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Kapitel 2

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Gerade bin ich mit Klaus von der Kripo zurückgekommen und habe meine Aussage gemacht. Es war bei weitem nicht so spannend, wie damals bei Scottland Yard. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nun lässt mir keine Ruhe, was Rolf zu Michaela gesagt hat an meinem Geburtstag. Vielleicht gibt es wirklich einen Zusammenhang mit ihrem Verschwinden. Also ruf ich ihn an. Rolf ist ein wenig genervt, hatte er doch bereits einen Anruf von der Polizei.

„Tante Hannelore, es tut mir wirklich leid. Ich habe mich so von ihr zur Weißglut treiben lassen, dass ich ihr das Gerücht von ihrem falschen Vater erzählt habe.“

„Was? Was denn für ein Gerücht?“

„Opa hat es meinem Vater erzählt. Es ging darum, dass dein Mann eventuell nicht Michaelas Vater ist.“

Rolf war hörbar erleichtert, als es raus war.

„Tante, es tut mir wirklich leid. Ich habe sie einfach nur ärgern wollen.“

Ich hole tief Luft und stelle fest, dass ich doch einiges vergessen habe oder verdrängt.

„Danke Rolf. Sonst hast du über nichts mit ihr gesprochen?“

Rolf versichert mir, dass er nur aus Wut so reagiert hat. Ich kann ihn gut verstehen. Michaela hat manchmal eine Art, die kann nicht jeder gut vertragen.

Klaus hat das Gespräch belauscht und besteht nun darauf, dass ich ihm alles aus meiner Vergangenheit erzähle.

„Oh Mann, Klaus.“, bettele ich. „Wo soll ich denn da anfangen. Bei der Henne oder bei dem Ei?“

Klaus kennt keine Gnade.

„Fang am Anfang an.“

Ich ziere mich und versuche ihn zu überreden, das Ganze gewaltig abzukürzen.

„Du siehst doch selbst, dass du was vergessen hast. Fang lieber bei dem Ei an. Wenn es nicht wichtig ist, dann eben nicht.“ Er meint es ernst.

„Aber Klaus, das dauert Stunden. Willst du etwa die ganze Zeit hier sitzen und zuhören, was ich langweiliges zu erzählen habe?“

„Ja, will ich. Ines bleibt auch hier und wir schreiben alles auf, was vielleicht für die Befreiung von Michaela von Bedeutung ist. Sie ist unsere Schwester und das sind wir ihr schuldig.“

Na gut. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus. Ich war so froh, dass die Kinder sich nie für die Vergangenheit interessiert hatten. So konnte ich sie hinter mir lassen und mein Leben leben.

„Also gut. Ihr lasst mir keine andere Wahl. Ich bin an einem Samstag im Juni in Eiserfeld zur Welt gekommen. Mein Bruder Hermann war damals 6 und wenn ich meiner Mutter glauben darf, so hätte er lieber ein Fahrrad, als eine Schwester gehabt. Ich kann die Stimme meiner Mutter hören, wenn sie jedes Jahr an meinem Geburtstag die immer gleiche Geschichte erzählte.

Es war Markt und es hatte den ganzen Morgen geregnet. Von den Markisen der Markstände tropfte das Wasser. Der Frühling war viel zu kalt und nass gewesen, so dass es nur wenig Obst und Gemüse gab. Die Marktstände sollten in all den Jahren die Gleichen bleiben. Neben dem Obst und Gemüsestand war der Hühnerfrieder. Er verkaufte Eier und lebende Hühner. Gegenüber war der Stand der Rosenbergs. Sie verkauften Stoffe aller Art. Daneben der Stand des Korbmachers. Er kam immer mit einem Planwagen und hatte neben Körben auch Westerwälder Tonwaren dabei. Und dann war da noch der Kesselflicker. Er bot auch Töpfe an.

Meine Mutter war in ihr Elternhaus auf dem Marktplatz zurückgekehrt, um mich dort zur Welt zu bringen. Ihre Eltern hatten eine Bäckerei und der Lehrling sollte losgeschickt werden und die Hebamme, Lotte Bemme, holen, wenn es soweit war. Lotte hatte eine üppige Figur, war aber wieselflink. Was ihr den Namen „flotte Lotte“ einbrachte. Als es losging, war der Lehrling noch dabei Brot auszuliefern. So war die flotte Lotte erst im letzten Moment eingetroffen. Um 16.25 Uhr bin ich geboren.“

Ich hole tief Luft.

