten Christen) das Heilige, also auch das tremendum, in sich selbst findet statt außerhalb von sich. In diesem Fall ist man nicht Opfer der Entwertung durch einen „Gott“, sondern entwertet selbst alles. Die Grunderfahrung des luziferianischen tremendum kann vage angedeutet werden als das Entsetzen, sich als einziges echtes Wesen in einer sinnlosen, hohlen Spielzeugwelt wiederzufinden.
Nur zur Sicherheit betone ich noch einmal: das eigentliche tremendum ist mit solchen Begriffen wie Angst oder Anomie nicht zu erfassen. Diese Begriffe beschreiben nur im Ansatz ein unaussprechliches Gefühl, das das Heilige auslöst.
Es lohnt sich (schon allein um mal konkret zu werden), kurz darüber nachzudenken, in welcher Situation ein frommer Christ sich zu befinden glaubt. Er ist der Allmacht seines Gottes vollkommen ausgeliefert, kann aber niemals absehen, was dieser Gott mit ihm anstellen wird – was schon bei der einfachen Frage anfängt, ob er denn im Himmel oder in der Hölle landen wird. „Die Wege des Herrn sind unergründlich“ heißt es beschönigend. Oder ganz unverblümt in Psalm 76,8 und an Gott gerichtet: „Furchtbar bist du! Wer kann vor dir bestehen, wenn du zürnest?“ Kein Wunder, dass regelmäßig die Gnade Gottes in den Psalmen und Gebeten beschworen wird. Diese Gebete sind natürlich absurd und können allenfalls ein beruhigendes Selbstgespräch der Gläubigen darstellen, da Gott ja per Definition durch so etwas ebensowenig in seinem Zorn zu besänftigen ist wie durch irgendetwas sonst. Dem Durchschnittskirchgänger ist die prekäre Situation, in die seine Religion ihn strenggenommen bringt, wohl in den seltensten Fällen klar. Aber der Durchschnittskirchgänger begegnet auch nicht dem Heiligen. Tiefgläubigen Christen – vor allem Protestanten und Rudolf Otto war so einer – ist ihre „schlechthinnige Abhängigkeit“, wie der Theologe Friedrich Schleiermacher es genannt hat, aber durchaus schmerzlich bewusst. Was in den Selbstmord treiben kann, kann auch zu anderen Dingen treiben: eifrigen Gebeten um Gnade zum Beispiel. Da der verängstigte Christ kein Luziferianer ist, muss er immer das Opfer, kann er nie die Quelle dieser namenlosen Angst sein. Und nichts ist entsetzlicher als der Zorn Gottes.
Der geneigte Leser möge sich fragen, ob er Gefühle der Begegnung mit dem tremendum schon erlebt hat, in Bezug auf welchen Gottesbegriff auch immer. Wenn ja, so ist die wichtigste Hürde genommen und es gilt, in der folgenden Erörterung genau dieses Gefühl im Hinterkopf zu behalten. Wenn nein, dann werden die gegen Ende dieses Textes genannten Techniken möglicherweise besonders nützlich sein.
Die andere Seite des „Heiligen“, die positive, nennt Otto das fascinans. Sie ist dafür verantwortlich, dass sich Menschen mit etwas so grauenvollem wie Gott überhaupt beschäftigen. Glückseligkeit, Gnade, Entrückung … hier finden wir alle Gefühle wieder, die der schon erwähnte Durchschnittskirchgänger gern hat, obwohl (oder gerade weil) sie nur blasse Reflektionen desjenigen sind, was tiefreligiöse Mystiker erleben. Immerhin werden, weil die Masse der Christen sich Gott als „gütig“ vorstellt, Begegnungen mit dem fascinans nicht so tabuisiert und verschwiegen wie Begegnungen mit dem tremendum. Außerdem sind sie so überwältigend positiv – sind vielleicht Positivität an sich – dass man sich Freunde macht, wenn man darüber redet. Nur stellt man eben wiederum fest, dass das so einfach nicht ist.
