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Kapitel 3

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„Ich glaub, es wird Zeit, dass wir erst mal etwas essen.“

Ich hole schnell mein Portemonnaie und drücke Klaus einen Zwanziger in die Hand.

„Hol uns doch bitte drei Döner, dann essen wir in Ruhe und danach können wir weitersehen.“

Es geht schon auf den Abend zu. Ich werde langsam müde. Aber nun bekomme ich die Gedanken auch nicht mehr aus dem Kopf. Die Geister, die ich rief wollen befriedigt werden. Klaus macht sich auf den Weg und ist nach einer viertel Stunde wieder zurück. Wir packen unsere Döner aus und beißen herzhaft hinein.

„Oh, was für eine leckere Sauerei!“

Mir läuft die Joghurtsoße am Kinn herunter. Ines holt noch mehr Servietten.

„Alleine hierfür ist es gut, dass Hitler den Krieg verloren hat. Wenn er das geschafft hätte, müssten wir jetzt Kartoffelbrei und Schweineleber essen.“

Ich grinse. Ines empört sich.

„Mama! Du bist eklig!“

„Ne, ehrlich.“, gebe ich den Ball zurück. „Jetzt schaut uns doch mal an. Da sitzen wir drei am Tisch und essen Döner. Wenn der Krieg anders ausgegangen wäre könnten wir jetzt keine Ü50-Party feiern.“

Ines will sich gerade wieder aufregen, von wegen Ü50, als ich mich schnell bei ihr entschuldige.

„Verzeihung mein Kind. Es ist ja wahr. Du hast ja noch fast ein Jahr, bis du das halbe Jahrhundert voll hast.“

„Mama, ich habe den Eindruck, du willst dich aus der Affäre ziehen und vom Thema ablenken.“

Ich glaube, Klaus hat recht. Ich würde mich gerne vor weiteren Erzählungen drücken. Aber der Tag ist noch zu jung, um schon aufzuhören. Ich wische mir den Mund ab. Den ganzen Döner schaffe ich nicht und schiebe den Rest zu Klaus rüber.

„Also gut, weiter geht’s. Es war der 1. April 1933. Ich weiß es noch ganz genau. Es war ein Samstag. Meine Mutter wollte mit uns zu Meister Jakob gehen, wie wir ihn nannten. Hermann brauchte dringend neue Hosen und ein neues Hemd. Am alten waren die Ärmel viel zu kurz geworden und meine Mutter hat daraus ein Kurzärmeliges zum Spielen gemacht. Ich sollte ein neues Kleid bekommen und Kniestrümpfe. Ostern stand vor der Türe.

Mein Vater wollte so lange im Laden bleiben, bis wir von unserem Einkauf zurück waren. Hermann wäre gerne bei ihm geblieben, er wollte nicht einkaufen gehen. Aber er musste mit. Ich freute mich.

Meine Mutter hatte immer eine Überraschung auf Lager. Einmal ist sie mit uns in einen Passbildautomaten gegangen und wir haben lustige Fotos gemacht. Ich muss die irgendwo noch haben.

Nun ja, egal. Dieser Samstag wurde auf jeden Fall nicht lustig. Als wir am Geschäft von Jakob ankamen, war der Laden geschlossen. Seine Fensterscheiben waren über und über mit Schmierereien überzogen, die zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufriefen. Meine Mutter war ganz entsetzt. Vor dem Geschäft standen SA-Männer, die verhindern sollten, dass Kunden den Laden betraten.

Aber Meister Jakob hatte gar nicht erst aufgemacht. Auf den Schaufenstern standen Parolen wie: Der Jude ist unser Untergang und Wer den Juden kennt, kennt den Teufel und Rassenschande. Daneben prangten Hakenkreuze und Judensterne. Meine Mutter sorgte sich um Jakob. Er war mittlerweile ein guter Freund der Familie geworden. Also gingen wir auf dem Heimweg bei der Synagoge vorbei. Meine Mutter wollte nachschauen, ob er vielleicht dort war. Auf dem Weg kamen wir auch an der koscheren Metzgerei der Familie Freund vorbei. Auch sie war geschlossen, die Fensterscheiben beschmiert. Als wir die Synagoge erreichten, waren dort ein paar Scheiben eingeworfen, aber keine Menschenseele zu sehen. Mutter zog uns hinter sich her, nach Hause. Sie hoffte, Vater würde mehr wissen. Ohne Jakob waren wir aufgeschmissen. Wir konnten nicht so viel Geld auf einmal ausgeben. Vater sparte auf ein Automobil. Dafür legte er jeden Pfennig auf Seite. Ich sehe noch das Gesicht meines Vaters vor mir. Es sprach Bände. Eine Mischung aus Wut und Entsetzen.

