Читать книгу Nox Arcanum - Asenath Mason - Страница 8
Vama Marg
ОглавлениеDer Pfad der Linken Hand
THOMAS LÜCKEWERTH
Spirituelle Konzeptionen lassen sich seit jeher in zwei Grundtypen klassifizieren: Den passiven Glauben und den aktiven Glauben. Die in Westeuropa vorherrschende Glaubensstruktur (das Christentum) ist dem passiven Aspekt zuzuordnen, daher liegt es auf der Hand, dass sie ihren aktiven Gegensatz zu verneinen bzw. zu bekämpfen versucht. Die naheliegendste Dämonisierung der religiösen Konkurrenz wurzelt in der Entfesselung der menschlichen Urängste; eine Methodik, die seit Anbeginn der Zeit von religiösen wie politischen Strömungen höchst erfolgreich angewandt wird: Der spirituelle Gegner ist immer die Verkörperung des Bösen; das Ruchlose, er vergiftet Brunnen und schlachtet Kinder, er trifft sich an geheimen Orten und vollzieht grausame Riten, sein Handeln zielt immer auf den Umsturz der herrschenden Ordnung ab. Doch tatsächlich wächst inmitten der Ordnung und Rechtschaffenheit eine philosophische und spirituelle Blüte heran, die nur von wenigen verstanden und praktiziert wird. Diese kleine Blüte entfesselt jedoch eine Dynamik, die es problemlos mit der gigantisch wirkenden Kraft der Ordnung aufnehmen kann. Tatsächlich scheint sie sogar reifer zu sein, denn sie benötigt nur sich selbst. Sie blüht aus sich selbst heraus und schlägt sich in jeder Umgebung durch, gleichgültig wie feindlich die Umwelt es mit ihr meint. Diese Blüte nennen wir den Pfad der Linken Hand.
Um den Begriff des Linkshändigen Pfades zu klären, müssen wir das Terrain des Christentums verlassen und uns mit einem weitaus komplexeren religiösen Konzept befassen: Dem Hinduismus. Der traditionelle Hinduismus predigt die Askese und die Abstinenz als Pfad zur Weisheit und gibt eine Vielzahl von Regeln und Anleitungen zur Reinigung und Selbstkasteiung vor. Dies ist der Pfad der Rechten Hand; der Weg der Ordnung. Der Anhänger des Rechten Pfades verneint und verteufelt die Erde und das irdische Dasein; er sehnt sich nach der Auslöschung seines Egos, will dieses mit der großen Leere vereinen, um das Leid, welches jegliches menschliches Dasein verkörpert, zu beenden. Der Anhänger des Linken Pfades bindet sich an die Erde und zelebriert sein fleischliches Dasein. Je nach Paradigma glaubt er an eine irdische Existenz, aus der es alles herauszuholen und auszuschöpfen gilt, oder an die Wiedergeburt, bei der er sich für immer an die Erde bindet. Das Fleisch, dem sich der Asket zu entziehen versucht, ist das Herz und das Ziel des Anhängers des Linken Pfades. Der Rausch der Ekstase wird der Stille der Meditation vorgezogen. Anhängern des Rechten Pfades ist beispielsweise der Genuss von Fleisch, Fisch und Alkohol verboten, während sie im Linken Pfad fester Bestandteil des Kultes sind.
In Zeiten, in denen heute selbstverständliche Zivilisationsgüter undenkbar waren, wischte man sich nach der Ausscheidung von Kot das Gesäß mit der linken Hand ab, um das Essen, welches mit der rechten Hand eingenommen wurde, rein und sauber zu halten. In dieser simplen und leicht unappetitlichen Tatsache liegt die Wurzel des Begriffes des „Pfades von der Linken Hand“. Das Linke gilt als Unrein. Als böse und teuflisch wird es verfemt; sprachlich hat sich über die Jahrhunderte hin ein Dualismus etabliert, der im Deutschen besonders stark zum Ausdruck kommt. Doch auch im Englischen schlägt sich diese Negativbehaftung unter anderem in dem Begriff „sinister“ nieder, der so viel wie „finster/düster“ bedeutet und vom Lateinischen „sinistra“ abstammt, was nichts anderes als „links“ bedeutet. Noch in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts war es üblich, linkshändigen Kindern gewaltsam den Gebrauch der rechten Hand anzutrainieren. Diese völlig sinnlose und dumme Maßnahme ist symbolisch und prägnant für die unbewusste Angst vor dem „Linken“; vor dem, was anders ist und sich abseits der gesellschaftlich akzeptierten Norm bewegt.
