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Kapitel 1

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Gerade dachte ich noch, es ist schön, dieses Leben.

Es hat mir einiges geboten und ich habe es in vollen Zügen genossen. Und dann … Dann kommt alles anders.

Es war, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. Mir wird schlecht und alles beginnt sich zu drehen. Ich versuche mich zu fangen, irgendwo festzuhalten, aber es nützt nichts, der Strudel zieht mich in die Tiefe und ich lande hart auf dem Küchenfußboden. Sendepause. Alles schwarz.

Als ich wieder zu mir komme, höre ich zuerst die Stimme meiner Tochter Ines, die aufgeregt auf den Sanitäter einredet, der gerade meinen Blutdruck misst.

„Es ist alles in Ordnung, nur ein kleiner Schwächeanfall. Unkraut vergeht nicht!“

Danke, das wollte ich hören. Fast muss ich grinsen. Was war passiert?

Ich schlage die Augen auf und Blicke in das Gesicht eines äußerst attraktiven, jungen Mannes, der gerade die Manschette des Blutdruckmessgerätes von meinem Arm entfernt.

„Hallo Frau Klein.“, grüßt mich der Alleinunterhalter in der roten Hose. „Sind Sie wieder unter uns? Und? War noch nicht an der Zeit, was?“

Sieht wohl ganz so aus.

„Schauen Sie, hier ist ihre Tochter.“

„Hallo Mama, wie geht es dir.“, fragt Ines kleinlaut.

„Super!“, antworte ich annähernd wahrheitsgemäß und versuche mich vom Küchenboden hoch zu rappeln.

„Was ist passiert?“, will ich wissen.

„Ein kleiner Schwächeanfall. In Ihrem Alter nichts Besonderes.“

„Danke, junger Mann, das wollte ich hören.“, entgegne ich spitz. Aber, er hat ja recht. Er hilft mir auf und ich nehme auf einem meiner Küchenstühle Platz.

Ines stellt mir beflissen ein Glas Kranwasser hin.

„Kind, ich hasse diese Plürre. Im Kühlschrank ist Mineralwasser. Bitte?!“

Ines verdreht genervt die Augen, schüttet das Wasser in die Grünlilie auf der Fensterbank und holt das Mineralwasser aus dem Kühlschrank.

„Bitte!“ Sie stellt die Flasche auf den Tisch und ich entdecke dieses vermaledeite Erpresserschreiben, dass ich kurz zuvor aus dem Briefkasten geholt hatte.

Wenn du deine Tochter nochmal lebend wiedersehen willst, musst du eine alte Schuld begleichen. Den Anfang kannst du mit 150.000 Euro in bar machen. Ort und Zeitpunkt der Übergabe wirst du noch früh genug erfahren.

Der Text ist aus bunten Zeitungsausschnitten zusammengesetzt. Der Klassiker.

Es klingelt an der Tür. Ines hat die Polizei gerufen, schließlich wird ihre Mutter erpresst. Die Polizisten kommen in die Küche und stellen sich als Hansen und Wolf vor.

„Guten Tag. Wo ist die Leiche?“

Wieso Leiche? Ein ganzer Trupp an Spurensicherern stürmt meine Wohnung.

„Ich glaube, mir wird schlecht.“ Wimmere ich vorsichtig und schütte das ganze Glas Mineralwasser in mich hinein. „Etwas Stärkeres wäre jetzt sicherlich besser.“

Ines sieht mich strafend an.

„Ich brauch jetzt einen Cognac! Für Sie auch, junger Mann?“, frage ich an den Sanitäter gerichtet. Er verneint dankend, faselt etwas von Dienst und Alkohol sei ungesund. Dann wanke ich ins Wohnzimmer, vorbei an den vielen Menschen in weißen Overalls. Hinter dem Sessel liegt ein lebloser Körper. Seine Beine ragen hervor. Es schüttelt mich. Ich öffne das Barfach meines Wohnzimmerschrankes und denke nicht lange nach. Mit der Cognacflasche und einem Glas suche ich schnell den Weg zurück in die Küche.

„Wer ist der Tote in meinem Wohnzimmer?“ Ich werfe Ines fragende Blicke zu und schenke mir einen großzügigen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Dann leere ich das Glas in einem Zug und warte gespannt auf eine Antwort.