Eine berühmte Legende über Thomas von Aquin (schon wieder ein Theologe) erzählt, er hätte nachdem er so etwas erlebt hatte, alle seine Bücher verbrennen wollen, weil ihm klar geworden war, wie unzureichend sämtliches Reden über Gott ist. Hätte er es nur getan … jedenfalls ist er bei weitem nicht der einzige, der sich über die verzweifelte Unmöglichkeit beklagt hat, sein so überwältigend beglückendes Erlebnis mitzuteilen. Die Andeutungen, die dennoch versucht werden, drehen sich normalerweise um Begriffe wie Frieden, Seligkeit und die Erkenntnis, dass alles eins ist. Die Unaussprechlichkeit des mystischen Erlebnisses ist inzwischen fast sprichwörtlich und ein Lieblingsthema von Leuten, die sich immer noch an das Christentum klammern. Die Unaussprechlichkeit der Anomie lässt sich nur aus den schweigsamen, unauffälligen Selbstmordstatistiken ablesen. (Die aber zeigen immerhin, dass Protestanten, die das tremendum im Schnitt besser zu kennen scheinen als Katholiken, auch deutlich mehr Selbstmorde begehen als diese.)
Wieder stellt sich dieses Erlebnis in seiner luziferianischen Form grundsätzlich anders dar. Das Gefühl bleibt das selbe – wer Chaosmagier ist und den Paradigmenwechsel hinbekommt, vergleiche ruhig – nur wird die überwältigende Positivität nicht nach außen auf alles wahrgenommene projiziert, sondern vor allem auf die eigene Gedanken. Ähnlich wie Mystiker ein schlafwandlerisches Gottvertrauen entwickeln, kann das luziferianische fascinans ein unbeschreibliches Selbtvertrauen geben.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: natürlich sind auch das nur Symptome, Fußabdrücke desjenigen mysterium fascinans das Rudolf Otto meint. In seinen Worten:
Was die ‚Heilslehre‘ an positiv angebbaren Heilsgütern aufweise, umgreift und durchquickt sie alle, aber erschöpft sich nicht in ihnen. Und indem sie sie durchdringt und durchglüht, macht sie aus ihnen selber mehr als was der Verstand von ihnen begreift und sagt. Sie gibt den Frieden, der über aller Vernunft ist. Die Zunge lallt nur davon. Und nur in Bildern und Analogien gibt sie von Ferne von sich einen unzulänglichen und verworrenen Begriff.
Mir ist niemand bekannt, der das fascinans von etwas Heiligem erlebt hat und den Glauben an dieses Heilige je wieder vollständig verloren hätte.
Wiederum lautet die Frage an alle Leser, ob ihnen so etwas schon passiert ist. (Und ich meine wirklich passiert, denn vorstellen kann man sich so etwas nicht – ich hab vorher auch gedacht ich könnte, und Thomas von Aquin sicher auch.) Ist es passiert? Ohne Heroin? Wenn nicht, so kann ich nur wiederum auf die Übungen am Schluss dieses Kapitels verweisen. Wenn ja, dann sollte es wiederum leichter fallen, den Rest meiner Ausführungen nachzuvollziehen. Wer sowohl tremendum als auch fascinans kennt, ist an dieser Stelle eingeladen, sich beide Gefühle als gleichzeitig von der eigenen Göttlichkeit ausstrahlend vorzustellen und in dem heiligen Schauer zu baden, der die Kraft des luziferianischen Fanatismus verleiht.
Die große, wichtige, doppelt rot zu unterstreichende Erkenntnis bei Rudolf Otto ist, dass fascinans und tremendum untrennbar zusammengehören. Sie verstärken sich gegenseitig, bedingen sich gegenseitig. Deswegen üben – sofern man glaubt – die schauerlichsten Dämonen auch ihre eigentümliche Faszination aus, deswegen flößt auch der gütigste Gott immer Ehrfurcht ein. Nur wer sich von Angst erfüllt die Abgründigkeit und Unerforschlichkeit des Heiligen vergegenwärtigt, der findet genügend Raum für eine so überwältigende Glückseligkeit. Wer sich nicht völlig in die liebende Vereinigung mit dem Göttlichen begibt, der erlebt nicht die unermessliche Entfaltung von dessen entsetzlicher Macht.
Na gut, nach diesem langen schwülstigen Gelaber dürfte klar sein, dass wir den Boden der Rationalität verlassen haben. Ich hoffe, dass – wenigstens denen, die sich in derartige Gefühle hineinspüren können – aber auch klar ist, wie so eine Begegnung mit dem „Heiligen“ die unbändige Kraft des Fanatismus hervorbringen kann. Verglichen mit dieser Phantasmagorie von Gefühlen und Visionen sind Widerstände und Probleme einfach bedeutungslos. Und genauso bedeutungslos sind potentiell auch die Meinungen und Gefühle anderer Menschen; vielleicht die Schmerzen desjenigen, den man gerade auf dem Scheiterhaufen verheizt, vielleicht aber auch der Glaube des anderen, man selbst wäre kein Gott. Vor der Perspektive des Absoluten besteht keine Relativität. Kein Mitleid. Keine Vernunft.
