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Zweite Station Christus am Ölberg
ОглавлениеKniend betet Christus vor Eibenzweigen, die an den Garten Gethsemane erinnern sollen. Ein Engel schwebt über den Zweigen. Er wurde vom himmlischen Vater geschickt, um Christus, seinem geliebten Sohn, Stärke und Zuversicht zu geben. Diese Station wird von acht Männern getragen.
„Schatz, hast du zufällig ein Buch der Connolly bei dir zu Hause im Schrank?“ Frank stöberte im Internet, um mehr über die Erfolgsschriftstellerin zu erfahren, während Simone einen Salat zubereitete.
Sie waren allein. Jessica holte zusammen mit dessen Eltern ihren Freund Matthias ab und würde anschließend bei ihnen übernachten.
„Du willst mir doch jetzt nicht sagen, dass du dich mit mir langweilst? Oder suchst du etwa Rat bei deinem Bostoner Kollegen?“ Simone stellte die Salatschüssel auf den Tisch.
„Wie kommst du nur auf so eine abwegige Idee“, sagte Frank und zog Simone zu sich auf den Schoß. Er brauchte etwas, um auf andere Gedanken zu kommen. Je mehr er sich mit Lizzy befasste, umso so unruhiger wurde er. Er konnte nicht genau sagen, ob es an ihrer Attraktivität lag oder daran, dass er das Gefühl hatte, sie hätte ihn bei dem Treffen angeschwindelt. Und wenn nicht angeschwindelt, so doch in irgendeiner Art hingehalten, ihm den klaren Blick auf das Wesentliche verstellt. Im Nachhinein wusste er nicht mehr, wie er das Treffen mit ihr bewerten sollte.
„Küss mich!“, befahl Frank Simone, die sich aus seinen Armen winden wollte.
Spielerisch gab sie ihm einen Klaps auf den Arm. „Frank.“
„Küss mich!“
„Wir wollen doch jetzt essen.“
„Das ist eine dienstliche Anordnung.“ Frank zog Simones Gesicht zu sich herunter. „Ich habe so einen Hunger.“
„Ja, dann lass uns doch essen.“
„Auf dich, mein Schatz.
„Mein Salatdressing ist nicht zu verachten, vielleicht solltest du …“ Er verschloss ihre Lippen mit seinem Mund, und sie stöhnte auf. „Frank. Der Salat.“
„Interessiert mich jetzt gar nicht.“ Er stand auf und trug sie ins Schlafzimmer.
„Was hältst du davon, wenn wir mal für ein Wochenende nach Weimar fahren und ins Theater gehen?“, fragte Frank später und knabberte zärtlich an Simones Ohrläppchen.
Obwohl er sich so sehr die Nähe zu ihr gewünscht hatte, schien selbst jetzt ein nicht zu überwindender Abstand zwischen ihnen zu sein. Nicht dass Simone Missfallen geäußert hätte, als er sie geliebt hatte. Es war wie sonst, und doch war es anders. Er hatte es vermisst, ihre Haut zu berühren, wenn sie in seinen Armen lag. Sie jedoch war fahrig, desinteressiert – und lustlos.
„Was quält dich?“, fragte er besorgt.
Simone versteifte sich und entwand sich ihm. „Findest du nicht, dass unser Zusammensein eher wie eine Pflichtveranstaltung wirkt?“
„Was?“, fragte er entgeistert.
Aufgrund ihrer unterschiedlichen Dienstzeiten war es nicht einfach, gemeinsame Stunden zu finden, und nun hatte sich diese Gelegenheit aufgetan, und er hatte sie genutzt. Augenscheinlich war es nicht der günstigste Moment gewesen, sie zu verführen.
„Weißt du eigentlich, dass wir seit einem Jahr eine On-Off-Beziehung pflegen? Für mein Alter ist das geradezu tödlich. Ich bin nun dreiundvierzig und an sich würde ich gerne eine feste Beziehung haben“, versuchte er zu scherzen.
Simone lächelte gequält.
„Was ist denn unser Problem? Haben wir überhaupt eines? Wir hatten doch geklärt, dass wir sehr gut zusammen sein und zusammen arbeiten können.“ Er musterte sie. Sie wich ihm aus und nestelte verlegen an ihrer Bluse herum, die sie sich übergestreift hatte. „Willst du mich nicht?“
„Doch“, kam es zögernd.
„Wollen wir heiraten?“, fragte er.
„Heiraten?“, hauchte sie perplex.