„Frau Klein, Sie sollten in Ihrem Zustand nicht trinken. Wir müssen erst wieder zu Kräften kommen. Unser Kreislauf ist noch nicht wieder stabil.“

Wir? Wenn er die Leiche in meinem Wohnzimmer meint, dann muss ich ihn enttäuschen. Das wird nichts mehr mit Kreislauf. Der ist hin.

„Mama, du bist unmöglich!“, empört sich meine jüngste Tochter Ines.

Ich fülle noch einmal mein Glas und schütte den Cognac hinunter.

„Nastrovje.“, rutscht es mir heraus. „Wer ist der Kerl auf meinem Teppich? Nehmt ihr den mit oder muss ich den etwa selbst entsorgen?“ So langsam findet der Cognac den Weg in mein Gehirn.

Ines faselt etwas von peinlich und alte Leute, als Dirk Hansen in die Küche kommt. Er muss so Mitte 40 sein. Sein helles Haar ist kurz geschnitten und er hat bereits ausgeprägte Geheimratsecken.

„Nun, Frau Klein, da haben Sie aber ganze Arbeit geleistet. Dem Mann haben Sie ordentlich den Schädel eingeschlagen. Möchten Sie mir vielleicht erzählen, was passiert ist?“

Ich grüble nach und mein Blick trifft wieder auf das Erpresserschreiben auf meinem Küchentisch.

„Schauen Sie hier.“ Ich schiebe Hansen das Zeitungspuzzle rüber. „Meine Tochter Michaela ist seit vorgestern spurlos verschwunden und heute habe ich diesen Brief in der Post.“

Hansen liest.

„Ich habe gleich Ines angerufen. Ich wusste doch nicht, was ich jetzt machen sollte. Meine Tochter hat versprochen, gleich vorbei zu kommen. Sie wollte auch Klaus, meinen Sohn, anrufen und Georg, Michaelas Mann. Ich war gerade am Kochen und wollte mir ein Kotelett braten, als ich den Brief aus meinem Briefkasten geholt habe. Also habe ich den Herd wieder ausgedreht und auf meine Tochter gewartet, als ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer hörte. Vorsichtig schaute ich um die Ecke. Meine große Bodenvase war umgefallen. Ich hatte Angst und nahm die Bratpfanne zu meinem Schutz mit, als ich ins Wohnzimmer ging. Ich rief laut, ob da jemand sei, bekam aber keine Antwort. Ich sah mich um und entdeckte, dass sich der Vorhang von der Balkontüre bewegte. Als ich näher herankam, sah ich unter dem Vorhang zwei Füße. Es müssen Männerfüße gewesen sein. Ich rief noch einmal, doch nichts passierte. Wieder rief ich: kommen Sie da raus! Dann bewegte sich der Vorhang und die Person dahinter brummelte: Dir zeig ich‘s. Da habe ich zugeschlagen.“

„Das sieht zumindest nach Notwehr aus. Frau Klein, ich gehe nicht davon aus, dass bei Ihnen Fluchtgefahr besteht. Sie halten sich aber zu unserer Verfügung und kommen so schnell wie möglich aufs Kommissariat, um eine Aussage zu machen. Die Leiche kommt erst mal in die Gerichtsmedizin.“

„Wissen Sie denn schon, wer der Mann ist?“, frage ich vorsichtig.

„Leider nicht, er hatte keine Papiere dabei.“

Es klingelt an der Haustüre. Ines öffnet und Klaus stürmt herein.

„Mama, um Gottes Willen, was ist denn passiert?“ Ines klärt ihren Bruder mit einer stenografischen Kurzfassung der Geschichte auf.

„Georg hat mich angerufen. Er war total entsetzt. Er meinte, du hättest eine alte Schuld zu begleichen und deswegen sei seine Michaela nun in größter Lebensgefahr? Sag mal spinnen jetzt alle?“

Ich versuche Klaus die Sache zu erklären und zeige ihm das Erpresserschreiben. Er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Mama, was könntest du denn für eine alte Schuld auf dich geladen haben? Fällt dir dazu spontan was ein. Ich meine, das muss ja schon der Hammer sein, wenn man dich damit erpressen kann.“

„Ich habe keine Ahnung.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Nun mischt sich Hansen ein.

„Ihr Sohn hat recht. Was könnte es denn sein, dass jemand einen solchen Hass gegen Sie hegt und Ihre Tochter entführt?“

Ich denke kurz nach.