Na? Wer hatte denn gerade Angst, das könnte wahnsinnig machen? Wer lässt sich da ertappen beim Zurückschrecken vor etwas, worüber ein Gott nur lachen könnte? Wer hat es denn da mit dem Luziferianismus so ernst doch nicht gemeint?
Kurze Denkpause.
Und jetzt ein Glückwunsch an alle, die mit dem Begriff tremendum nichts anfangen können und sich gerade angesprochen gefühlt haben: ganz genau das in euch, was euch gerade angesprochen hat, ist euer tremendum.
Ich werde diese Spielchen im Rest des Textes unterlassen.
Wenn wir uns nun einmal unter den „Linkshändern“ dieser Welt umschauen, so stellen wir sehr schnell fest, dass es da mit fascinans und tremendum nicht besonders weit her ist. Wieviele Luziferianer haben schon unsterblich verliebt vor dem Spiegel gestanden? Welcher Saturngnostiker hat schon die Welt dafür bedauert, dass sie keinen Gott außer ihm hat? Es gibt sicher Beispiele für so eine Haltung – obwohl mir nur Austin Osman Spare einfallen will – aber sie sind meinem Dafürhalten nach zumindest ausgesprochen selten.
Die meisten Anhänger des Pfades zur Linken, die ich kennengelernt habe, sagen zwar, sie wären ihr eigener Gott, verhalten sich diesem Gott gegenüber aber keineswegs so, wie es eines Gottes würdig wäre. Daran ist erst einmal nichts Verkehrtes, als Gottheit wird man ja wohl selbst wissen, ob es angemessen ist, sich beispielsweise zur besseren Verehrung eine eigene Kirche zu bauen. Aber eins ist dennoch Fakt: da ist kein tiefes Erschüttertsein durch das Göttliche, da ist kein Absolutes als Angelpunkt, an dem sich in höchste Höhen der Leistungsfähigkeit aufzuschwingen wäre. Kurz, da ist kein Fanatismus. Unter der Folter würdet ihr alle zerbrechen.
Nach dem, was oben über den Zusammenhang von fascinans und tremendum gesagt worden ist, dürfte auch klar sein, woran das liegt: die meisten Linkshänder finden sich selbst zwar toll (was zumindest in Richtung fascinans geht), haben aber keine Angst vor dem Ausmaß ihrer Macht (tremendum). Es fehlt ihnen Gottesfurcht. (Wie jeder beliebige Christ bestätigen wird, dem man nicht zu genau erklärt, wem die Gottesfurcht gelten soll.) Damit haben wir für das konkrete Problem, wie luziferianischer Fanatismus zu erreichen wäre, erst einmal eine recht abstrakte Lösung: Gottesfurcht entwickeln, das eigene tremendum kennenlernen.
Kein Problem. Wer als Okkultist mit der magischen Technologie vertraut ist, Veränderungen im Einklang mit dem eigenen Willen herbeizuführen, hat es natürlich wesentlich leichter, Gottesfurcht herbeizubeschwören als, sagen wir, ein Imam in einer pakistanischen Koranschule. Um ein paar erste Anregungen zu geben, und damit dieser Text nicht als abgehobenstes Theoriegeschwafel seit Fra. Ratatosks „Chaos Magick Theory“ in die Magiegeschichte eingeht, hier noch ein paar Ideen für die rituelle Praxis der Invokation des Selbst in seiner ganzen göttlichen Pracht und Entsetzlichkeit.
Bei invokatorischen Arbeiten funktioniert nichts so gut wie der Exzess.
– Pete Carroll –
Luziferianischen Fanatismus hervorrufen heißt genau und ausschließlich: gleichzeitige Invokation des tremendum und des fascinans. Beide hängen zusammen (bei Otto heißt der Gesamtbegiff: das Numinose), das heißt auch wenn man bei der Invokation nur auf eines der beiden Gefühle zielt, bekommt man eine Dosis vom anderen mit hinzu. Der Rest ergibt sich von allein. Wenn tremendum und fascinans invoziert sind, strahlt das eigene göttliche Selbst alles aus, was irrational gläubig macht. Zunehmend wächst der Glaube an die eigene Göttlichkeit. Der irrationale (weil rein mit Gefühlswahrnehmungen begründete) Luziferianismus wird durch immer unmittelbareren Kontakt zum (selbstverkörperten) luziferianischen Prinzip zusehens radikaler. Und das bewirkt in der Summe, wie oben ausgeführt, Fanatismus und alle seine Eigenarten.