Das ist nur der Anfang. Murmelte er vor sich her. Das ist nur der Anfang. Die Arisierung hatte begonnen. Die 600 Hagener Juden wurden drangsaliert. Ihre Geschäfte boykottiert. Man forderte sie auf, zu gehen. Am Montag gingen wir erneut zu Meister Jakob. Er hatte wieder geöffnet, aber vor seinem Laden standen SA-Männer und wollten uns nicht hereinlassen. Ich hatte Angst, doch meine Mutter schnauzte den einen an, er solle sich zurückhalten. Er könne ihr Sohn sein und solle sich gefälligst benehmen.

Die Schaufensterscheiben waren total beschmiert. Wir gingen hinein und Jakob sah sehr traurig aus. Er machte sich große Sorgen um die Zukunft. Ingelein, mein Kind, mach dich schon mal darauf gefasst, dass ich nicht mehr ewig hier sein kann. Meine Mutter kaufte alles, was nötig war und Jakob würde nun wieder jede Woche kommen und die fällige Rate kassieren. Meine Mutter machte sich keine weiteren Gedanken und wiegelte ab, wenn Vater Bedenken äußerte. Sie hatte andere Sorgen. Sie mussten den Laden schmeißen, uns Kinder versorgen und ihrem Mann die Hemden bügeln. Ostern ging vorüber, es wurde Mai und in Berlin wurden Bücher verbrannt. Auch Einsteins Werke waren darunter.

Er hatte bereits 1932 Deutschland verlassen, um eine Reise in die USA zu unternehmen. Seine Theorien waren begehrt in aller Welt, nur nicht in seiner Heimat. Einstein kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Er wurde 1940 amerikanischer Staatsbürger.

Vater war sehr betroffen und machte seinem Unmut Luft. Er erzählte, wie er Einstein einmal in Berlin getroffen hatte. Vater war von seiner Firma zu einem Vortrag Einsteins geschickt worden. Sie hatten wohl gehofft in der Stahlentwicklung ganz neue Erkenntnisse zu erlangen. Dem war aber nicht so. Doch Vater hatte sich ganz gut mit Einstein unterhalten und war von da an, nun, man kann schon sagen, ein Fan von ihm. Wenn es das Wort auch damals noch nicht gab.

Diese ignoranten Idioten vergraulten unsere besten Köpfe. Damals verstand ich das natürlich noch nicht, aber ich hatte Ohren und hörte zu, wenn die Erwachsenen sich unterhielten. Im Gegensatz zu meinem Bruder interessierte es mich bereits sehr früh, was in der Welt los war. Vieles hat mein Vater mir auch später erzählt und ich weiß nicht wo sich Erlebtes mit Erzähltem mischt.“

„Mama, du willst uns aber nicht ernsthaft weißmachen, dass dein Vater Albert Einstein gekannt hat?“ Ines ist fassungslos und Klaus starrt mich mit offenem Mund an.

„Was heißt gekannt? Er hat sich mal mit ihm unterhalten.“, versuche ich abzuwiegeln.

„Na ja, wer kann schon von sich behaupten, mit Einstein gesprochen zu haben?“, gibt Klaus zu bedenken.

„Ach weißt du, das war auch nur ein Mensch. Aber Vater hat noch lange von dieser Begegnung erzählt, auch als Einstein 1955 starb.

Nun, wo war ich? Ach ja. Der Sommer 1933 kam und damit die Sommerferien. Etwas Erholung brachte es meiner Mutter sicherlich, wenn sie uns in den Ferien ins Siegerland zu den Großeltern schicken konnte. Sie packte einen Koffer und brachte uns an den Bahnhof in Hagen. Wir wurden zu dem Schaffner ins Abteil gesetzt. Er passte auf uns auf, bis Onkel Heini uns in Eiserfeld am Bahnhof abholte.

Hermann drohte während der ganzen Fahrt damit die Notbremse zu ziehen. Ich versuchte ihn davon abzuhalten. Ich wusste, er würde sich nur wieder Ärger einhandeln. Aber er lachte mich nur aus und seine Hand wanderte immer wieder provokant zum Notbremshebel. Ich war heilfroh, als wir endlich in Eiserfeld ankamen.

