Читать книгу Cacatum non est pictum - Askson Vargard - Страница 4
II. Sonntag
ОглавлениеEs ist Sonntag. Ja richtig gelesen – es ist Sonntag. Auch wenn der liebe Herrgott diesen Tag der geistigen und körperlichen Regeneration gewidmet hat, so gibt es doch jenes Individuum, welches ihn nicht so recht gehorchen mag. Die Türen der Bankfiliale bleiben heute zwar geschlossen und ebenso klingelt der Wecker nicht um 6:30 Uhr mit einem penetranten Ton, der krächzt als ob ein Vogel stirbt, doch gedanklich trägt er im Kopfe die Wortgruppe mit sich herum, die ihm den ganzen Tag versalzt und welche er nicht müde wird, immer und immer wieder kund zu tun: „Ich habe keine Lust auf morgen!“ Es ist nicht so zu verstehen, dass unser junger dynamischer Freund ein Alleinstellungsmerkmal in Anspruch nehmen möchte, allerdings ist er mental sehr auf die bevorstehende Arbeitswoche geeicht mit seinen Terminen und unerwarteten Kundengesprächen, sodass er vor seinem geistigen Auge am Frühstückstisch nicht einmal seine Frau wahrnimmt, sondern statt ihr seine Kollegen, die allesamt Macken vorweisen, die der Beruf per se mit sich bringt.
Da wäre zum Beispiel der Jüngste im Bunde. Er ist Praktikant und soll in absehbarer Zeit die Hierarchieleiter zum Auszubildenden erklimmen. Zu allem Überfluss ist unser Hauptcharakter sein späterer Ausbilder. Anstatt das Leben zu genießen, hebt der Praktikant sein Ego lieber mit 45 Stunden Arbeit zuzüglich einer fast zu vernachlässigenden Arbeitsstrecke von anderthalb Stunden pro Weg. Neben dem Stolz, den er von seiner Familie mit morgenländischem Immigrationshintergrund erhofft, bleibt als zusätzlicher Anreiz die Vergütung von 600 Euro pro Monat im ersten Lehrjahr. Ohne Zweifel sein bester Verdienst bis hierhin, wenn es soweit ist. Im Moment ist er, wie erwähnt, jedoch Praktikant und bekommt daher eine Aufwandsentschädigung von 100 Euro Fahrtkosten pro Monat gezahlt.
Der nächste Mitarbeiter kann eher als Gegenarbeiter bezeichnet werden. Ein Quereinsteiger, der alle Hoffnung auf ein glückliches Berufsleben seit seiner Geburt in den Wind geschrieben hat. Er ist das schwarze Schaf dieser berufsbedingten Familie. Kleine und große Herausforderungen meistert er mit dem Können den Anschein zu erwecken, dass die Arbeit getan ist, was zum Teil sogar stimmt, solange die Hälfte als Ganzes gilt. In Wirklichkeit schlummert sie und tritt zu einem späteren Zeitpunkt mächtiger zu Tage, als sie es täte, wenn die Aufgaben von Beginn an ignoriert würden. Er hat den Traum, mit der geringstmöglichen Verantwortung das meiste Geld zu erhalten. Nebenbei erzählt er gerne von seinem Wunsch des künstlerischen Musikerlebens als Freigeist, kurz als jemand, der die Fäden des Lebens als Einziger im Licht schimmern sieht, um sie zu deuten.
Der älteste Mitarbeiter ist gleichzeitig der entspannteste Vertreter. Diese Aussage wird nicht ausschließlich auf seine dauergebräunte Haut bezogen, sondern auch auf sein Gemüt, welches im Kopfkino täglich den Film der Altersruhe ablaufen lässt. Sein Ruhepol ist der jährliche Urlaub in einschlägig bekannten asiatischen Ländereien, die einzig für den Typus des alleinstehenden Mannes geschaffen sind. Sein Charme der vergangenen Jahrzehnte ist nicht nur ungebrochen, sondern hochkonzentriert und jederzeit bereit, einen neuen Angriff auf das junge Fleisch zu wagen. Oft dreht er sich dabei im Kreis, wie bei seinen Erzählungen, die bei jedermann hinlänglich bekannt sind.
Jede Raupe braucht ihren Kopf. Drei Glieder haben wir bereits kennen gelernt, doch wie ist es um das Gehirn, die Schaltzentrale, bestellt? Um einen treffenden Vergleich in der Natur zu finden, muss nicht lange gesucht werden, denn er ist der personifizierte Vulkan mit Schlafstörung. Im Gegensatz zu den meisten seiner Verwandten ist er noch aktiv und lehnt sich gegen Stürme, Sonnenschein und Frauen am Steuer auf. Gemäß der überholten Viersäftelehre wäre er quittegelb überzogen von seiner eigenen Gallenflüssigkeit. Freilich ist dies eine übertriebene Darstellung, aber wer die feurig starren Augen hinter der Klatschpresse des heutigen Sportteils herausfunkeln sieht, behauptet, es sei maßlose Untertreibung.
Natürlich sieht unser Protagonist sich in Vorerwartung auch selbst in diesem Farbmosaik der Charaktere. Er hat knapp die Ausbildung zum Bankkaufmann bestanden und wechselte im Zuge eines Wohnwechsels die Bank gleich mit. Er ist einer der wenigen Menschen, die keinerlei Schwächen erkennen lassen. Sein Blick ist unermüdlich gen Feierabend gerichtet, während er sanfte Unebenheiten gekonnt ignoriert. Wir können hier, ohne großartige Umschweife vorzunehmen, von dem perfekten Menschen sprechen.
Minute um Minute vergehen, in denen er in Gedanken bei diesen bekannten Übeln verweilt und wesentlich länger noch bei den unbekannten. Optimismus scheint hier fehl am Platz zu sein, denn dieser wurde ihm in einem langwierigen Prozess während der Ausbildung abtrainiert. Der junge Mann versinkt in tiefschwarze Melancholie, während er die untergehende Sonne des sterbenden Wochenendes bedauert und seine Partnerin die immer selbe, schon dutzend Male verdaute, Wortgruppe zu hören bekommt: „Ich habe keine Lust“. Jeder von uns hat diesen Satz in zig Variationen bereits ausgesprochen. Wahrscheinlich müssen wir davon ausgehen, dass er als einleitender Zauberspruch des Hexeneinmaleins fungiert, um die baldige Arbeit zu bannen. Diese Tätigkeit ist beständig wie die damit einhergehende Erfolgslosigkeit, leider. Wissenschaftlich gilt es als erwiesen, dass bei derlei Aussprüchen einzig der kognitive Bereich des Wesens arbeitet, der aufbegehrende Revoluzzer liegt ohnehin seit ewigen Zeiten begraben. Im Traum fühlt unser junger Bankkaufmann letztmalig die Illusion der Freiheit, bevor die Fesseln um Glieder und Hals geschnürt werden, die er unglaublicherweise sogar eigens anlegt und Arbeitskleidung nennt.