Die rechte Seite wird traditionell mit dem Guten assoziiert, sie steht für Ordnung, für das uns Vertraute und Bekannte, das Licht und die Vernunft, für Sicherheit und Ratio. Sie repräsentiert den Weg, den unzählige vor uns bereits beschritten haben und von dem allgemein angenommen wird, dass es „natürlich„ ist, ihn zu betreten.
Die linke Seite hingegen steht für das (vermeintlich) Böse, für das Chaos, für alles Unbekannte, die Dunkelheit, den Instinkt und die Gefahr. Es ist jener Weg, vor dem wir immer gewarnt werden, da er durch unbekanntes und gefährliches Terrain führt.
Der Vama Marg entzieht sich jedoch einer moralischen und ethischen Diskussion im allgemeinen; er kann nicht im Vorfeld als „böse“ oder „verwerflich“ abgestempelt werden, denn zunächst ist er nicht mehr als ein Bekenntnis zum fleischlichen und irdischen Dasein. Zu Verirrungen, die wir aus unserer Perspektive als ethisch für nicht vertretbar erachten, kann es auf jedem Pfad kommen. Der schlechte Ruf des Vama Marg wurzelt in seiner Verweigerungshaltung vor göttlichen Autoritäten und deren Stellvertretern; er ist in dem Sinne durchaus anarchisch und im wahrsten Sinne des Wortes individualistisch. Für einen Anhänger göttlicher Ordnung stellt sich eine derartige Ignoranz gegenüber der Schöpfung und der Allmacht Gottes als verwerflichste Blasphemie dar; damals ebenso wie heute. Die organisierte Religion bietet den Gläubigen Mittler und Wegweiser auf ihrer spirituellen Suche an, der direkte Kontakt zum Göttlichen wird jedoch unterbunden. Ein direkter Kontakt würde die bestehende Ordnung zerbersten und die Macht der organisierten Religion sprengen. Der Anhänger des Linken Pfades sucht diesen Kontakt. Er fristet daher auch in den meisten Kulturkreisen ein Leben als Eremit; er mag im vereinzelten Austausch mit anderen stehen, lebt seine Religiosität jedoch primär für sich.
Vama bedeutet zudem soviel wie „Frau„; weitere Assoziationen sind der Mond und, wie sollte es anders sein, die Erde. Die Energien des Vama Marg sind chthonischer Natur; daher wird die Erde des Vama Marg auch nicht von der Sonne, sondern vielmehr vom Licht des Mondes befruchtet. Übersetzen wir Vama Marg mit „Weg der Frau„, so steht dies für eine archaische Vereinigung des Individuums mit der (Erd)Göttin. Diese Vereinigung besitzt einen gleichermaßen symbolischen, rituellen und spirituellen Charakter. Die Symbolebene wurde bereits eingangs erklärt, das Ritualelement wird unter anderem durch die sexuellen tantrischen Elemente verkörpert, während die spirituelle Komponente wiederum den Schwur und das Bekenntnis zur Erde bedeutet (also die Vereinigung mit der Erdgöttin).