„Ich dachte, das ist das, was ihr Mädchen wollt.“ Er lächelte verlegen. „Das sollte ein Scherz sein. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass wir unsere Beziehung auf eine neue Stufe stellen sollten. Und heiraten scheint mir keine so schlechte Idee zu sein.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie langsam.
„Okay“, sagte er vorsichtig. „Wir müssen es ja nicht überstürzen. Wir können im Mai heiraten. Es ist noch ein paar Monate hin, und der Mai ist der schönste Monat im Jahr, und –“
„Frank! Stopp! Nicht so schnell“, unterbrach sie ihn.
„Ich bin mir sicher, dass wir sehr glücklich werden.“ Er umfasste ihre Hände und seufzte hörbar. „Wir sind doch schon glücklich.“
„Nicht wirklich“, sagte Simone.
Frank zog seine Hände zurück. „Meinst du wegen Jessica?“
Unruhig begann Simone, das Schlafzimmer zu durchwandern. „Doch nicht wegen Jessica! Wie kannst du das nur fragen? Sie ist das wundervollste Mädchen, das man sich vorstellen kann. Wenn ich allein schon sehe, wie sie sich um Matthias kümmert. Und die Schule auch noch schafft. Und sie ist so wunderbar, dass … dass …“
„Was ist es denn dann?“
Sie schwieg und starrte ihn an. „Ich weiß es nicht.“
Er versuchte sie zu umarmen, aber sie wich ihm aus. „Wir können gemeinsam ein Kind haben, Simone. Liebling! Natürlich können wir das. Wir sind doch nicht zu alt für Kinder.“
„Du verstehst das nicht“, sagte Simone und wollte das Zimmer verlassen.
Er hielt sie auf, indem er ihre Schultern umklammerte. „Was verstehe ich nicht?“
Ihre Stirn lag in Falten, ihre Augenbrauen waren bis zur Schmerzgrenze zusammengezogen. Es sah aus, als ob sie vermeiden wollte, vor ihm zu weinen. „Du kannst das nicht verstehen.“
„Ich könnte es versuchen.“
Sie entwand sich seiner Umklammerung und antwortete: „Du bist nicht von hier. Also kannst du es nicht verstehen.“
Sie verließ den Raum. Verletzt starrte er ihr nach. Das Klappen der Haustür riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Sie war tatsächlich gegangen. Er fluchte laut vor sich hin, als er zum Kühlschrank ging und sich frustriert eine Flasche Bier nahm. Sie war doch wohl nicht wegen der Connolly eifersüchtig. Aber dass sie eifersüchtig war, spürte er.
***
Es hatte lange gedauert, aber endlich war ein dienstfreies Wochenende, und Frank fuhr mit seiner Tochter nach Weimar. Sie brauchte die Atempause vom Alltag so sehr wie er. Das Shoppen lenkte sie von ihren Problemen ab. Er hatte sich vorgenommen, auch nicht ungeduldig zu werden, wenn sie wieder einmal ausufernd lange brauchte, um sich für ein Paar Schuhe zu entscheiden. In der Zeit hätte er nicht nur die passenden Schuhe für sich gefunden, sondern auch deren Sohlen abgelaufen. Aber er übte sich in Geduld. Möglicherweise war diese Einkaufstour auch eine gute Vorbereitung für das nächste Treffen mit Lizzy. Waren es nicht die Geduldigen, die ins Himmelreich kamen? Und wenn nicht, so hoffte er es.
„Warum stehen wir jetzt vor einer Tierhandlung?“, fragte er verblüfft, nachdem sie das gefühlt hundertste Schuhgeschäft ohne Ergebnis verlassen hatten. „Bitte sag mir jetzt nicht, dass du einen Hamster willst!“
„Ach, Papa! Es macht einfach Spaß, sich alles genau anzuschauen, und dann später davon zu träumen.“
„Du träumst von einem Katzenkratzbaum?“
Sie grinste. „Schau dir mal die Halsbänder an. Sind die nicht schick? Und alle mit einem Sender versehen.“
„Ist das jetzt ein Fingerzeig, dass ich dir auch so ein Halsband kaufen soll? Damit ich weiß, wo du nachts auf welchen Feten rumturnst?“
„Papa! Kannst du mich nicht mal ernst nehmen! Ich bin sowieso bei Matthias. Andere Jungs interessieren mich nicht.“
„Aber dein Leben besteht nicht nur darin, die Krankenschwester für einen Jungen zu spielen“, sagte Frank, dem dieses Thema immer wieder mal im Kopf herumging. Was würde aus seiner hübschen Tochter werden, wenn Matthias nicht wieder gesund wurde?