„Ach, Kinder, wollt ihr das wirklich alles hören?“

Ich schenke mir ein Glas Wasser ein.

„Mama, Klaus hat recht. Vielleicht kommen wir darauf, wer dich auf dem Kicker hat.“

Ich überlege, wo ich war.

„Ok. Da war ich dann also geboren. Mein Vater ist gleich am nächsten Tag losgelaufen und hat mit dem Pastor einen Termin für meine Taufe ausgemacht. Nach der Erzählung meiner Mutter ist ihr dieser Sonntag sehr gut in Erinnerung geblieben, weil Vater sich betrunken hatte. Er war nach dem Gottesdienst ins Wirtshaus am Markt eingekehrt und hatte ein Herrengedeck bestellt. Ein Eichener Pils und einen Steinhäger. Als der Wirt hörte, dass August zum zweiten Mal Vater geworden war, spendierte er ihm ein weiteres Herrengedeck, auf einem Bein kann man schließlich nicht stehen. Und da aller guten Dinge drei sind, wurde noch einmal von den Herren des Stammtisches nachgelegt. Man kannte sich eben. Meine Mutter war stinksauer und hat eine Woche nicht mit Vater gesprochen.“

„Wie war dein Vater sonst so?“, will Ines wissen.

„Och, August war klein, hatte einen dicken Bauch und so lange ich denken kann eine Glatze. Er war eine Knutschkugel und hat immer Maßanzüge getragen, obwohl C & A schon Anzüge von der Stange anbot, doch die konnte er nicht tragen mit seiner dicken Wampe.

Er war Laborant und hat bei der Stadt Siegen Wasserproben untersucht.

Als ich etwa 2 Jahre alt war wurde er arbeitslos und fand kurz darauf eine Stelle bei einem Stahlwerk in Hagen. Deswegen sind wir dann später dorthin gezogen. Meiner Mutter war das gar nicht recht, sie wollte nicht wegziehen. Sie war zu Hause das einzige Mädchen. Ihre vier Brüder himmelten sie an. Sie waren allesamt Bäcker geworden, wie mein Großvater. Er war ein herzensguter Mensch. Ihn konnte nichts aus der Ruhe bringen. Meine Großmutter hingegen war ein Drache. Sie führte die Bäckerei und einen kleinen Tante-Emma-Laden.“

Ich nehme einen großen Schluck Wasser.

„Obwohl wir nach Hagen gezogen sind, hat sich doch ein Großteil unseres Lebens nach wie vor in Eiserfeld abgespielt. Ich kann noch heute in Gedanken über den Marktplatz gehen und sehe alles vor mir. Der Marktplatz wurde dominiert von der Kirche und der Schule, die sich auf dem Platz genau gegenüberstanden. Vom Kirchplatz aus nach links blickend, sah man die Löwen-Apotheke. Benjamin Löwe, der Apotheker trug eine dicke Nickelbrille, ohne die er blind zu sein schien. Man sah ihn stets im weißen Kittel, darunter schwarze Hosen mit einer ordentlichen Bügelfalte. Die Krawatte saß immer tadellos. Seine Tochter Hannah sollte als Apothekerin sein Geschäft übernehmen. Die Familie wohnte im ersten Stock über der Apotheke. Marianne, die Frau des Apothekers war für ihre Siegerländer Koch- und Backkünste bekannt. Gleich daneben war die Bäckerei von meinen Großeltern.

Ein Haus weiter wohnte Dr. Winter mit seiner Haushaltshilfe. Einen anderen Arzt gab es nicht. Das alte Fachwerkhaus war mit schwarzen Schieferplatten verkleidet, so wie es im ganzen Siegerland üblich war.