Onkel Heini hatte bereits auf uns gewartet. Ich sprang ihm in die Arme und er zerquetschte mich fast vor Freude. Er wollte alles wissen. Wie es den Eltern ging, was die Schule macht und wann Mutter kommt. Er vermisste seine Schwester sehr. Mutter wollte uns am Ende der Ferien abholen.

Heini lud unseren Koffer und uns Kinder auf seine Schubkarre und fuhr uns munter singend nach Hause zur Großmutter. Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ist des Müllers Lust, das Wahandern. Es muss ein schlehechter Müller sein, dem niemals fiehil das Wandern ein ....

Als wir den Marktplatz erreichten verstummte der fröhliche Gesang.

Am Schaufenster der Apotheke waren die gleichen Schmierereien wie an dem Schaufenster von Jakob Meyberg. Herr Löwe, der Apotheker war Jude. Bisher hatte das niemanden interessiert. Doch nun war plötzlich alles anders. Mit Fahnen und Uniform patrouillierten ein paar SA-Leute auf dem Marktplatz und beobachteten jeden, der die Apotheke betreten wollte, so dass sich niemand recht hineinwagte.

Heini besah sich die Gruppe Uniformierter und entdeckte mitten unter ihnen auch Frieder Wagner. Frieder, der einstmals schüchterne, fast verstört wirkende Junge stand nun selbstbewusst auf dem Rand des Brunnes, umgeben von seinen Kameraden. Frieders Vater hielt nichts von dem braunen Abschaum, wie er die SA wiederholt öffentlich nannte und hatte versucht, ihm seine Begeisterung auszureden. Ohne Erfolg.

Ich konnte sehen, wie Heini entsetzt Frieder betrachtete, der erhobenen Hauptes dastand und angewidert auf Herrn Löwe und seine Tochter Hannah blickte, die auf den obersten Stufen vor der Apotheke standen.

Man konnte das Gefühl von Stärke in Frieders Gesicht förmlich sehen. Eine Macht, die die Zugehörigkeit dieser Gruppe und der SA-Dolch an seinem Gürtel ihm verlieh.

Benjamin Löwe blickte fast mitleidig auf die jungen Männer rund um den Brunnen hinab. Hannah ergriff die Hand ihres Vaters. Sie wissen nicht, was sie tun, mein Kind. Das wird kein gutes Ende nehmen.

Heini war schockiert. Erst vor einer Stunde hatte er den Marktplatz verlassen, um uns vom Bahnhof abzuholen. Nun stand er dort vor den Scherben der Zivilisation, wie Onkel Heini das nannte. Am Ende der Vernunft und am Anfang einer Diktatur, die er nicht bereit war zu unterstützen.

Wir gingen nach Hause und Heini machte seiner Wut Luft. Er sagte, er hätte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde und hatte gehofft, mehr Zeit zu haben und sich auf das Kommende besser vorbereiten zu können. Damals verstand ich noch nicht, was er damit meinte, aber im Laufe der Jahre sollte mir vieles klarer werden. Es dauerte nicht lange und alle anderen Parteien, außer der NSDAP wurden verboten. Zeitungen, die sich kritisch äußerten wurden vom Markt genommen, Propagandablätter der Nazis stattdessen verkauft. Nachrichten aus dem Ausland wurden gefiltert. Es wurde schwer, sich ein neutrales Bild zu machen. Gegner der NSDAP mussten sich heimlich treffen. Ansonsten liefen sie Gefahr sich Repressalien auszusetzen. Wer Familie hatte, überlegte sich jeden seiner Schritte zweimal. Wenn er dennoch dazu bereit war öffentlich Kritik zu äußern, wurde er gnadenlos verfolgt und gedemütigt.

Meine Oma, Anna Reichmann stand wie immer hinter der Theke im Verkaufsraum. Wir begrüßten sie brav bevor wir nach hinten in die Backstube stürmten und dem Opa um den Hals fielen. Heini lud den Koffer ab und brachte ihn in den ersten Stock des Fachwerkhauses. Dort hatte die Hausangestellte bereits ein Zimmer für uns Stadtkinder vorbereitet. Hermann hatte bereits Onkel Heinis neues Motorrad entdeckt, das vor dem Schaufenster stand und sich mutig darauf niedergelassen. Heini ermahnte ihn zu Vorsicht, schließlich war das Gefährt noch keine drei Wochen alt und Hermann würde sicherlich noch Gelegenheit bekommen mit seinem Onkel einen Ausflug zu machen.