„Ich bin ihm das schuldig. Und ich liebe ihn.“
Er seufzte: „Ich weiß.“
„Er hat mir das Leben gerettet.“
„Ja, mein Schatz, aber was hat das mit den Halsbändern zu tun?“
„Ich habe einen Plan.“
Frank starrte sie an, und Jessi lachte.
„Du willst ihm das Halsband schenken?“, neckte er sie.
Sie kicherte. „Ich möchte mit Matthias eine Hundetherapie machen. Du weißt schon, man geht mit einem Hund in das Krankenhaus, und er kann ihn streicheln und fühlt sich dadurch besser. Und wenn der Patient glücklich ist, sind die Heilungschancen viel größer.“
Frank beäugte sie. „Und woher kommt der Hund?“
Jessi seufzte. „Da ist es ja.“
„Nein“, sagte Frank.
„Er wäre auch nur ganz klein.“
„Wie klein?“, fragte er beunruhigt.
Jessica gab die Größe mit ihren Händen an.
„Du willst eine Ratte?!“
„Kleine Hunde fressen weniger. Und du würdest gar nicht merken, dass wir einen hätten.“
Bis ich mich auf ihn setze, dachte Frank. „Und wer kümmert sich um das Tier?“
„Ich“, sagte Jessica.
„Oh Jess, wann hast du bloß dein ehrliches und völlig anspruchsloses Interesse an Schuhen verloren? Ich meine im Vergleich zu einem Hund. Schuhe wollen nicht Gassi gehen.“
„Manche Schuhe schon, Papa.“
Frank zog eine Grimasse. „Das Leben mit einem Hund ist bei meinen Dienstzeiten nicht möglich.“
Jessica lachte herzhaft. „Na gut, wenn nicht heute, dann später. Ich kenne dich, du hast ein butterweiches Herz.“
„Das befürchte ich auch“, murmelte er und brachte sie damit wieder zum Lachen.
Er liebte ihr Lachen. Er liebte sie. Aber ein Hund?! Hatte er nicht schon genug Probleme?
Er versuchte, sich den Tag nicht zu verderben, indem er an Simone dachte oder von seinen Schwierigkeiten mit ihr sprach. Er hätte seine siebzehnjährige Tochter sicherlich gefragt, was sie von Simones Entscheidung hielt, wenn sie nicht eigene Sorgen hätte. Ihre große Liebe Matthias war zwar aus dem Koma erwacht, nachdem die Ärzte tagelang um sein Leben gekämpft hatten, aber er war noch nicht in der Lage, sein vorheriges Leben wieder in voller Gänze aufzunehmen. Die Fortschritte, die Matthias machte, waren viel kleiner als erhofft. Da durfte Frank sie nicht auch noch mit seinen Problemen belasten.
***
Neureiter war bekanntermaßen eine wandelnde Informationsbörse. Dabei sah er gut aus, wirkte effizient, was er auch war, war beliebt bei den Kollegen, und so unerträglich … munter!
Rothe versuchte ihn zu ignorieren. Der Montagmorgen war zu jung für Neureiters Energie. Knurrend erwiderte er dessen Begrüßung und erkannte plötzlich Ähnlichkeiten zwischen sich und Sture Bäcker.
„Gestern hat man ein unabgeschlossenes Auto vor dem Bahnhof gefunden“, informierte ihn Neureiter.
Durch das offene Fenster hörte man das Martinshorn der Feuerwehr. Rothe verschanzte sich hinter dem Computerbildschirm.
„Die Connolly ist ein echter Promi. Meine Freundin kennt sich darin aus. Sie sagt, sie macht mit ihren Büchern Millionen“, plauderte Neureiter und fuhr seinen Computer hoch.
„Mhmmh.“
„Haben Sie sie schon getroffen?“
Rothe richtete seine Aufmerksamkeit schließlich auf den jungen Kollegen und starrte ihn abwartend an.
„Sind Sie nicht neidisch auf so eine Person? Wenn man mal so darüber nachdenkt, was die mit ihren Büchern verdient.“
„Sie hätten viel eher Grund, neidisch zu sein, Neureiter, Sie verdienen weniger als ich.“
Martin Neureiter dachte darüber nach und meinte schließlich: „Vielleicht sollte ich es mal mit Schreiben versuchen, meine Protokolle sind nicht übel.“
Rothe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Kollege, wenn Sie mit dieser Art des Schreibens Millionen machen, werde ich sofort Ihr Agent.“
Noch bevor Neureiter kontern konnte, platze Bäcker herein und schnaufte: „Die neue Biogasanlage in Mengelrode brennt.“
Rothe und Neureiter sprangen gleichzeitig von ihren Stühlen auf und griffen nach ihren Jacken.