Der Linkshändige Pfad vollzieht sich zumeist abseits der gesellschaftlich-religiösen Ordnung; er entwickelt sich quasi entgegengesetzt zur populären spirituellen Strömung. Die Inhalte des Vama Marg sind daher nicht zwingend traditioneller Natur, sondern vielmehr wird mit der gesellschaftlichen Akzeptanz einer Strömung der Nährboden für ihren linkshändigen Schatten vorbereitet. Die Saat des linkshändigen Pfades keimt auf in jeder religiösen Strömung, denn die Existenz des einen ist die Voraussetzung für die Geburt des anderen. Während die Primärströmung zur Massenkompatibilität eine grundlegende Schlichtheit besitzen muss, um von der Masse anerkannt zu werden, so reifen die Sekundärströmungen zumeist in kleinen Gruppierungen und Bewegungen. Die Struktur der Sekundärströmung ist zumeist vielschichtiger und fordert den Gläubigen sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene. Die Primärströmung hält für den durchschnittlich spirituell aktiven Menschen eine Auswahl an Lebensweisheiten und Regeln bereit, während der anspruchsvollere Anhänger des rechtshändigen Pfades diese Regeln detailliert untermauert, dabei jedoch das bereits vorgegebene Dogma nicht unterlaufen kann. Tut er dies dennoch, so wird er sich dem Verdacht aussetzen, dem Linkshändigen Pfad zu folgen. Die Primärströmung kann sich nur dadurch am Leben erhalten, dass sie nicht angezweifelt und nicht zu komplex wird, da dies den Glauben der Masse, welcher die Voraussetzung für den Machterhalt ist, schwächen würde. Dies würde letztendlich zum Untergang der Strömung führen. Diese Gebundenheit an das Dogma ist eine tragikomische Facette des Glaubens, bedenken wir beispielsweise die Folgen der Inquisition. Selbst die abgrundtief lächerlichsten Anschuldigungen wurden über Jahrhunderte aufrechterhalten, da auch nur ein ansatzweise geäußertes Schuldeingeständnis den Machtverlust zur Folge gehabt hätte. Der Linkshändige Pfad hat mit derartigen Strukturen keine Probleme, da es diese schlichtweg nicht gibt. Der Rechtshändige Pfad ist an das Kollektiv gebunden, der Linkshändige Pfad an das Individuum selbst. Der Vama Marg kennt kein Rechtfertigen vor göttlichen Instanzen oder deren Stellvertretern auf Erden, da der Praktizierende diese Rollen selbst einnimmt. Dass in dieser Grenzenlosigkeit oder, wenn man so will, äußeren Gottlosigkeit, auch eine gewisse Gefahr für das Individuum und dessen Umfeld lauern kann, versteht sich von selbst. Doch letztendlich ist diese Gefahr geringer als bei der Primärströmung, da der Linkshändige Pfad die Moralinstanzen in sich selbst, und nicht bei externen Göttern oder Autoritäten sucht. Dass dieser Weg letztendlich ein höheres Maß an Verantwortung für sich und seine Umwelt hervorbringt, zeigt uns die Geschichte anhand zahlreicher Beispiele.
Aspekte des Linkshändigen Pfades finden sich in zahlreichen religiösen und esoterischen Strömungen. Auch die bekannteste Spielart der Esoterik, die Kabbala, verfügt über eine Schattenseite. Sie stellt den Lebensbaum Otz Chiim, die zentrale Glyphe der kabbalistischen Lehre, auf den Kopf und tauft ihn Ha-Ilan Ha-Izon: Baum des Schattens. Anstelle der Sephiroth, welche den Weg der göttlichen Schöpfung vom grenzenlosen Licht hin zur materiellen Erde versinnbildlichen, treffen wir am Baum des Schattens auf die Qliphoth. Die Qliphoth stellen die Schattenseiten der Sephiroth dar und stehen für die lichten Aspekte in ihrem Zustand vor der Schöpfung. Sie sind sozusagen die pränatalen Sephiroth; die sich in einem kreativen Chaos befinden. Das Bewusstsein des linkshändigen Kabbalisten wird also in den Zustand vor der Schöpfung versetzt um letztendlich selbst als Schöpfer zu agieren. Während der traditionelle Kabbalist ehrfürchtig die Schöpfung zu verstehen und zu erforschen versucht, ernennt sich sein linkshändiger Gegenpart selbst zum Schöpfer. Die Welt der Qliphoth wurde in den siebziger Jahren intensiv durch Kenneth Grant erforscht und beschrieben, unterstützt wurde er dabei von seinem Medium Maggie Ingalls/Soror Nema, die nicht zuletzt durch die Proklamation des Aeons der Maat bekannt sein dürfte. Grant ist bis heute die Primärquelle für Kabbalisten des linken Pfades; seine Forschungen wurden in den neunziger Jahren unter anderem durch den Schweden Thomas Karlsson fortgeführt, der sich ausführlich mit den Qliphoth und der linkshändigen Kabbala beschäftigt.