„Ganz ehrlich? Wenn mich jemand so sehr hassen würde, dann hätte er Ines mitgenommen und nicht Michaela. Wer die im Dunkeln mitnimmt, bringt sie spätestens im Hellen wieder nach Hause.“

„Mama!“

Nun ernte ich von beiden Kindern strafende Blicke.

„Ist doch wahr. Diese Kratzbürste nimmt doch keiner freiwillig mit. Außerdem muss es jemand sein, der weiß, dass ich das Haus verkauft habe. Ich hätte doch sonst gar kein Geld um ein Lösegeld zu bezahlen!“

„Sie meinen also, es muss jemand aus Ihrem Bekanntenkreis sein?“ fragt Hansen interessiert.

„Möglich. Ich weiß es doch auch nicht.“

Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Was kann ich verbrochen haben, dass mir jemand so etwas antut?

„Vielleicht eine späte Rache, wegen den Aktivitäten von Onkel Heini? Oder wegen Frieder Wagner?“

„Mama, was redest du da? Wer sind diese Leute?“, will Ines wissen.

„Ach, die leben bestimmt schon lange nicht mehr. Das sind doch alles alte Geschichten, die heute niemanden mehr interessieren.“

Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese alten Kamellen von Bedeutung sein könnten.

Dirk Hansen steht auf und packt den Erpresserbrief vorsichtig mit Handschuhen in eine Tüte.

„Den nehmen wir mit und untersuchen ihn auf Fingerabdrücke. Und Sie, Frau Klein, überlegen weiter, wer und was dahinterstecken könnte.“

Eine Polizistin nimmt meine Fingerabdrücke und dann leert sich meine Wohnung allmählich. Der Tote wird hinausgetragen, verpackt in einem schwarzen Plastiksack. Meinen Wohnzimmerteppich nehmen sie auch mit. Ich habe einen Mann erschlagen. Wie konnte ich nur? Aber was macht er auch in meiner Wohnung? Ich habe den Mann nicht gesehen, vielleicht hätte ich ihn erkannt. Ach, vielleicht will ich lieber gar nicht wissen, wer er ist.

Während Klaus und Ines klar Schiff machen, lasse ich meine Geburtstagsfeier noch einmal Revue passieren. Schließlich ist Michaela im Laufe des Abends verschwunden.

„Ich hätte einfach wieder eine Kreuzfahrt machen sollen, wie zu meinem 80. Geburtstag. Was für eine schwachsinnige Idee noch einmal ein großes Familienfest zu feiern.“

Michaela war gleich dagegen gewesen. Sie hatte mir davon abgeraten. Wollte nichts wissen von der Verwandtschaft. Sie ließ sich ungern vergleichen, vor allem im Moment, wo es mal wieder nicht gut bei ihr lief.

Ines hingegen war begeistert und sofort bereit, die Organisation zu übernehmen.

„Also, pass auf, das wird der schönste 90. Geburtstag, den du je erlebt hast.“

„Ja, und der Einzige!“ , gab ich zu bedenken.

„Am besten feierst du im Gasthaus zum fröhlichen Lamm. Ich kenne den Wirt. Der bringt dann nur den Kaffee, die Torten und Kuchen können Michaela und ich beisteuern. Dann wird es nicht so teuer.“

Ines platzte vor Begeisterung über ihre Idee.

„Für 15 Uhr planen wir den Kaffee. Danach kann Maximilian-Torben ein paar Ständchen für dich bringen. Er hat schon so lange Gitarrenunterricht, da wird er sich freuen, wenn er sein Können auch mal zeigen darf.“

Ines holte kaum Luft und ich konnte mir, bei aller Liebe, nicht vorstellen, dass mein Enkel Unterhaltungsqualitäten haben sollte. Meinem Sohn Klaus hat ein solches Gen ein Leben lang gefehlt und Maximilian-Torbens Mutter Theodora ist gänzlich temperamentfrei. Doch Ines war nicht zu bremsen.

„Wenn Maximilian-Torben fertig ist, ist es schon fast Zeit für das Abendessen. Da handle ich mit dem Wirt einen Festpreis aus. Kommen natürlich noch die Getränke dazu. Aber der macht mir bestimmt einen guten Preis.“

Also war Ines gleich am nächsten Tag losgezogen und hatte alles im Gasthaus zum Vergesslichen Lamm, oder so, organisiert. Stolz stand sie vor meiner Haustüre und berichtete von den Ergebnissen. Zur Vorspeise sollte es ein Kräutercremesüppchen geben, gefolgt von einem Schreinerostbraten mit Kroketten und Salat. Den Nachtisch vollendete eine Creme Bruelé.