Neben Dr. Winters Haus ging ein schmaler Weg zu den Feldern am Waldrand hinaus. Auf der anderen Seite des Weges streckte die Schule ihren Turm in den Himmel. Frau Lemke, die Lehrerin, war in Onkel Heini verliebt und kam gerne am Samstag, nach dem Unterricht, bei ihm in der Backstube vorbei. Sie trug ihr Haar immer zu einem strengen Dutt gebunden. Ihre Bluse war geknöpft bis unters Kinn und der schwarze Rock reichte bis zu den Knöcheln.

Rechts, neben der Schule führte ein Weg hinauf in den angrenzenden Wald. Auf der anderen Straßenseite befand sich das „Wirtshaus am Markt“. Die Familie Edelmann führte die Gaststätte schon in dritter Generation. Der Festsaal wurde für Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen ebenso, wie für politische Veranstaltungen genutzt. Im Keller gab es eine Kegelbahn.

Gleich neben dem Wirtshaus war die evangelische Kirche. Der Pastor war ein kleiner, dicklicher Mann, der stets eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine graue Strickweste trug. Sein schütteres Haar wurde schon grau. Ich glaube, er hatte drei Töchter. Das waren Zeiten damals. Als Kind habe ich gedacht, genau hier ist die heile Welt. Die kann nichts und niemand kaputt machen. Das wird für immer so bleiben. Was waren wir damals so naiv!“

Klaus unterbricht mich.

„Naiv würde ich das nicht nennen. Du warst ja selbst noch ein Kind. Und die Erwachsenen hatten damals bestimmt auch schon andere Sorgen.“

Mir geht ein Licht auf.

„Da sagst du was! Ich erinnere mich, dass sich damals schon einige Männer aus dem Ort zu geheimnisvollen Treffen zusammenfanden. Wir sollten das ja nicht mitbekommen, aber wir haben natürlich zugehört, wenn die Erwachsenen sich unterhalten haben.“

Allmählich kehrt die Erinnerung zurück.

„Mama hatte immer erzählt, wie wir mit einem Pappkoffer und einer Reisetasche am Bahnhof in Hagen-Haspe angekommen sind. Vater hatte den Umzug schon vorher von einem Fuhrunternehmen machen lassen und uns dann am Sonntag in Eiserfeld abgeholt. Onkel Heini und Onkel Ernst hatten uns an den Bahnhof gebracht. Mama erzählte, dass wir zum ersten Mal in eine Wohnung mit einem Badezimmer eingezogen waren. Wir mussten das zwar mit einer anderen Familie teilen, aber die Zeiten der Waschwanne in der Küche hatten ein Ende und es gab auch eine Toilette im Haus. Der pure Luxus.

Ich kann mich noch gut an das Mietshaus erinnern. Es gab ein großes Treppenhaus, die Wände waren gefliest und unten im Parterre standen immer einige Kinderwagen. Vater war so stolz auf die Wohnung. Es war eine Werkswohnung, die nur Mitarbeiter der Firma bekommen konnten. Meine Mutter wollte da nicht wohnen bleiben. Wenn sie morgens die Fenster aufmachte, lag dicker, schwarzer Ruß auf der Fensterbank, aus den Schornsteinen der Fabrik.“

Ines rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

„Das sind ja wirklich schöne Erinnerungen, aber ich glaube du hast Recht. Das wird uns kaum weiterbringen.“

Klaus unterbricht sie. „Jetzt hören wir gerade mal eine halbe Stunde zu und du hast schon die Schnauze voll. Wenn du willst, dann geh doch!“

„Jetzt sei doch nicht gleich schon wieder beleidigt. Mann oh Mann, wie in alten Zeiten.“, wehrt sich Ines.

„Ines hat recht. Ich glaube auch nicht, dass es viel Sinn macht, uns die Zeit mit diesen alten Geschichten herum zu schlagen.“, versuche ich schlichtend einzuwerfen.