Und natürlich bleibt die beeindruckende und furchteinflößende Ausstrahlung, die durch die Invokationen entsteht, nicht nur für einen selbst wahrnehmbar.
Hier müssen – oder dürfen – wir den Zuständigkeitsbereich christlicher Theologen verlassen, denn die halten ja unsinnigerweise Erlebnisse dieser Art für nicht genau erklärbar (obwohl Rudolf Otto interessanterweise anerkennt, dass rituelle, schamanische und andere Praktiken dem Zweck dienen können, das Heilige zu erreichen). Als Magier kennen wir uns da spätestens seit Abra Melin besser aus.
Ich möchte es mir ersparen, an dieser Stelle ausführlicher auf Invokation und Illuminationsmagie im Stil des Liber Samekh einzugehen, denn wer darin noch nicht bewandert sein sollte, findet alles nötige im Liber Null. Stattdessen stelle ich genau wie Crowley fest, dass die entscheidende Formel lautet:
INVOZIERE OFT!
Alles folgende sind bloße Fußnoten zu diesem Zitat.
Führe in jeder beliebigen Situation folgende Meditation aus. Werde dir intensiv deiner Umgebung bewusst. Erahne außerdem den unermesslichen Strom von vergangenen Ereignissen, die nötig waren, um genau diese Situation zu schaffen – wenn du willst, bis zurück zum Urknall. Mach dir bewusst, dass du allein alle diese Zusammenhänge mit dem ausschließlichen Ziel bewirkt hast, genau diese Situation zu schaffen. Erahne außerdem die Zukunft, die unendlichen Möglichkeiten, die sich aus jeder deiner möglichen Entscheidungen in dieser Situation ergeben können. Mach dir bewusst, dass du allein alle diese Möglichkeiten mit dem ausschließlichen Ziel bewirkt hast, dir deine momentanen Wahlmöglichkeiten zu geben. Nun mach dir bewusst, dass du allein verantwortlich für das bist, was jetzt geschieht. Tu was du willst. Versuch diesen Zustand umfassender Bewusstheit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten – anfangs werden es höchstens wenige Sekunden sein. Sei bestrebt, öfter und öfter in diesen Zustand einzutreten. Das ist die beste der hier genannten Techniken.
Invoziere auf die klassische Weise. Bau einen Tempelraum zu deiner Verehrung. Dekoriere ihn mit Bildern, Besitztümern und Zitaten von dir. Improvisiere Gebete an dich selbst, ruf sie laut und voller Begeisterung für dich selbst. Nimm rituelle Handlungen vor, wie es dir richtig erscheint. Tu stets alles voller Dankbarkeit für die Gnade, und voller Ehrfurcht für die Pflicht, dich selbst verherrlichen zu dürfen. Mach dir bewusst dass alle Welt auf subtile Weise an dem Ritual teilnimmt. Dass die Luft in deinen Lungen glückselig darüber ist, deine Stimme tragen zu dürfen. Dass der Fußboden ängstlich dem Moment entgegen zittert, in dem du deinen göttlichen Fuß wieder von ihm entfernen wirst. Wenn du das Ritual beendest, tu es mit dem Wissen dass du etwas Gutes getan hast. Das ist die leichteste der hier genannten Techniken.
Fertige Kunstwerke und schreibe Texte, die deine göttliche Natur ausdrücken. Sie sind die Reliquien und heiligen Bücher, auf die die Welt seit Äonen gewartet hat und die du ihr einzig aus deiner göttlichen Gnade heraus zueignest. Verfahre mit den Geschenken deiner Gnade, wie es dir richtig erscheint. Wenn du sie verschenkst, schenkst du den höchsten Segen den ein Mensch erhalten kann. Wenn du sie auf den Müll wirfst, machst du den Müllhaufen zu einem Heiligtum. Das ist die fortgeschrittenste der hier genannten Techniken. Sie ist nur sinnvoll zu verwenden, wenn durch den Gebrauch der vorigen zwei (oder anderer) Methoden die Invokation bereits in hohem Maß verwirklicht ist. Und jetzt los mit dir.
Von heute an will ich Furcht und Schrecken vor dir auf alle Völker unter dem ganzen Himmel legen, damit, wenn sie von dir hören, ihnen bange und weh werden soll vor deinem Kommen.
– 5.Mose 2,25 –
Ich komme, dich überzusetzen über den Strom zu endloser Nacht, lodernden Feuern und klirrender Kälte.
– Dante Alighieri –