Eine Hundertschaft an Einsatzkräften versuchte den Brand in der Biogasanlage einzudämmen. Auch aus den Nachbardörfern waren die Männer der freiwilligen Feuerwehren gekommen. Das Bild, das sich ihnen bot, erinnerte Rothe an ein überlaufendes Schaumbad. Aus einem der vier Betonbehälter, die wie gigantische Kochtöpfe mit grünen Foliendeckeln auf einem imaginären Herd standen, quoll der Inhalt über den Rand. Da vor jeder Inbetriebnahme einer Biogasanlage eine Begehung mit der Feuerwehr gemacht wurde, kannten sich die Feuerwehrleute aus, trotzdem war Vorsicht geboten. Der Brand war noch nicht unter Kontrolle. Das unter der Folie des Gärbehälters brennende Feuer blakte aus den geschmolzenen Öffnungen, bis die Abdeckung wie ein Leopardenfell wirkte. Da das brennende Methangas sich nicht mit Wasser löschen ließ, musste es mit Löschschaum erstickt werden. Dabei war die Gaskonzentration im Auge zu behalten, um eine Entzündung der anderen Behälter zu vermeiden. Ein zweiter Brandherd war in einem kleineren Gebäude, das wohl als Technikraum diente.
„Die Folie muss da weg, sonst kommen wir nicht an das Feuer ran“, schrie ein Feuerwehrmann und fuchtelte mit den Armen, um den Fahrer des Traktors zu einem erneuten Versuch zu bewegen, die Folie vom Fermenter zu ziehen. Er misslang.
Während die Feuerwehrleute kämpften, nahm Rothe alles in sich auf: Er registrierte Kinder, die sich in respektvollem Abstand am Feldrand aufhielten. Einen Jungen, der an seinem Fahrrad lehnte und auf seinem Smartphone herumtippte. Eine Frau, die die Kinder vom Geschehen wegriss und sie fortzerrte. Weitere Schaulustige, die ihre Fahrzeuge am Straßenrand abgestellt hatten und das Spektakel filmten. Und Frederic Rabe von der Thüringer Allgemeinen Zeitung, der sich Notizen machte und Fotos schoss. Rothe hätte ihn mit den kurzen Haaren beinahe nicht erkannt. Seine John-Lennon-Matte war einem Juristen-Look gewichen: kurzes Haar, randlose Brille.
„Neureiter!“, befahl Rothe und deutete mit dem Kopf in Richtung der Schaulustigen.
Neureiter stiefelte zu der Menge und veranlasste, dass sie auf Abstand blieben.
„Was wissen Sie über den Biogasbetreiber?“, fragte Rothe, als er zurück war.
„Hans Hermann Eckermann, Landwirt, geschieden, in zweiter Ehe mit einer Polin verheiratet. Drei Kinder. Eltern sind schwer krank. Man weiß nicht, ob der Vater es noch bis Weihnachten macht. Ihm gehört der Hof. Wird er jetzt vielleicht an seinen Sohn übergeben. Alle, die in Mais machen, liefern an ihn. Passionierter Jäger.“ Neureiter hatte die Informationen heruntergerasselt wie der Sportmoderator die Fußballergebnisse. „Noch etwas, das Sie wissen wollen?“
„Hat Eckermann Schulden?“, wollte Rothe wissen.