Das bringt Klaus auf den Plan. „Mama, so allmählich bekomme ich das Gefühl, dass du uns wirklich etwas verschweigst. Was ist denn so schlimm daran, deinen Kindern, deine Lebensgeschichte zu erzählen?“

„Das ist halt alles so kompliziert. Und ich bin ganz gut damit gefahren, vieles zu vergessen.“

Doch Klaus gibt nicht nach. „Weißt du Mama, deswegen sitzen wir hier und ziehen das jetzt durch. Du willst doch nicht wirklich einem Verbrecher, einem Erpresser 150.000 Euro von deinem Geld hinterherwerfen. Papa und du habt euch krumm gelegt für das Haus. Versteh mich nicht falsch. Es ist dein Geld. Gib es aus für Reisen und deine Gesundheit, für alles was dir guttut. Hau meinetwegen alles auf den Kopp, aber werf es nicht solchen Leuten kampflos hinterher.“

„Klaus hat recht!“, steht Ines ihrem Bruder bei. „Wir dürfen das nicht zulassen. Lass uns weitermachen. Mal sehen, wie weit wir heute noch kommen.“

„Also gut, wo war ich? Ach ja, unsere erste Wohnung mit Bad und WC. Da war die Küche. Ich sehe den alten Küchenschrank vor mir und den alten Kohleherd. Das Schlafzimmer war gleich gegenüber der Küche. Wir schliefen alle vier dort Am Ende des Flurs war das Wohnzimmer. Hier standen das schwere Sofa, ein Tisch mit einer Marmorplatte und der Wohnzimmerschrank. Hinter der Türe war ein Gusseiserner Ofen, der alleine die ganze Wohnung hätte heizen können.

Das Bad und die Toilette lagen außerhalb der Wohnung. Einen halben Stock tiefer war das Bad, das wir uns mit den Mietern aus dem unteren Stock teilen mussten. Im Siegerland hatten wir kein Bad gehabt. Wir Kinder wurden am Samstag in den Waschzuber in der Küche gesteckt. Das Badewasser erhitzte man in einem großen Topf auf dem Kohleherd. Auch die Erwachsenen mussten damit Vorlieb nehmen. Das müsst ihr euch mal vorstellen. Jetzt hatten wir fließendes Wasser und einen Boiler, der das lästige Eimer schleppen der Vergangenheit angehören ließ. Die Wand war mit blauen Fliesen verkleidet und auf dem Boden waren grau gemusterte Fliesen verlegt worden. Die riesige, weiße Emaillewanne glänzte neu und einladend. Sie stand auf Messingfüßen an der Wand, wie für die Ewigkeit gemacht. Aus einem großen verchromten Wasserhahn konnte die Wanne direkt aus dem Boiler gefüllt werden.

Gegenüber der Badewanne waren einige Reihen Wäscheleine gespannt und dort hingen ein paar Damenstrümpfe und eine Strickjacke zum Trocknen. Vermutlich hatten die anderen Mieter das Bad genutzt, solange sie es für sich alleine hatten. Die Toilette war einen Stock tiefer. Sie war in einem niedrigen Raum unter der Treppe untergebracht. Das Klo war sauber und hatte eine Wasserspülung, die mit einer Kette hinter der Toilette ausgelöst wurde und das Wasser aus einem Wasserkasten an der Zimmerdecke in das Toilettenbecken entließ. Beleuchtet wurde der Raum nur von einer schummrigen Glühbirne und neben dem Toilettenbecken lagen Abschnitte von alten Zeitungen. Ich kann die feuchte Kälte förmlich spüren und habe den Geruch des kleinen Raumes sofort wieder in der Nase.“

„Mama, alles klar?“ Ines holte mich aus meinen Gedanken heraus.

„Oh, ja. Ich war gerade ganz in Gedanken. Am nächsten Tag irrte Mutter mit uns durch die Stadt und suchte Hermanns neue Schule. Mich schob sie mit dem schnieken Kinderwagen vor sich her. Hermann zog sie an der Hand hinter sich her. Durch ein schmiedeeisernes Tor erreichten wir die Schule. Wir waren spät dran und Mutter ließ mich samt Kinderwagen auf dem Schulhof stehen und rannte mit Hermann hinein. An der Türe wurde sie von einem großen Mann mit einem langen, weißen Bart begrüßt. Das musste wohl der Rektor gewesen sein. Ein paar Jahre später ging ich auch dort zur Schule. Wir gewöhnten uns schnell an den Rhythmus der Stadt, den Lärm, die Straßenbahnen und die vielen Geschäfte. Mutter engagierte sich beim blauen Kreuz und sonntags gingen wir in die lutherisch evangelische Kirche. Meine Mutter ging regelmäßig zum Friseur und ließ sich ihre Haare färben. Ich bekam meine ersten Ohrringe. Wir waren wirklich sehr modern. Ach ja“ Ich muss grinsen. „Da fällt mir der Kaufmann Meyberg ein. Jakob Meyberg hatte ein Bekleidungshaus. Aber nicht nur das! Beim Meyberg konnte meine Mutter auf Pump kaufen.“

Ich sehe die Fragezeichen über den Köpfen meiner Kinder.