In der ägyptischen Mythologie, die ein exzellentes Beispiel für eine feste und bis ins Detail durchdachte und strukturierte Hierarchie ist, begegnen wir dem Linkshändigen Pfad in der Gestalt des Gottes Seth, der permanent die göttliche Ordnung in Form seines Bruders Horus attackiert. Horus, der geflügelte Falkengott, wird natürlich mit dem Himmel assoziiert, während Seth für die chthonischen Kräfte der Erde steht. Erze im Erdboden nannten die alten Ägypter die „Knochen des Seth“. Hier finden wir also erneut die Kräfte des Linken Pfades im Erdinneren, während jene des Rechten Pfades im Himmel weilen. Obwohl Seth sich gegen die bestehende göttliche Ordnung wendet, handelt er nicht gegen die Schöpfung, sondern tritt vielmehr als deren Bewahrer auf, denn einer der bekanntesten Mythen um Seth erzählt von seiner nächtlichen Fahrt auf der Sonnenbarke, bei der er die Meeresschlange Apep in Schach hält, welche die Schöpfung vernichten will. Ebenso gibt es Darstellungen der Sonnenbarke, bei der diese von Seth-Tieren, und nicht, wie üblich, von Schakalen gezogen wird.
Ein Pyramidentext setzt die Kraft Seths gleich mit der Kraft der Pharaonen; ein Ausspruch, dessen überwältigende Bedeutung wir erst dann verstehen können, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass die Pharaonen als Götter betrachtet und behandelt wurden (dies ist also letztendlich nichts anderes als die Gottwerdung der Linkshändigen Kabbalisten). Anders als im Christentum waren sie keine Stellvertreter mit vermeintlich gutem Kontakt nach oben, sondern tatsächliche Emanationen göttlicher Macht.
Im Namen des Set, roter Gott, schwarzer Gott.
Wir preisen Dich, Set,
Vielverkannter, Ofterkannter,
Brecher der ehernen Tafeln,
Brecher, Zerbrecher,
Grenzerhöher, Grenzzerstörer,
erschaffender Geist,
sich erhebend aus totem Gebein und der Asche der Sterne.
Du gelangst in unsere Welt aus den endlosen Wüsten,
der Weite des Meeres,
den Unendlichkeiten des Alls,
umgürtet mit der Schlange Leviathan,
Dein Kelch ist ein schwarzes Loch,
verschlingend und gebärend am Firmament hinter dem Westtor,
wo sich die Nebel des Chaos umwinden.
Dein pulsierendes Herz ist reine, rote Glut,
auf dem Amboss der Zeit geschmiedet in der Stadt der Pyramiden.
Und das Feuer lodert auf und blitzt durch Deine Augen,
die entflammen, was sie erblicken.
Du bist fest verwurzelt in den Tiefen der Erde,
in Ewigkeit verschlungen mit Deiner Mutter,
die Deine Geliebte ist im Zentrum Deines Zeichens,
dem Taukreuz.
Und doch trägt der Nachtwind Dich fort in die fernen Reiche bis
hinter die Sterne,
hinein in unsere Träume,
unser Sehnen, Wünschen und Lieben,
unser Streben, Hassen und Zähnezeigen.
Seth, ich bin wie Du, ein Werdender!
Ich habe mich aufgerüstet zu voller Größe.
Da ist ein Gott, wo ich bin.
Alles Heil dieser Welt,
wir bleiben Deiner Erde treu, Set!
Wir leben im Wind, im Sturm.
Wir leben auf der Erde und graben unsere Hände tief hinein.
Wir sind das Feuer und unsere Stütze ist ein Stab,
der die Schlange birgt. 1
(Frater Eremor)
Diese Anrufung des Gottes Seth beinhaltet mit der Gottwerdung, dem Schwur an die Erde und der Symbolik der Schlange die drei prägnantesten Motive des Vama Marg. Ebenfalls in diesem Kontext muss das Sinnbild Kephras gesehen werden, dem Skarabäus, der sich aus sich selbst heraus erschuf. Kephra gilt als Erscheinungsform des Urgottes Atum und würde in späterer Zeit als ein Aspekt des Sonnengottes Re gedeutet. Kephra symbolisiert das sich selbst Erschaffen, das aus sich selbst heraus Werden. Kephra gebiert sich selbst, aus seinem eigenen Willen heraus formt er sich und erhebt sich am östlichen Firmament. Die diesem Sinnbild innewohnende Symbolik ist zutiefst mit dem Linkshändigen Pfad verbunden, ist Kephra doch keiner höheren Macht unterworfen, sondern wird selbst zum Schöpfer. Er befindet sich in einem permanenten Schöpfungsprozess, denn er „ist“ niemals, sondern er „wird“ beständig. Kephra ist vergleichbar mit dem ewig strömenden Tao und dem „Wyrd“ der nordischen Mythologie. Eine ständige und niemals abgeschlossene Schöpfung, die lediglich dem eigenen Willen folgt. Dieser Logik folgend zeigt die ägyptische Hieroglyphe für den Terminus „Entstehung“ eben jenen Käfer. Interessanterweise haben wir es hier aber mit einem gezähmten Aspekt des Linkshändigen Pfades zu tun, denn anders als Seth, der auch zu altägyptischer Zeit gefürchtet wurde, erfreute sich die Gestalt Kephras großer Beliebtheit, was sich nicht zuletzt an der bis heute anhaltenden Tradition der Verwendung Kephras als Glücksbringer in Gestalt des Skarabäus zeigt.