Heini stand auf der Treppe zur Bäckerei und beobachtete die Szenerie auf dem Platz davor. Er hat gar nicht gemerkt, dass ich neben ihm stand bis ich flüsterte: Das Gleiche haben sie auch mit Meister Jakob gemacht. Heini war ganz erschrocken und wollte wissen, wer Meister Jakob ist.“

Ich leere mein Sektglas und fülle es mit Wasser auf. Jetzt muss ich erstmal durchatmen. Ich verschwinde mal schnell im Bad. Was sein muss, muss sein.

„Das muss für ein Kind ja beängstigend gewesen sein. Wenn ich mir das so vorstelle. Für uns war das immer so weit weg. Lange vor unserer Zeit, aber du hast das noch live erlebt. Wahnsinn.“ Ines ist ganz aufgebracht als ich zurückkomme, dabei muss sie doch nur einmal rechnen.

„Die fahnenschwenkenden Männer auf dem Platz machten mir schon Angst und Onkel Heini schickte mich hinein zu Doris. Sie war Omas Hausangestellte und war gerade in der Waschküche. Den ganzen Vormittag hatte sie die weiße Bettwäsche im Waschtrog in der Waschküche ausgekocht und gespült. Nun musste die Wäsche auf die Bleiche gebracht werden, das war eine Wiese außerhalb des Ortes. Ich wollte unbedingt mitgehen.

Mit dem Bäckerlehrling machten wir uns auf den Weg. Er führte links neben der Schule entlang zum Bach. Der Feldweg wurde nur von Pferdefuhrwerken benutzt. Autos fuhren dort nicht. Nach fast einem Kilometer erreichten wir die Bleiche. Doris war eine zarte, schlanke, junge Frau. Ihre rötlichen Locken steckten immer unter einer Haube und sie trug stets eine lange weiße Schürze. Ich half Doris, die Wäsche auf der Wiese auszubreiten. Die Sonne schien vom blauen Himmel herab und die Welt schien auf seltsame Weise in Ordnung zu sein. Mit Gießkannen befeuchteten wir die Leinentücher immer wieder, sobald sie zu trocknen begannen. In der Zwischenzeit lagen wir im grünen Gras, pflückten Gänseblümchen und bastelten Haarbänder daraus. Der Lehrjunge war schon wieder zurückgegangen, er hatte nur beim Tragen geholfen und musste nun noch das Brot ausliefern. Über den Zwischenfall vom Morgen auf dem Marktplatz dachte niemand mehr nach. Wir tranken Wasser aus dem Bach und deuteten die zarten Wolken, die am blauen Himmel dahinzogen. Wir fanden Herzen und Schafe, einen Elefanten und Onkel Heinis Motorrad. Gegen Abend sammelten wir die Wäsche ein und brachten sie nach Hause, wo sie am nächsten Tag noch einmal gekocht werden musste. Ein Glück, wer da ein Hausmädchen hatte. Da war meine Oma schon privilegiert. Aber sie arbeitete ja auch den ganzen Tag.

Zum Abendessen gab es Schmalzbrote und Kakao. Ich war müde und schlief schon fast am Tisch ein. Hermann wollte unbedingt mit Heini Motorrad fahren und nervte ihn die ganze Zeit. Doch Heini hatte andere Dinge im Kopf. Doris musste uns zu Bett bringen. Hermann war das peinlich, fühlte sich dafür schon zu groß. An der Waschschüssel im Schlafzimmer hatten wir uns gewaschen und waren nun bereit schlafen zu gehen. Wir krochen in das hohe Bett unter die schwere, riesige Federdecke und konnten unsere Augen fast nicht mehr aufhalten.

Hermann war es peinlich, dass er mit mir in einem Bett schlafen musste. Onkel Heini kam kurz herein, um gute Nacht zu sagen. Er hatte einen Anzug angezogen und wollte offensichtlich ausgehen. Er war eine imposante Erscheinung. Groß, schlank, sportlich und sehr gut aussehend. Das Haar mit ein wenig Pomade nach hinten gekämmt. Mit seinen dunkelblonden Haaren, den blauen Augen und seinem durchtrainierten Körper entsprach er dem Nazi-Ideal. Doch Heini sollte kein guter Germane werden, wie wir später erfahren werden. Wir wollten natürlich wissen, wo er den hinwollte und er log, dass er zum Tanzen gehen würde. Das war nicht ganz falsch, doch sollte es eher ein Tanz auf dem Vulkan werden.

Als er gegangen war, schlich ich ans Fenster und konnte sehen, dass ihn der Weg zum Wirtshaus am Markt führte. Ich kroch zurück unter die Bettdecke und machte mir so meine Gedanken. In den nächsten Tagen hörte ich viel zu und saß schweigend in einer Ecke, so dass sie mich gar nicht bemerkten, wenn sie sich unterhielten.