„Wir konnten bei ihm Ratenzahlung machen. Mutter kaufte zweimal im Jahr bei ihm ein. Einmal im Frühjahr und dann wieder im Herbst. Sie hat immer geschimpft, dass wir viel zu schnell wachsen würden. Und dann kam Jakob Meyberg einmal in der Woche und hat die fällige Rate abgeholt. Mutter machte ihm dann immer einen Muckefuck und hielt in unserer Küche ein Schwätzchen mit ihm. Jakob war Kaufmann und versuchte ihr natürlich auch immer seine neuesten Angebote nahe zu bringen. Mein Vater hielt gar nichts davon. Trotzdem kam Jakob gerne zu uns. Mutter wäre ihm nie eine Rate schuldig geblieben. Ich sehe ihn noch vor mir. Eine gepflegte Erscheinung. Er trug stets Mantel und Hut.

Ingelein, schau mal, was ich dir heute mitbringe. Ich habe eine Ladung Schuhe erstanden, wie sie in New York nur in den feinsten Warenhäusern angeboten werden. Das ist eine einmalige Gelegenheit. Ich hab dir ein Paar mitgebracht, bevor ich sie in der Zeitung inseriere.

Jakob reichte meiner Mutter einen weißen Schuh aus feinstem Rindsleder über den Tisch. Sie wollte ihn gerade auf dem Tisch abstellen, um ihn genauer zu betrachten, als Jakob sie davon abhielt.

Nicht doch, Ingelein! Neue Schuhe auf einen Tisch zu stellen, bringt großes Unglück. Das darfst du niemals machen.

Ich äffe Jakob nach, kann seine Stimme in meinem Kopf hören.

„Meine Mutter hielt inne und betrachtete den Schuh in ihrer Hand. Ich konnte sehen, dass sie sie gerne gekauft hätte, aber erst wollte sie ihre Schulden bei Jakob vollständig bezahlen, vorher gab es nichts Neues. Das Leben war nicht billig in Hagen und meinen Eltern war klar, dass sie dringend eine zweite Einnahmequelle brauchten, um sich über Wasser zu halten.

Dabei ging es uns eigentlich ganz gut. Im Gegensatz zu Oma Hausen hatten wir immer genug zu essen auf dem Tisch. Oma Hausen war Witwe. Ihre Rente reichte im Winter nicht, um Kohlen zu kaufen und ihre feuchte Kellerwohnung ein wenig wohnlicher zu machen. Oma Hausen ging gebeugt am Stock, sie hatte einen leichten Buckel und trug immer ein kariertes Kopftuch. Wenn die Kinder sie auf der Straße sahen, riefen sie im Chor: "Oma Hausen, lässt einen sausen, von hier bis nach Hückelhausen."

Die alte Dame konnte sich nicht wehren. Sie wusste aber, dass meine Mutter ein gutes Herz hatte und wenn sie bei uns klingelte, durfte sie hereinkommen, sich aufwärmen und bekam ein Butterbrot und Muckefuck.

Hermann hatte schnell neue Freunde gefunden und Mutter hatte große Mühe, ihn nach der Schule wenigstens so lange zu Hause zu halten, bis er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Danach musste er alte Hosen und ein altes Hemd anziehen, um die guten Sachen für die Schule nicht schmutzig zu machen. Dann hielt ihn nichts mehr. Er traf sich mit seinen Freunden an den Bahngleisen und gemeinsam liefen sie hinunter an den Fluss, wo sie in einem halb verfallenen Haus an der Ennepe spielten. Das alte Ziegelhaus hatte keine Fenster und Türen mehr, das Dach war zur Hälfte eingestürzt. Die Holztreppe im Inneren war kaum noch begehbar. Große Löcher waren in den Treppenstufen zu sehen, ganze Bretter waren weggebrochen.