Schwerer zu fassen ist der Linkshändige Pfad im Rahmen der germanischen Religion. Es gibt hier kein klassisches dualistisches Schema, alle Götter haben gute und schlechte Eigenschaften und ihre Schicksale sind zutiefst miteinander verwoben. Das Gute entsteht hier aus dem Bösen und umgekehrt – die komplexe Mythologie, die wir aus den Götterliedern der Edda und den wenigen religiösen Überlieferungen rekonstruieren können, zeugen zumeist von einer neutralen Schilderung der Verhältnisse. Die moralischen Elemente sind vergleichsweise rar gesät.
Dennoch gibt es auch hier Hinweise, dass es eine Form des Linkshändigen Pfades gegeben hat. So stürmt im Lied Aegisdrecka eda Lokasenna der zweigesichtige Loki ein von Aegir für die Götter bereitetes Festmahl und provoziert jeden Gast mit vermeintlichen Schandtaten der Vergangenheit. Auch Odin, der oberste Göttervater, bleibt davon nicht verschont und nimmt von Loki folgende Schmähworte entgegen:
Du jedoch, sagt man, schlichest auf Samsö
Umer und klopftest, als Hexe verkleidet,
an den Hausthüren an. Du wandertest zu den Völkern
als Weissage-Bettel, als schlimmes Scheusal
nach meiner Schätzung.
Diese Worte deuten auf die altgermanische Seiðr-Magie hin, die in erster Linie von Frauen praktiziert und zur Zukunftsdeutung angewandt wurde. Seiðr stand in dem Ruf „unmännlich“ zu sein, was wir, in Anbetracht des ethischen Wertesystems der Germanen, durchaus gleichsetzen können mit dem, was in manchen Kulturen der Begriff „links“ ausdrückt. Zentral ist beim Seiðr der Verlust der Kontrolle über den Körper; ein ekstatischer Zustand wird angestrebt, in dem der Kontakt zur Anderswelt hergestellt wird. Die Sagas berichten von verschiedenen Seiðr-Seherinnen und auch ihre Verfolgung wird dort gut dokumentiert. Seiðfrauen und Seiðmänner schienen als kultische Söldner zu agieren, sie standen in dem Ruf, Hagel- und Schadenszauber zu verbreiten. Interessanterweise sind das die gleichen Vorwürfe, die man noch heute den Böns vorwirft und die ihr berühmtester Vertreter, der Yogi Milarepa, in seiner Jugend auch intensiv praktizierte. Ähnlich wie in den buddhistischen Strömungen, in denen sich zahlreiche schamanische Elemente aus der Vorzeit eingebunden haben, so mag auch der Seiðr eine Praxis sein, die vor dem Einfall der indoeuropäischen Asen gemeingültig war. Wir stoßen hier erneut auf das bekannte Prinzip: Der Seiðr gehört zu den Wanen, den Erdgöttern, den chthonischen Kräften, während es die Asen in den Himmel, nach Asgard, zieht. Auch hier lässt sich die Trennung vollziehen, wenn die beiden Kräfte in der Mythologie auch ihren Frieden miteinander schließen und sich gegenseitig achten und respektieren.
Ein oft genanntes Werkzeug auf dem Weg des Linkshändigen Pfades ist die Feuerschlangenmeditation: Kundalini-Yoga. Als Kundalini wird die Feuerschlange bezeichnet, die im Körper des Menschen schlummert und durch die nach ihr benannten Meditation erweckt werden soll: Sie ruht im Schoß und wenn sie sich durch die Kraft der tantrischen Übungen erhebt und durch die Chakren aufzusteigen beginnt, öffnet sie das dritte Auge. Die Symbolik der Schlange ist in diesem Zusammenhang ungemein interessant, ist sie doch ebenfalls im Christentum das Symbol für das Unreine und Böse (also für das „Linke“) schlechthin. Es ist daher nicht überraschend, dass viele buddhistische Strömungen das Konzept der Kundalini und auch Kundalini-Yoga ablehnen und es als gefährlich einstufen.