Die Ferien vergingen langsam im Siegerland und irgendwann hatte sich eine gewisse Routine eingestellt. Hermann war mit Onkel Heini ein paar Mal mit dem Motorrad gefahren und er war begeistert. Er fasste in diesen Ferien den Entschluss später einmal auch ein solches Motorrad besitzen zu wollen. Er war 13 Jahre alt und entschlossen, etwas aus seinem Leben zu machen. Bald hatte er die Schule beendet und musste sich überlegen, wie es dann weitergehen sollte. Vater hatte ihm schon allerlei Vorschläge gemacht und bei Handwerkern vorgesprochen, um seinen Sohn in eine Lehre schicken zu können.

Hermann hatte zunächst aber nur Interesse daran, Oma hinters Licht zu führen und ihr die leckersten Köstlichkeiten vom Dachboden zu stibitzen, ohne sich erwischen zu lassen. Oma Anna bewahrte dort die Vorräte für den Verkauf im Laden auf. Da gab es Kekse und Bonbons und Schinken und Wurst und Hermann hatte keine Hemmungen, sich zu bedienen. Wenn es ihm Oma schon nicht freiwillig gab, dann nahm er sich eben, was er haben wollte.

Die Onkel lachten, wenn Anna Reichmann mal wieder hinter Hermann her war und ihm die Ohren langziehen wollte. Sie wusste genau, welche Schätze auf ihrem Speicher lagerten und merkte sofort, wenn etwas fehlte. Dieser Rotzlöffel hat mehr kriminelle Energie wie Al Capone rief sie einmal. Anna war zwar schon älter, aber nicht doof und sie las viel Zeitung. Wenn sie auch im Falle ihres Enkels etwas übertrieb, so schien sie doch eine gewisse Vorahnung zu haben, was Hermans Zukunft anging.

Abends erzählte der Großvater Geschichten aus seiner Jugend. Wie er Bäckerlehrling war und was er alles damals auf sich nehmen musste. Auch vom ersten Weltkrieg konnte er erzählen. Damals hatte er für die Soldaten gebacken. Viele Höhen und Tiefen hatte er in seinem Leben überstanden und nun quälte ihn langsam die Bäckerkrankheit. Er hustete ständig und bekam nur schwer Luft.

Es war eine unbeschwerte Zeit bei den Großeltern. Wir waren den ganzen Tag draußen an der frischen Luft und abends hörten wir Geschichten von den Großeltern und den Onkeln. Und jeden Abend verabschiedete sich Onkel Heini von uns und ging ins Wirtshaus am Markt. Ich fragte ihn, was er da machen würde, doch er antwortete nur: Vielleicht die Welt ein bisschen besser machen. Beim Tanz? Wollte ich wissen. Da grinste er nur und gab mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn.

Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen und dachte nach, was es wohl sein könnte, dass er so ein Geheimnis daraus machte. Dann stand ich leise auf, zog einen Bademantel über und schlüpfte in meine Hausschuhe, die vor dem Bett standen. Leise schlich ich hinaus und ging über den Marktplatz hinein ins Wirtshaus. Frau Edelmann blieb fast der Atem stehen, als sie mich entdeckte. Sie nahm mich schnell mit hinter die hohe Theke. Ich erklärte ihr, dass ich zu meinem Onkel wollte. Sie tat zunächst so, als sei er gar nicht da. Doch ich bestand darauf, ich hatte ja selbst gesehen, dass er ins Wirtshaus gegangen war. Endlich ließ sie sich breitschlagen und ging mit mir hinunter in den Keller. Ich musste ihr aber versprechen, ganz leise zu sein. In der Gaststube saßen einige SS-Männer bei Bier und Zigarren, sie sollten meine Anwesenheit möglichst nicht mitbekommen.

Sie brachte mich in einen kleine Raum neben der Kegelbahn. Mir war ganz mulmig. Ich war mir meiner Sache nicht mehr sicher. Und Onkel Heini guckte auch nicht gerade begeistert, als er mich sah. Er saß dort mit dem Pastor Peter Klein, dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Krämer, dem Arzt Dr. Winter, dem Apotheker Benjamin Löwe und dem Leiter des Blauen Kreuzes, Heinrich Furchtmann, der aus Überzeugung und Glaubensgründen keinen Tropfen Alkohol trinken durfte und sich deswegen als besonders guten Christenmenschen sah. Ungeachtet der Tatsache, dass er Angst hatte rückfällig zu werden und deswegen den Alkohol scheute, wie der Teufel das Weihwasser.