„So viel ich weiß, nicht. Aber ich kann ja mal meine Tante fragen.“
Rothe erinnerte sich in einem anderen Zusammenhang an den Namen Eckermann. „Was macht eigentlich die Sache mit dem umgekippten Anhänger? Hat das nicht auch mit Eckermann zu tun?“
„Jep. Die Fahrzeuge besaßen kein gültiges Kennzeichen. Er ist aber trotzdem auf öffentlichen Straßen gefahren, und da passierte es dann. Der Trecker rutschte in den Graben und der Anhänger mit dem Güllefass kippte um.“
„Eckermann hat einen großen Betrieb?“
„Muss er, wenn er eine Biogasanlage hat.“
„Den Trecker hat er selbst gefahren?“
„Nein.“
„Neureiter, lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen, wir sind nicht bei Jauch. Wer hat ihn gefahren?“
„Willi Waldmütz.“
„Willi Waldmütz? Wollen Sie mich verarschen? Das ist ein Name, den können Sie in Ihren Romanen verwenden, und ich sage Ihnen gleich, Kollege, Sie werden als Schriftsteller scheitern.“
Neureiter zuckte die Schultern. „Gestern hatte ich einen Versicherungsvertreter an der Strippe, der hieß Wursthorn.“
Rothe schnaubte und winkte ab. „Willi Waldmütz hat also den Trecker mit dem Anhänger gefahren. Ohne Zulassung. Und der Anhänger mit dem Güllefass ist umgekippt? Das ist ja eine schöne Schweinerei.“
„Kann man wohl laut sagen.“
„Noch etwas?“
„Nö.“
„Die Frage aller Fragen: Hat er Feinde?“
Neureiter wirkte überrascht, als er antwortete: „Aber nein doch. Willi ist der netteste Mensch auf Gottes Erde, der ist nur –“ Er machte eine entsprechende Handbewegung, „eingeschränkt denkfähig. Sie wissen schon, was ich meine, der macht das, was man ihm sagt.“
„Ich habe nicht diesen Waldmütz gemeint, sondern Eckermann“, knurrte Rothe.
„Ach so! Wenn man unterstellt, dass jeder erfolgreiche Mensch Feinde hat, müsste er auch welche haben.“
„Reden Sie nicht so verklausuliert, das versteht ja kein Mensch.“
Neureiter starrte seinen Vorgesetzten ratlos an.
Rothe verdrehte die Augen. „Neureiter, dann reden Sie halt frei von der Leber weg. Alles, was Ihnen zu Eckermann einfällt.“
„Gut, Chef. Eckermann hat keine Feinde. Auf seinen vierzigsten Geburtstag ist das ganze Dorf gekommen, um zu gratulieren. Wer wird da erst alles zu seinem Fünfzigsten kommen?!“
„Und?“
„Er hat einen Ruf als gewiefter Geschäftsmann.“
„Das wollte ich wissen.“
Auf dem Weg zum Auto ging er an dem Jungen vorbei, der immer noch mit seinem Smartphone hantierte und Bilder machte. Rothe nickte ihm kurz zu, was mit einer gerunzelten Stirn quittiert wurde.
Zwei Stunden später kam die Meldung, dass die Feuerwehr jemanden im Technikraum gefunden hatte. Der Mann war bewusstlos und mit Verdacht auf Rauchvergiftung ins Krankenhaus gebracht worden. Bäcker informierte Rothe, dass es sich bei dem Verletzten um einen Anton Dewe handelte, einen Gelegenheitsarbeiter. Mehr konnte er nicht sagen, was Rothes Laune nicht gerade hob.
Kaum hatte Rothe den Hörer auf die Gabel geknallt, klopfte es und Rabes Kopf erschien im Türspalt. Rothe winkte ihn herein. Der Journalist hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf, sondern löcherte ihn mit Fragen. Es kostete Rothe gewisse Mühe, Rabe nicht merken zu lassen, wie mangelhaft informiert er sich fühlte beziehungsweise sogar war, und dass Bäcker und nicht er die Ermittlungen führte. Es war ein bisschen wie ein Versteckspiel, und Rothe wollte auf gar keinen Fall den Eindruck aufkommen lassen, er sei inkompetent. Und was seine persönliche Arbeitsmoral anging: die war gerade dabei abzuschmieren.
Nachdem sich die Männer über das Wenige, das sie wussten, ausgetauscht hatten, bat Rothe um die Fotos vom Brand, und zwar alle Fotos, auch die, die mit dem Brand direkt nichts zu tun hatten. Rabe sicherte sie ihm zu; er würde einen Stick mit den Fotos vorbeibringen. Als der junge Mann Notizbuch und Stift einsteckte und sich verabschiedete, atmete Rothe erleichtert auf. Endlich allein, keine Fragen mehr, keine mühsamen Antworten.
Diese Stille wurde eine Stunde später von einem hereinpolternden Bäcker zerrissen. „Ein Supergau. Der Schaden müsste zwischen zweihundert- und dreihunderttausend liegen. Man weiß nicht, wie das Feuer entstanden ist, aber dass es sich sehr schnell ausgebreitet hat, ist sicher. Der Brandexperte wird das untersuchen müssen.“
Rothe ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. „Was geben die Überwachungskameras her?“
„Das können wir wohl vergessen. Da ist nichts mehr. Von der Computeranlage neben dem Technikraum ist nicht viel übrig.“
„Was ist mit dem Verletzten?“, fragte Rothe.