Ich zog Ines in die Wohnung hinein, denn meine Nachbarn hatte das sicherlich nicht interessiert. Sie war so stolz auf sich.

„Und du bist sicher, dass das mit Michaela funktioniert?“, frage ich skeptisch.

„Aber klar, hab alles mit ihr abgesprochen.“

Ich war am Samstag pünktlich im Gasthaus zum geduldigen Lamm eingetroffen. Von der Verwandtschaft fehlte noch jede Spur. Ines war bemüht ein schönes Kuchenbuffet auf die Beine zu stellen, als Michaelas Mann, Georg, eine tiefgefrorene Schwarzwälder-Kirsch-Torte und eine ebenso steifgefrorene Eierlikörtorte im Gasthaus zum weinenden Lamm abgab. Aus den Jackentaschen zog er noch jeweils einen Marmor- und einen Sandkuchen vom Discounter, die er original verpackt auf dem Buffet platzierte. Ich konnte Ines Gesichtsfarbe gut erkennen, die immer mehr zu leuchten schien. Aufgeregt rief sie ihre Schwester an, während sie versuchte, wenigstens die Verpackungen vom Kuchen zu entfernen. Ihr Handy lag auf Freisprechen geschaltet zwischen den kulinarischen Katastrophen und ich konnte ihr Gespräch mit anhören. Michaela schien ebenfalls auf Freisprechen geklickt zu haben, denn es gab beim Sprechen ein unschönes Echo.

„Bist du wahnsinnig? (du wahnsinnig?). Was soll ich denn mit den tiefgefrorenen Torten? (den tiefgefrorenen Torten?)“

„Tut mir leid, ich kann dich nicht hören. Blondiere gerade die Haare.“

„Das ist typisch. (typisch). Bald hast du keine mehr. (eine mehr).“

Ines war sauer.

„Das habe ich verstanden!“

„Super! (per!)“ Ines legte erbost auf.

Ich konnte Michaela in Gedanken vor mir sehen. Wie sie in alten Leggins und Schlabbershirt die Blondiercreme aufgetragen hatte und dann Alufolie um den Kopf wickelte um die Wirkung des chemischen Brandbeschleunigers auf ihren Haaren zu erhöhen.

„Ist das nicht unglaublich!“, zischte Ines. „Jetzt färbt die noch ihre Haare.“

Mich wunderte schon lange nichts mehr. Vielleicht ist es auch die Gnade des Alters, dass man manche Dinge lockerer nimmt.

Ich hatte meinen Ehrenplatz am Kopf der langen Tafel eingenommen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

So nach und nach trafen die Gäste ein.

Klaus war mit seiner ganzen angeheirateten Verwandtschaft im VW-Bus angereist. Im Gepäck seine zwei Kinder, Mathilda-Lara und Maximilian-Torben samt Gitarre, seine Schwiegereltern und seine Frau Theodora, eingehüllt in eine knallblaue Federboa.

Ines hatte die gesamte Sippe angeschleppt. Dazu gehören ihre Kinder aus erster Ehe, Martina und Daniel und die neu angeheiratete Verwandtschaft samt Schwager, Schwägerin, Neffen und Nichten. Nicht zu vergessen, ihr neuer Ehegatte, Clemént mit Sohn Maxím, der auf die französische Aussprache seines Namens äußersten Wert legt, da er in Frankreich geboren ist.

Dann kamen die Kinder meines verstorbenen Bruders aus Dortmund, Rolf und Lieselotte. Außerdem eine Großcousine aus dem Siegerland mit ihrer Tochter. Die beiden waren froh, ein Zimmer im Gasthaus zum freundlichen Lamm zu haben. So mussten sie nicht mehr mit dem Auto fahren und konnten beherzt zum Alkohol greifen. Beate und Christina, Michaelas Kinder aus erster Ehe, trafen ebenfalls ein. Last but noch least erreichten auch noch meine zwei Cousinen aus dem Sauerland das Gasthaus zum tapferen Lamm. Nun waren die Gäste fast vollzählig. Bis auf Michaela und Georg.

Ich mache keinen großen Hehl daraus, dass ich nichts Anderes erwartet hatte. Die beiden müssen immer ihren großen Auftritt haben und wenn er nur daraus besteht, als Letzter zu kommen.