Pastor Klein hingegen sah es nicht als Sünde, nach dem Abendessen ein Bier mit Wacholder hinunter zu spülen. Doch sollte der Genuss von Alkohol an diesem Abend nicht der eigentliche Grund für den Besuch in der Gaststätte sein. Onkel Heini erklärte mir, dass sie sich dort treffen würden, weil es Leute geben würde, die es nicht leiden konnten, wenn andere Menschen friedlich zusammenlebten. Aber ich hatte schon verstanden worum es ging. Ich wollte auch nicht, dass Jakob weggehen würde. Ich musste Heini versprechen, dass ich mit niemanden darüber sprechen würde und das tat ich auch. Bis zum heutigen Tag.“ Ich nehme einen Schluck Wasser.

„Kurz vor Ferienende kam meine Mutter für ein paar Tage zu den Eltern und Brüdern nach Eiserfeld, um uns Kinder wieder mit nach Hause zu nehmen. Schweren Herzens verabschiedete sie sich von ihrem Vater, dem es nicht gut ging. Diese verdammte Bäckerkrankheit bringt mich noch ins Grab hatte Opa scherzend und zugleich keuchend zu ihr gesagt. Er schlug sich lachend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, dabei entlud sich eine Mehlwolke aus seiner karierten Bäckerhose und erfüllte die Luft.

Mutter hatte fürchterlich mit ihm geschimpft. Er solle doch endlich mal an sich denken und den Jungen die Arbeit überlassen. Am nächsten Tag fuhren wir mit Mutter im Zug zurück nach Hagen.

Nach den Ferien sollte sich einiges ändern. Hermann musste zur Hitlerjugend und Vater regte sich fürchterlich darüber auf. Er fluchte, als er das Geld für die Uniform seines Sohnes auf den Tisch blättern musste und dazu auch noch einen Mitgliedsbeitrag entrichten sollte. Er schimpfte auf die braunen Rotzlöffel. Mutter fand die Sache mit der Hitlerjugend gut. Sie fand es sei besser, als wenn die Jungs auf der Straße herumlungern. Nun sammelten sie altes Eisen und Papier. Hermann schaffte es, immer ein paar Pfennige für sich abzuzweigen. Er entwickelte sich schnell zu einem kleinen Gauner. Seine krummen Geschäfte durften aber nicht auffallen, sonst würde er keine gute Bewertung vom Schaftsführer bekommen und dann konnte er eine Ausbildung vergessen. Doch wichtiger als die Ausbildung war ihm immer noch sein Traum vom Motorrad.

Ich werde das nie vergessen, als ich ihn einmal danach fragte, warum ihm das so wichtig wäre und er antwortete, dass er jemand sein wollte. Etwas Besseres. Und nicht wie Vater, der schon so lange auf ein Auto sparte und sich immer noch keins leisten konnte. Mir war als Kind schon klar, dass er das ohne harte Arbeit wohl kaum erreichen konnte. Doch Hermann glaubte noch an Wunder, an den Goldesel, der Dukaten scheißt.

Meister Jakob kam wie vereinbart jede Woche vorbei, um die Raten von den Ostereinkäufen abzukassieren. Er saß wie immer bei Mutter in der Wohnküche und trank seinen Muckefuck. Die Zeiten waren unruhig geworden. Die Akzeptanz der Juden in Hagen ging zurück und damit auch die Geschäfte. Ohne die alten Kunden, wie Mutter, hätte Jakob seinen Laden schließen können. Es war schon Ende Oktober, als sie letzte Rate gezahlt hatte. Und schon wurde es wieder Zeit, die Kinder für den Winter neu einzukleiden. Sie hatte bereits in den letzten Tagen die Wintermäntel hervorgeholt und geschaut, ob sie vielleicht hier und da einen Saum herauslassen konnte. Doch Hermann war so sehr gewachsen, dass er dringend einen neuen Mantel brauchte und auch die Hosen konnte er nicht mehr tragen. Winterschuhe sollte er auch bekommen.

Für Hermann war das letzte Schuljahr angebrochen. Im Sommer 1934 sollte er eine Lehre als Maurer beginnen, sofern er den Schulabschluss schaffte. Vater hatte mit dem Meister bereits alles besprochen. Hermann hatte in der Zwischenzeit sehr das Interesse an der Schule verloren. Kaum zu Hause angekommen, traf er sich mit seinen Kameraden. Wenn Vater ihm eine Standpauke hielt, argumentierte er immer, dass er ja auch eine gute Bewertung brauchen würde. Vater nahm es so hin, war aber nicht begeistert.