Die Jungen durchstöberten das Haus auf der Suche nach Kostbarkeiten und Schätzen. Manchmal fanden sie leere Suppendosen, die Landstreicher nach einer Übernachtung dort gelassen hatten. Auch leere Schnapsflaschen lagen manchmal herum. An einem Nachmittag im Juni musste Hermann auf mich aufpassen. Mutter musste zum Zahnarzt und hatte Hermann verboten, mit mir das Haus zu verlassen. Er sollte für eine Rechenarbeit lernen. Kaum war Mutter aus dem Haus, saß ich im Kinderwagen und Hermann jagte mit mir durch Hagen zum alten Güterbahnhof, wo seine Freunde schon auf ihn warteten. Die waren natürlich gar nicht begeistert, als sie mich sahen. Aber Hermann zerstreute ihre Bedenken und so schleppten sie mich einfach mit durch Dornenbüsche hinunter zum Fluss. Die Jungen ärgerten Hermann, weil er mich mitnehmen musste und vor Wut stieg er auf das Dach des Hauses und begann Ziegel vom Dach in die Ennepe zu werfen. Die anderen machten sofort mit. Sie liefen auf den losen Dachziegeln herum und versuchten, möglichst weit zu werfen. Plötzlich brach ein Junge im Dach ein. Er konnte sich gerade noch an einem Balken festhalten und die andren sprangen ihm zu Hilfe. Dabei lösten sich mehrere Ziegel und rutschten vom Dach herunter. Einer davon traf mich am Kopf. Ich selbst kann mich gar nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter erzählte die Geschichte immer mal wieder. Und hier …“ Ich zeige ihnen die Narbe an meinem Haaransatz. „Hier ist die Narbe. Hermann hat mir meine Schütze um den Kopf gebunden und ist mit mir nach Hause gelaufen. Als wir dort ankamen war ich blutüberströmt. Meine Mutter hatte einen Weisheitszahn gezogen bekommen und war noch völlig benommen, von der Betäubung. Die Watte steckte noch in ihrer Wange. Ich kann sie heute noch schimpfen hören:

Bursche, du kannsch schpäter wasch erleben. Du hascht Hauscharrescht bisch ansch Ende deiner Tage.

Sie konnte kaum sprechen. Ihre Lippen wollten ihr einfach nicht gehorchen. Alles unterlag noch immer der Betäubung und damit der Schwerkraft. Sie sah sich kurz die Wunde an und rannte dann mit mir zu unserem Hausarzt, der die Wunde nähte und mir Antibiotika spritzte.

Mein Bruder schrieb in den nächsten Wochen die Besten Noten seiner Schullaufbahn. Mutter hatte den Hausarrest durchgesetzt. Doch von nun an musste mein Bruder nicht mehr auf mich aufpassen. Er nannte mich immer „Rotzgöre“ und war froh, mich los zu sein.