Michaela rauschte mit wasserstoffblondem Glanz auf mich zu, während Georg ihr hinterhereilte und hektisch an seinem Hinterteil zupfte.

„Diese beschissene Hose kneift wie verrückt.“, zischte Georg.

„Diese beschissene Hose kann gar nicht kneifen. Das war ein Schnäppchen von Boss. Jetzt krieg dich mal wieder ein.“, hauchte Michaela zurück.

„Und ob die das kann!“, widersprach Georg gequält.

„Ich freue mich auch, euch zu sehen.“, warf ich belustigt dazwischen. Die beiden konnten einem schon auf den Wecker gehen. „Schön, dass Ihr da seid. Greift zu und bedient euch an den Eistorten.“

Zutiefst beleidigt sah sich Michaela im Raum um und flüsterte mir zu „Gut, dass du nicht auch noch Hartmut eingeladen hast.“ Sie verdrehte die Augen und nahm mit Georg neben ihren Kindern Platz.

Ich muss zugeben, es hatte mich durchaus gereizt, den geschiedenen Gatten meiner Tochter einzuladen. Ich habe mich immer gut mit ihm verstanden und er ist mir bis heute lieber, als dieser Georg. Während andere Leute Münzen sammeln, sammelt Georg rote Zahlen.

Endlich war es soweit. Die Kaffeerunde hatte sich mit Ines Torten und Kuchen vollgestopft und war bis an den Kragen mit Kaffee abgefüllt. Zeit für Maximilian-Torbens großen Auftritt. Ich applaudierte stürmisch, als er mit seiner Gitarre die kleine Bühne betrat. Er eröffnete sein Intermezzo mit der „Fahrt nach Madagaskar“.

„…. und hatten die Pest an Bord. In den Kesseln da faulte das Wasser und täglich ging einer über Bord.“

Ich hatte laut mitgesungen und überlegte, ob es kein böses Omen für den Abend sein konnte.

Der picklige, 14-jährige Maximilian-Torben ließ sich unterdessen nicht von seinem Vorhaben abbringen, mir einen ganz besonderen Geburtstag zu bereiten. Maximilian-Torben gab sich die allergrößte Mühe, alle Lieder der Mundorgel wieder zu geben, die ich vielleicht kennen konnte.

Ich beobachtete meine Gäste und kam zu dem Ergebnis, dass sie durchaus leidensfähig waren.

„Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andern kalt. Die ganze Affenbande brüllt: Wer hat die Kokosnuss …“

Ich griff zum Papiertaschentuch und hielt es mir vor Mund und Nase. Ich konnte nicht mehr vor Lachen, die Tränen liefen mir übers Gesicht.

Maximilian-Torben aber hatte Ausdauer, das musste man dem Jungen lassen. Was er sich einmal vorgenommen hatte, das zog er auch durch bis zum bitteren Ende. Ganz wie sein Vater.

Und endlich kam der zart besaitete Junge mit Bürstenschnitt und dem Äußeren eines Einzelkämpfers zum Grande Finale. Endlich kam das Geburtstagslied. Maximilian-Torben forderte die Gäste auf mitzusingen und zog alle fünf Strophen des Liedes durch.

Als die Marter durch meinen Enkel schließlich ein Ende fand, konnte keiner der Gäste schnell genug zu einem Glas Hochprozentigem kommen.

Michaela scheute sich nicht, ihre Ellenbogen beim Kampf um den ersten Platz an der Theke einzusetzen. Georg blieb bei seinen Stieftöchtern sitzen und bot den Anblick des interessierten Stiefvaters.

Ich arbeitete mich unterdessen durch die gesamte noch lebende Verwandtschaft und hielt Smalltalk. Natürlich gab es viel zu erzählen, wir hatten uns zum Teil seit Jahrzenten nicht mehr gesehen.

Michaela war damit beschäftigt, was sie im Allgemeinen am besten beherrscht. Sie prahlte was das Zeug hält. Verkaufte ihren Georg als leitenden Angestellten in der Dienstleistungsbranche, dabei hatte er lediglich versucht, Versicherungen zu verkaufen. Doch offensichtlich war sie bei Rolf an den Falschen geraten. Ich bekam nur Wortfetzen von der Unterhaltung mit.