So ging das Jahr zur Neige und wir kauften wieder einmal bei Jakob Meyberg auf Pump ein. Man hatte ihm mehrfach nahegelegt, sein Geschäft aufzugeben, sein Hab und Gut zu veräußern und das Land zu verlassen. Er und seine Familie wurden als asozial beschimpft, dabei hatte sich Jakob jahrelang für die regionalen Belange im Stadtrat eingesetzt. Er wollte nicht einsehen, dass er als Deutscher nicht mehr willkommen sein sollte. Er wollte nicht aufgeben, auch wenn immer wieder seine Schaufensterscheiben zu Bruch gingen und SA-Leute vor seinem Geschäft die Kunden abschreckten.

Vaters Geschäft mit dem Siegerländer Brot lief ganz gut und er legte jeden Monat Geld für das neue Auto auf Seite. Einen neuen Anzug gönnte er sich in diesem Jahr nicht und auch Mutter versuchte ihre Kleider so gut es ging instand zu halten und zu flicken.

Zu Weihnachten strickte sie für die ganze Familie Socken und packte sie ordentlich in Geschenkpapier. Am Samstag, dem 23. Dezember 1933 brachte Vater nach der Arbeit einen kleinen Tannenbaum mit nach Hause, den Mutter im Wohnzimmer auf einem kleinen runden Tisch, festlich schmückte. Die Türe wurde gut verschlossen und ein Tuch über den Türgriff gehangen, um das Schlüsselloch zu verdecken. Sie kannte uns Kinder.

Am ersten Weihnachtstag machte Vater das Frühstück. In einer gusseisernen Pfanne auf dem Kohleherd hatte er Speck ausgelassen und Eier gebraten. Der Duft zog durch alle Räume, als er die Schlafzimmertüre öffnete, um die Familie zu wecken. Mutter hatte am Abend zuvor die gestickte Tischdecke aufgelegt, die sie im letzten Jahr gemacht hatte. Mit feinem Stich hatte sie Weihnachtssterne und Tannenäste aufgemalt. Der Küchentisch war schon festlich gedeckt, als Mutter in die Küche kam. Die Kaffeekanne versteckte sich unter einer riesigen Warmhaltehaube und das schöne, feine Porzellan mit dem Zwiebelmuster wartete darauf endlich mal wieder benutzt zu werden. Auch wir Kinder wurden von dem leckeren Duft geweckt und waren schnell fertig angezogen in der Küche. Nach dem Frühstück gingen wir in den evangelischen Gottesdienst zur evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Hagen Haspe in der Frankstraße. Wie üblich war die Kirche an diesem Weihnachtmorgen gut besucht. Wir fanden nur noch zwei Plätze in einer der hinteren Reihen und so saß ich auf dem Schoß meiner Mutter. Hermann musste stehen bleiben. Pastor Röhrich hatte wohl schlechte Laune, was merklich in seiner Ansprache an die Gemeinde Ausdruck finden sollte. Der gedrungene, rotwangige Mann stand in seinem Festtagsgewand auf der Kanzel hoch über seiner Gemeinde. Nachdem er die Gemeinde begrüßt hatte, legte er gleich los. Ich kann es euch heute nicht mehr genau wiedergeben, aber an einzelne Passagen erinnere ich mich sinngemäß sehr gut.

Ich möchte euch daran erinnern, warum wir heute hier sind. Es ist der Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus. Er ist zu uns gekommen und hat uns Nächstenliebe gelehrt. Achtung vor dem Leben. Auch und ganz besonders vor dem Leben asozialer Subjekte, zu denen Maria und Josef aus heutiger Sicht zweifelsohne gezählt hätten. Jesus jüdische Mutter und sein jüdischer Ziehvater hatten von dem neuen Christentum noch nie etwas gehört. Und nun saßen sie obdachlos in einem Stall und Maria musste ihr Kind zwischen Kühen und Schafen im Stroh zur Welt bringen.

Ein Raunen ging durch die Reihen der gläubigen Lutheraner und man blickte sich fragend an. Maria und Josef asozial? Um Gottes Willen!

Unsere asoziale Gottesmutter saß also in dem erbärmlichen Stall in Bethlehem und hatte nicht einmal ein richtiges Bett für sich und das Kind. Ihr Verlobter, der sich nicht daran erinnern konnte, intim mit ihr gewesen zu sein, verstand schon länger die Welt nicht mehr und musste wohl vor Liebe zu ihr blind sein. Wie sonst erklärt es sich, dass er trotzdem zu ihr hielt. Diese Geschichte übertrifft doch wirklich alles an unermesslicher Fantasie, was man sich nur vorstellen kann.