Im Buddhismus gibt es die Strömung des Bön-Po, die buddhistische Elemente mit weitaus älteren Praktiken und Ansichten der schamanischen Bön-Tradition vereint. Vertreter dieser Strömung bewegen sich abseits der gängigen religiösen Hierarchie und sind zumeist Einzelgänger, Eremiten und gemiedene Sonderlinge. Der moderne Buddhismus hüllt gern den Mantel des Schweigens über den Bön-Kult, er wird als Relikt einer alten und primitiven Zeit angesehen, ausgestattet mit Aberglaube und primitiven Ritualen. Dass sich dieses buddhistische Schamanentum jedoch durch die Jahrhunderte behaupten konnte, spricht für sich selbst. Eine Fundgrube für Informationen über den Bön-Kult stellt das umfangreiche literarische Vermächtnis der Alexandra David-Néel dar, die von zahlreichen Begegnungen mit Anhängern der alten schamanischen Tradition berichtet. Alexandra David-Néel (1868 - 1969) studierte in Paris Orientalistik und verbrachte mehr als drei Jahrzehnte ihres Lebens in Asien. Zumeist lebte sie in Tibet, studierte die buddhistischen Traditionen und verbrachte hier unter anderem ein Jahr in einer selbstgebauten Einsiedelei auf viertausend Metern Höhe. Sie wurde als erste Europäerin in den Stand eines Lamas berufen und verfasste eine Vielzahl von Büchern über ihr angesammeltes Wissen. In ihrem Buch „Liebeszauber und Schwarze Magie“ berichtet sie über eine Gruppe von Schwarzmagiern, die hinter buddhistischen Klostermauern am „ewigen Leben“ arbeiten und dabei auch nicht vor Menschenopfern zurückschrecken. Das Buch ist in Romanform geschrieben, doch betont David-Neel, dass die Informationen und Inhalte auf wahren Begebenheiten beruhen, die ihr verschiedene Eingeweihte des Bön-Kultes mitgeteilt haben. Beschrieben wird dort unter anderem ein Ritus, bei dem ein Elixier hergestellt werden soll, welches den Anhängern des Bön-Kultes ewiges Leben schenkt. Das Opfer wird lebend in eine Grube geworfen, die mit einer Steinplatte abgedeckt ist:
Eine Steinkonstruktion in Form eines großen viereckigen Tisches nahm fast die ganze Höhle ein und ließ nur einen sehr schmalen Gang ringsum. Die Deckplatte dieses Tisches war ganz aus Eisen und von mehreren großen Löchern durchbrochen. Es konnte ein kunstloser, dem Berggenius oder irgendeinem Dämon geweihter Altar sein. Der Bön führte verschiedene Gebärden aus. Er ließ sein Gewand fallen und erschien nackt; ein Skelett, wie sein Gesicht mit einer dünnen, über die Knochen gespannten Haut bedeckt. Von einem Felsvorsprung nahm er einen kleinen runden hohlen Löffel, der mit einem langen Stiel versehen war, tauchte diesen dann in eines der offenen Löcher der Tischplatte und schien etwas zu schöpfen. Er wiederholte dies mehrmals, indem er den Gehalt des Löffels jeweils über verschiedene Teile seines Körpers goss und ihn dann einrieb. Währenddessen hörte sein gedämpfter Singsang nicht auf. (…)
‚Dies ist der wahre Trank der Unsterblichkeit‘, brachte er lehrhaft hervor. ‚Die Lebenskraft junger und kräftiger Männer ist darin aufgelöst. Für jeden anderen als einen Eingeweihten ist dieser Trank tödlich; für den auf seine Aufnahme vorbereiteten Eingeweihten wird er zur Quelle unvergänglicher Kraft. Schätzt Euch glücklich, mein Sohn, dass Ihr zum Unterhalt dieser Quelle habt beitragen können, die die oberen Meister zu wahren Göttern machen wird.‘2
Der Bön-Meister spricht hier zu seinem Opfer unterhalb des Altars, der, in der Grube eingeschlossen, bei lebendigem Leibe zwischen den Überresten seiner Vorgänger verwest und aus dessen Verwesungsdämpfen der Unsterblichkeitstrunk gebraut wird.