1932 wurde ich im Alter von sechs Jahren eingeschult. Fein herausgeputzt, in neuem Kleid, weißer Schürze und weißen Kniestrümpfen posierte ich auf dem Klassenfoto mit Schultüte und Kreidetafel am Schulranzen. Die roten Schuhe kann man auf dem Schwarzweiß-Foto später nicht erkennen, aber ich liebte diese Schuhe und war stolz, nun zu den Schulkindern zu gehören. Meine langen braunen Haare hatte Mutter zu zwei Zöpfen geflochten, so wie es damals Mode war. Nun sollte der „Ernst des Lebens“ beginnen und das war er in der Tat. Die NSDAP war bei den Wahlen im Frühjahr des Jahres zur stärksten Partei aufgestiegen und sollte schon bald die Regierung bilden. Mein Vater empörte sich darüber, doch meine Mutter meinte nur, es würde sich schon alles finden. Für uns Kinder blieb zunächst alles beim Alten. Hermann streunte noch immer nachmittags mit seinen Freunden an der Ennepe entlang und eines Tages überraschten sie in dem alten Haus einen Landstreicher, der Hals über Kopf durch ein kaputtes Fenster verschwand und eine fast volle Flasche Schnaps zurückließ. Geschwächt von Nächten unter freiem Himmel konnte er den Jugendlichen nichts entgegensetzen. Des einen Leid ist des anderen Freud und so hatten Hermann und seine Freunde kein schlechtes Gewissen, als sie die Flasche herumgehen ließen, damit jeder einen Schluck nehmen konnte. Mein Bruder musste natürlich wieder übertreiben und trank alleine fast die halbe Flasche leer. In der Folge schleppten die Freunde ihn bis vor unsere Haustüre, legten ihn auf den Stufen ab, klingelten und suchten schnell das Weite. Mein Vater staunte nicht schlecht, als er seinen Sohn völlig betrunken, mit einer Fahne, so groß, wie die auf dem Reichstag in Berlin, ins Haus brachte. Auch staunte er nicht schlecht, als er sah, was Hermann alles zuvor zu sich genommen haben musste, als er sich erbrach. Danach war es an Hermann zu staunen, als Vater ihn zum ersten Mal in seinem Leben verprügelte. Er nahm den Ledergürtel seiner Hose zu Hilfe und schlug damit auf den Sohn ein. Ich hatte fast noch Mitleid mit meinem Vater. Es schien ihm mehr weh zu tun, als Hermann, der vom Schnaps noch ganz betäubt war. Vater brüllte und sein Gesicht war ganz rot.

Du Sausack, du Elender. Du wirst dich mit deinen Saufkumpanen nicht mehr treffen.

Da war es ganz hilfreich, dass wir eine neue Wohnung gefunden hatten. Wir zogen in einen anderen Stadtteil, in ein Sechzehnfamilienhaus. Kinder, vor dem Umzug brauch ich aber erst mal was zu trinken.“ Klaus ist einverstanden.

Ich leere mein Wasserglas und versuche mich daran zu erinnern, ob der Umzug überhaupt wichtig war.

„Oh ja, jetzt weiß ich es wieder. Damals lernte ich Werner kennen. Meine Eltern hatten mir erklärt, wie ich unsere neue Wohnung finden würde, aber als ich alleine vor dem großen Haus stand, bekam ich Angst und traute mich nicht hinein. Heulend stand ich auf dem Bürgersteig, als Werner kam. Werner war ein langer Junge mit blonden Haaren.“ Ines unterbricht mich.

„Was ist denn bitte, ein langer Junge?“, sie kichert.

„Na lang, groß und dünn. Ein Spargeltarzan eben. Werner war eine komische Erscheinung. Er hatte Klumpfüße und musste komische Schuhe tragen. Dadurch sah er aus wie diese Figuren, die nicht umfallen können und immer wieder in die Senkrechte zurück finden Dank der Gewichte an ihren Füßen. Erinnerst du dich noch?“, schicke ich an Ines gerichtet nach. „Du hattest damals einen Hasen, der hatte einen dicken Hintern und hatte Glöckchen im Poppes. Wenn man den umgeworfen hat, ist er wieder aufgestanden und hat geläutet.“

„Mama, der hat nicht geläutet, der hat allerhöchstens gebimmelt.“, empört sich die einzige meiner Töchter, die ich greifbar habe. Klaus verdreht genervt die Augen. „Ich glaube, ich brauch ein Bier. Von euch auch noch jemand was Anderes zu trinken, als Wasser?“, fragt Klaus beiläufig.

Ines scheint heute extrem experimentierfreudig. „Oh ja, ich nehme einen Tee.“

Wie cool, denk ich bei mir. Das artet ja langsam zu einem Besäufnis aus.

„Bring mir ein Glas Sekt aus dem Kühlschrank mit, da steht noch eine offene Flasche von heute Morgen.“ Klaus sieht mich verwirrt an.

„Wie, von heute Morgen? Sag mal, Mama, trinkst du?“

„Nur gelegentlich.“, versuche ich Klaus zu beruhigen. „Ist gut für den Kreislauf.“

Mit dem Sekt und einer Flasche Bier kommt er aus der Küche zurück. Ines hat sich einen grünen Tee mit Zitrone gemacht.