„Ich versuche mich gerade beruflich zu verändern. Ich möchte wieder mehr in die kreative Richtung gehen und weniger kaufmännische Dinge machen.“

Die Sache mit der kreativen Richtung hatte ich nicht ganz verstanden und sah meine Tochter fragend an. Sie wich meinem Blick aus und konzentrierte sich wieder ganz auf Cousin Rolf.

„Und was machst du so? Bist du auch im Baugeschäft, wie dein Vater?“

Ich musste ein paarmal schlucken. Michaela wusste ganz genau, dass die Firma pleite war. Mein Bruder war mit Pauken und Trompeten in den Konkurs geschliddert. Ich sah, wie Rolfs Geschichtsfarbe sich änderte. Er rückte ein Stück näher an Michaela heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich weiß nicht was es war, aber Michaela war danach sichtlich nervös. Sie schickte mir böse Blicke zu und sah mich fragend an. Ich hätte sie gerne am nächsten Tag darauf angesprochen. Ich hätte gerne gewusst, um was es bei der Unterhaltung ging.

Danach habe ich mich wieder meinen Gästen gewidmet und meiner Tochter dabei zugesehen, wie sie sich betrunken hat. Und dann war sie einfach weg. Ohne einen Gruß, ohne sich zu verabschieden. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Sowas macht man doch nicht.

Klaus hat mich später nach Hause gefahren. Es war so ein schöner Abend gewesen.

Ich kann keinen Grund finden, warum man Michaela entführen sollte. Niemand, der auf der Feier war, kommt für mich in Betracht, meine Tochter entführt zu haben.

Klaus kommt herein. Ines ist gerade dabei, die letzten Blutspuren vom Parkett aufzuwischen.

„Na Killer Lady. Wer muss denn morgen dran glauben?“

„Lass die Witze mein Junge, das ist auch für mich der erste Mord. Oh, ich fühle mich so schlecht. Und jetzt wissen wir nicht einmal, wer er ist.“

Klaus wiegelt ab. „Was hat dieser Kerl auch in deiner Wohnung zu suchen? Du bist eine alte Frau. Hättest du dich überfallen lassen sollen? Du hast genau richtig gehandelt. Der Typ wäre hinterm Vorhang hervorgesprungen und hätte dir was über die Rübe gezogen. Und dann? Dann wärst du jetzt mausetot. Ne ne ne, so ist das schon gut, so wie es ist.“

Klaus war noch nie ein Dichter oder Denker. Aber sicherlich hat er recht. Ich habe mich nur verteidigt. Doch in dem Moment war ich mir gar nicht bewusst, dass ich so feste zugeschlagen habe. Sicherlich hätte es einen Menschen bewusstlos werden lassen. Aber tot? Ich habe mit meinen eigenen Händen einem Menschen den Schädel eingeschlagen. Es hat sich angehört, als wenn jemand einen Gong schlägt. Nur das Geräusch der Bratpfanne war zu hören gewesen. Mir fiel mein Kottelet wieder ein. Ich hatte ja noch gar nichts gegessen.

„Habt ihr Hunger?“ Die beiden nicken einstimmig. „Dann mach ich uns schnell ein paar Rühreier.“ Ich krame im Schrank nach meiner Pfanne.

„Mama, suchst du was?“ Klaus springt mir helfend zur Seite. „Ja, ich such meine Bratpfanne.“

„Na, die hat jetzt wohl die Polizei. Nimm eine andere.“

Ines deckt den Tisch und wenige Minuten später sitzen wir zusammen und essen. Es ist noch ungewohnt in der neuen Küche zu kochen. Erst vor wenigen Wochen bin ich hier eingezogen, habe das große Haus verkauft und mich fast vollständig neu eingerichtet.

„Okay. Nun müssen wir aber ernsthaft überlegen, was der Erpresser meint, wenn er von einer alten Schuld spricht.“

Klaus schiebt sich noch eine Gabel Rührei in den Mund und spricht kauend weiter.

„Hast du denn gar keine Idee, was es sein könnte, Mama? Du hast doch eben was erzählt von einem Onkel Heini und einem Frieder. Was hat es mit den beiden auf sich?“

„Och Klaus, das ist eine sehr lange Geschichte. Das willst du dir nicht antun und dir die anhören.“

Lange ist es her, dass ich an diese alten Zeiten gedacht habe. An meine Eltern und all das, was damals passiert ist.

Die Schuldfrage

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