Der eben zitierte Passus soll nun keineswegs als symptomatisch für Praktiken des linkshändigen Pfades stehen; er soll lediglich verdeutlichen, dass der Vama Marg eben nicht nur eine Philosophie der Autonomie und Individuation darstellt, sondern sich mitunter tatsächlich in jene Gefilde begibt, die wir als unethisch betrachten. Wir müssen uns dabei vor Augen halten, dass der eigentlich relevante Part der zitierten Passage die Bindung an die Erde und an das Fleisch ist, und nicht der Weg, den wohl auch die meisten der heutigen Bön-Schamanen als unethisch betrachten würden. Über die Ngagpas berichtet David-Néel folgendermaßen:
Die Ngagpas, die „Leute der geheimen Worte“, sind Zauberer. Sie haben das Erbe der Bön-Schamanen angetreten, die, ehe der Buddhismus nach Tibet kam, dort als Priester herrschten. Der von den Hindusendboten seit dem 8. Jahrhundert in Tibet gepredigte Buddhismus war bereits weit von der Lehre des Buddha entfernt; er hatte dem Tantrismus allerlei abergläubische Bräuche entlehnt. Diese waren den Grundlehren der tibetischen Bön-Schamanen so ähnlich, dass einer teilweisen Verschmelzung der neuen und der alten Religion keine unüberwindlichen Hindernisse im Weg standen. So kommt es denn, dass unter dem Namen Ngagpas richtige Schamanen zur lamaistischen Geistlichkeit gehören, wenn auch „uneigentlich“. Ihre Aufgabe ist der Verkehr mit den Geistern. Dieser dienen sie auf verschiedene Weise, die einen zu unabhängigen Gruppen zusammengeschlossen, die sich zu bestimmten Zeiten in eigenen Tempeln vereinigen, im Übrigen aber bei ihrer Familie leben (sie dürfen heiraten), andere stehen ganz für sich und üben die von einem Meister ihrer Sekte erlernten Zauberkünste zu ihrem eigenen Nutzen aus oder, häufiger, gegen Vergütung, wenn Leute ein durch Geister erzeugtes Unheil von sich ablenken oder einen Mitmenschen auf solchem Wege schädigen wollen. Es gibt jedoch noch eine dritte Art. Einige große lamaistische Klöster der Gelbmützensekte, wie Labrang, haben sich außerhalb der Mauern eine Gruppe Ngagpas angegliedert, die als Stellvertreter der Mönche den Verkehr mit den bösen Geistern aufrechterhalten. Die Gelbmützen selbst dürfen den Geistern nicht die Ehre erweisen, nach der diese begierig sind, oder ihnen die Nahrung bieten, die sie fordern. Das tun die Ngagpas für sie gegen Entlohnung. Der Zaubertempel, den ich besichtigte, war geräumig und sehr gut erhalten. Die Fresken an den Wänden zeigten grausig-malerische Darstellungen, die man an all den „schrecklichen Gottheiten“ gewidmeten Orten findet. Die „schrecklichen Gottheiten“ sind in der Mehrzahl bekehrte oder mit Gewalt unterworfene böse Geister, die ein Zauberheiliger zwang, ihre Kraft der Verteidigung der lamaistischen Religion und ihrer Gläubigen zu widmen. Um die geheimnisvollen Götterfiguren herum hatte der Maler eine ganze Höllenwelt aufgebaut; scheußliche Teufel und Teufelinnen zogen unglückseligen Menschen die Haut ab, fraßen ihnen das Herz aus dem Leibe und was dergleichen schauerliche Beschäftigungen mehr sind. Die Tibeter sind übrigens gegen solche Bilder abgestumpft; es gibt sie in ihrem Lande in Unmassen und bis auf die Gelehrten, die ihre sinnbildliche Bedeutung kennen, schenkt ihnen niemand Beachtung.3
Alexandra David-Néel schließt ihre Ausführungen mit einer Bemerkung, die wir bedenkenlos auf heutige westliche Anhänger des Linken Pfades übernehmen können:
Die Ngagpas, in deren Tätigkeitsbereich auch die „schwarze Magie“ gehört, sind oft liebenswürdige Leute. Den Dünkel, den die Zauberkundigen aus der eigentlichen Geistlichkeit gern zur Schau tragen, kennen sie meist nicht, wahrscheinlich, weil sie eine niedrigere Stellung in der geistlichen Rangordnung einnehmen. Ich habe aber auch einige getroffen, die sich selbst und alles andere auf der Welt grundsätzlich nicht allzu ernst nehmen.4