Die Gemeinde schüttelte verwirrt die Köpfe und ein paar Frauen rafften schon ihre Handtaschen zusammen und rückten ihre Hüte zurecht, um das Weite zu suchen. Doch der Pastor war noch nicht fertig.

Und nun frage ich Euch! Warum sind wir heute hier zusammengekommen?

Ruhe! Die Gemeinde saß wie versteinert und in großer Anzahl in ihren Bänken. Pastor Röhrich ließ die Stille geschickt eine Weile wirken, bevor er weitermachte und seine Gemeinde schon fast anschrie.

Ich sage Euch, warum Ihr hier seid! Ihr seid Christen, lutherisch evangelische Christen! Menschen, die Unterdrückung ablehnen! Die Nächstenliebe predigen! Vor Gott sind alle Menschen gleich! Das ist es, was uns der Sohn dieser asozialen Eltern beibringen wollte und für das wir uns so begeistert haben, dass wir es noch fast zweitausend Jahre später glauben. Und warum gibt es nun Menschen die Gleicher sind als andere?“

Pastor Röhrich musste ordentlich Luft holen, so sehr hatte er sich in Rage geredet.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Freunde, unsere Geschäftspartner, unsere Nachbarn, unsere Mitbürger ihrer Rechte beraubt werden durch dumme Ideologien. Gerade heute …

Nun standen die ersten Herren des Stadtrates auf und befahlen ihren Familien das Gleiche zu tun. Die Frauen stolperten hinter den Herren der Schöpfung her und zogen die Kinder mit sich. Die ersten fünf Familien hatten das Weite gesucht. Pastor Röhrich brachte nun seine Ansprache etwas ruhiger zum Ende.

Gerade heute müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, dass unser Glaube nie den einfachen Weg gegangen ist. Lasset uns nun singen. Wir singen das Lied Nummer 23 in unserem Gesangbuch: Es ist ein Ros entsprungen.

Der Pastor hatte seinem Entsetzten ordentlich Luft gemacht. Mutter war nach dieser Ansprache enttäuscht. Sie verstand nicht, was das mit Weihnachten zu tun haben sollte. Andere waren sogar nach Hause gegangen. Für Mutter war es kein schöner Gottesdienst gewesen. Vater fand, dass es längst überfällig war, dass die Kirche Stellung bezog. Aber er stellte auch in Aussicht, dass der Pastor wohl nicht mehr lange da sein würde.

Nach dem Mittagessen setzte sich Mutter an den Küchentisch und schrieb ihren Eltern und den Brüdern lange Briefe. Sie vermisste ihre Familie. Gerade zu Weihnachten sollten alle zusammen sein, doch das ging leider nicht. Vater heizte den eisernen Ofen im Wohnzimmer. Dieses Zimmer wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt. Die Briketts brachten eine heimelige Wärme in die ganze Wohnung. Ich lag auf dem schweren Teppich und betrachtete verträumt den wunderschönen Weihnachtsbaum, dessen Kerzen Vater heute schon angezündet hatte. Er erstrahlte in einem so feierlichen Glanz, wie ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte. Gottes Sohn musste schon etwas ganz Besonderes sein, dass sein Geburtstag von so vielen Menschen auf der ganzen Welt gefeiert wurde. Es gab kein Fest im ganzen Jahr, das so schön war wie das Weihnachtsfest. Am Abend sollten wir unsere Geschenke bekommen, obwohl wir gar nicht Geburtstag hatten. Hermann konnte es kaum noch abwarten. Er hoffte, endlich die Eisenbahn zu bekommen, die er sich schon so lange gewünscht hatte. Doch Vater hielt ihn längst zu alt für ein solches Geschenk. Schließlich sollte er bald in die Lehre beim Bauunternehmer Mayer gehen, da würde er gar keine Zeit mehr für Spielereien haben. Trotz der bösen Predigt von Pastor Röhrich ging das Jahr 1933 friedlich zu Ende, zumindest für die meisten seiner Einwohner auf der nördlichen Erdhalbkugel in Höhe des deutschen Reiches. In Amerika brachten Laurel und Hardy, als Dick und Doof, die Menschen mit ihrem neuen Film „Die Wüstensöhne“ zum Lachen. In Deutschland hatten viele Menschen Angst vor einer ungewissen Zukunft.“

Die Schuldfrage

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