„Also der Werner, das war ein ganz besonderer Mensch in meinem Leben. Zu seinen Klumpfüßen hatte er auch noch spastische Anfälle und Lähmungserscheinungen. Er war so dünn. Seine Hosen schlabberten an ihm und er war so ein lieber Kerl. Er hat mir dann geholfen, den Weg zur neuen Wohnung zu finden. Werner Warmbeck wohnte auch in diesem Haus. Er nannte es „das Zwiebackhaus“. Gleich nebenan war die Brandt Keksfabrik und es roch immer nach frisch Gebackenem. Meine Mutter war heilfroh, als ich endlich an der Haustüre klingelte. Werner stellte sich weltmännisch vor und dann ging der spindeldürre Junge humpelnd die Treppe hinauf. Gleich neben dem Haus war ein großer Sportplatz und auf der Stirnseite des Hauses prangte in bunten Farben die wunderschöne "Persilfrau". Sie machte Werbung für das Waschmittel Persil und den Weichspüler „IMI“. Zur Wohnung gehörte ein kleines Ladenlokal und Vater hatte sich entschlossen, dort einen kleinen Krämerladen zu eröffnen. Mutter sollte den Laden führen. Von seinem Schwager aus Eiserfeld wollte er Siegerländer Brot schicken lassen und es in dem Laden verkaufen. Onkel Heini packte in Eiserfeld das Brot in große Säcke und schickte es mit der Bahn nach Hagen zu einem Kleinbahnhof. Dort holte Vater es mit dem Fahrrad ab. Einen Teil der Brote verkaufte meine Mutter in dem kleinen Laden, der andere Teil wurde von Vater direkt zu den Kunden gebracht, die es zuvor bestellt hatten. Dazu hatte er eine Holzkiste an den Lenker seines Fahrrades gebastelt. Der kleine August konnte kaum darüber schauen und wenn er mal wieder einen der Hagener Berge mit seiner schweren Last erklimmen musste, war er froh, wenn wir Kinder von hinten beim Schieben halfen und es ihm leichter machten, seine Ware auszuliefern. Vom Verkauf der Brote konnte die Familie natürlich nicht leben. Vater arbeitete weiterhin als Laborant und Mutter verkaufte in dem kleinen Laden neben den Broten auch Bonbons der Firma Grün. Unsere Augen leuchteten, wenn wir vor den herrlich gefüllten Bonbongläsern standen.

Zwei Bonbons kosteten einen Pfennig, eine Tafel Lakritz mit dem Einmaleins kostete fünf Pfennige und eine Zuckerstange ebenfalls. Hermann stibitzte ab und zu ein Bonbon, ansonsten zog es ihn nach draußen, um mit seinen Freunden auf dem Sportplatz Fußball zu spielen. Hermann entwickelte sich zu einem richtigen Haudegen. Nachbarn schoben das auf die Berufstätigkeit meiner Mutter. Tuschelnd standen sie auf dem Bürgersteig und zerrissen sich das Maul. Vielleicht waren sie auch einfach nur neidisch.

Auf dem Sportplatz neben unserem Haus trafen sich nachmittags alle Kinder aus der Nachbarschaft. Wir spielten Völkerball oder Seilspringen. Auch Werner kam dazu. Er stand immer am Rand und schaute zu. Von der Hitlerjugend war er befreit. Krüppel wollte man da nicht. Ich habe immer davon geträumt, etwas zu erfinden, damit er auch endlich normal gehen und spielen kann. Auch Werner hatte große Träume. Er wollte Architekt werden und am liebsten bei Walter Gropius studieren. Er schwärmte für Gropius Schule für Architektur und Kunst und die von ihm entwickelten Wohnkonzepte im Baukastenprinzip. Werner war ein guter Schüler, fehlte aber oft in der Schule. Ich besuchte ihn manchmal und versuchte ihn aufzumuntern, wenn er mal wieder das Bett hüten musste. Armer Kerl.“

Ich nehme einen großen Schluck Sekt.

„Jetzt fällt mir wieder etwas ein. Das war im Jahr 1933. Das werde ich nie vergessen. Es hat sich so in mein Gehirn gebrannt. Ich kann alles noch vor mir sehen. Es war schrecklich und ich hatte große Angst.“

Die Schuldfrage

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