Ein moderner Vertreter des linkshändigen Pfades ist der große britische Künstler und Visionär Austin Osman Spare (1886 – 1956), dessen Leben und Werk grenzüberschreitend und in jeder Hinsicht ein dramatisch-ekstatisches Bekenntnis an das Fleisch und die Erde darstellt. Seine kryptischen Schriften und mystischallegorischen Bilder wurzeln in einem von ihm erschaffenen Glaubenssystem, welches zuweilen mehr oder weniger treffend als Freistilschamanismus bezeichnet wird. Spare entwickelte aus dem klassischen Yoga heraus einige Ekstase- und Trancetechniken, die den psychischen Zensor des Menschen ausschalten sollen um die wahre und unbändige Kraft des Menschen zu entfesseln. Nach Spare lauert diese im Unbewussten und kann daher nur durch das Ausschalten des Bewusstseins aktiviert werden. Alle tatsächliche Macht schlummert in der Nachtseite und wird vom Bewusstsein und der alltäglichen Wirklichkeit lahm gelegt. Auch das Wissen darüber muss aus dem Wachzustand verschwinden, da das bewusste Wünschen jegliche Manifestation des Wünschens selbst verhindert. Es sind die vergessenen Träume, die zu Fleisch werden, nicht die Wünsche.
Tot ist mein Bestreben
Allzu früh verstorben,
Und mit ihm die Fürsorge der Liebe
Und das Juwel im Lotus
Die Zukunft hält nichts für mich bereit
Außer Sünde und Tod,
Abgeschnitten bin ich selbst
Von den von mir geschaffenen FREUDEN,
Nur die Einöde des Lebens verbleibt,
Doch in der Verzweiflung
Sehen wir das wahre Licht,
Und in der Schwäche werden wir stark.
AMEN.5
(Austin Osman Spare – Inferno Erde)
Spares ist ein Rausch- und Ekstasekünstler wie er in der Geschichte der westlichen Esoterik nur selten anzutreffen ist. Seine skurrile Persönlichkeit und seine konsequente Verachtung für die Gesellschaft lassen ihn den tibetischen Bön-Einsiedlern ebenbürtig werden: Ein moderner Eremit des Linkshändigen Pfades.
Oh Selbst, mein Gott! Fern ist Dein Name außer in der Blasphemie, denn ich bin Dein Ikonoklast. Dein Brot speie ich in die Fluten, denn ich selbst bin mir Fleisch genug. Verborgen im Labyrinth des Alphabets ist mein geheiligter Name, die SIGIL aller unbekannten Dinge. Auf Erden ist mein Königreich die Ewigkeit des Wünschens. Mein Wunsch inkarniert im Glauben und wird zu Fleisch, denn – ICH BIN DIE LEBENDE WAHRHEIT. Der Himmel ist Ekstase, die Verwandlung und Vereinigung meines Bewusstseins. Möge ich die Kraft haben, aus meiner eigenen Überfülle zu schöpfen. Lass mich Rechtschaffenheit vergessen. Befreie mich von Moral. Führe mich in die Versuchung meiner selbst, denn ich bin ein schwankendes Königreich aus Gut und Böse. Möge ich Reichtum durch alle Dinge erlangen, derer ich mich erfreute. Sei meiner Übertretung würdig. Gib mir den Tod meiner Seele. Berausche mich mit Selbstliebe. Lehre mich die Bewahrung ihrer Freiheit, denn Hölle bin ich zu genüge selbst. Lass mich gegen alle kleinlichen Bekenntnisse sündigen6
Diese Beispiele mögen nun genügen um einen Eindruck von der Natur des linken Pfades zu vermitteln. In Anbetracht der Materialfülle mag der Leser verzeihen, dass die Thematik des jeweiligen Kulturkreises nur angeschnitten wurde. Wer tiefer aus den Wassern des linken Pfades schöpfen möchte, der wird sich zweifellos zu helfen wissen. Denn der Linke Pfad ist für diejenigen, die gefunden haben, nicht für die, die suchen.
O siehe an dir mein beschwerliches Los,
Du, der du atmend aufsuchst hier die Toten!
Ist sonst wohl eine Strafe noch so groß?
– Dante Alighieri, Die (göttliche) Komödie –