„Ist nicht bei Bewusstsein. Ich will ja nicht unken, aber den hat es schlimm erwischt, und es sieht nicht gut für ihn aus.“ Neureiter kam mit erhitztem Gesicht hereingestürmt, in den Händen eine Brötchentüte und eine Kaffeekanne.
„Ich bringe noch Becher“, rief er, stellte das Essen ab und rauschte wieder hinaus. Keine zwei Minuten später war er mit frisch abgewaschenen Bechern zurück. „Bis zur Maisernte hat er alles wieder im Griff. Die Versicherung übernimmt den Schaden.“
„Du bist ziemlich optimistisch“, sagte Bäcker.
„Warum denn auch nicht? Wenn es ein technischer Defekt ist?“
„Wenn es ein denn technischer Defekt ist. Das kommt ihm bestimmt ganz gelegen“, knurrte Bäcker und griff sich einen Becher. Er war plötzlich extrem ungehalten, und seine Wut richtete sich gegen Neureiter. „Alle leben sie von Eckermann. Es gibt kaum jemanden, der nicht an ihn liefert oder für ihn arbeitet. Mais, Mais, Mais, wohin du auch guckst.“
„Wovon sprichst du?“, fragte Neureiter. „Gehst du davon aus, dass er den Brand selbst gelegt hat? Oder glaubst du, dass er sich Feinde gemacht hat? Eckermann hat keine Feinde.“
„Ein Mensch, der sich mit Gefälligkeiten Freunde verschafft, hat Feinde. Martin, du bist ein solcher Grünschnabel. Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, oder willst du es nicht wahrhaben?“
Neureiter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, das! Das ist doch nichts. Meine Großcousine hat nicht nachgedacht, abgesehen davon hat sie genug Geld, sie hätte es nicht gebraucht. Sie wollte einfach nur weg und …“
Nolte trat ein und unterbrach Neureiters Ausschweifungen. „Habt ihr euch schon um das verlassene Auto gekümmert?“
„Das bearbeitet der diensthabende Kollege“, sagte Neureiter.
Rothe nahm Simone den Bericht ab, den sie ihm kommentarlos entgegenstreckte, und überflog ihn. „Scheint doch alles geklärt zu sein.“ Er legte die Unterlage auf seinen Aktenstapel.
Sie runzelte die Stirn: „Hast du wieder ein Treffen mit der Connolly?“
„Nochmal die Connolly?“, fragte Neureiter neugierig.
„Nein, heute nicht. Sonst noch etwas, Kollegin? Wir sind gerade bei einem anderen Fall.“ Rothe streifte sie nur mit einem Blick und wandte sich dann wieder Neureiter zu.
„Oh, Entschuldigung, Kollege, da will ich die Elefantenrunde mal nicht stören“, sagte sie.
Sichtlich gekränkt verließ Simone das Zimmer, und ehe Neureiter nur einen Gedanken über die Beziehung Rothe/Nolte verschwenden konnte, kehrte Rothe zum ursprünglichen Thema zurück. „Was war das mit der Großcousine?“
Neureiter antwortete: „Sie wollte ihre Gärtnerei verkaufen. War ihr zu viel Arbeit, abgesehen davon wollte sie zu einem Bekannten ziehen. Nun, jedenfalls hat Eckermann ihr unter die Arme gegriffen und ihr einen Teil der Maschinen abgekauft.“
„Abgeschwatzt wolltest du wohl sagen“, brummte Bäcker.
„Nein, das wollte ich nicht sagen“, widersprach Neureiter.
Bäcker ignorierte ihn und erklärte Rothe: „Um es abzukürzen: Wenn jemand einer alten Frau einen nagelneuen Kleintrecker für den halben Preis abkauft, obwohl die Maschine noch keinen Kilometer gelaufen ist, wie würden Sie das nennen? Einen Freundschaftsdienst? Der Neffe wollte die Gärtnerei weiterbetreiben und plötzlich fehlen die Maschinen. Und wer hatte da seine Hände im Spiel?“
„Nun ja, Eckermann ist schon ein Schlitzohr, aber –“, wandte Neureiter ein.
„Hat er den Trecker gekauft?“, fragte Rothe.
„Nein, er ist der Mann der Gefälligkeiten. Eine Hand wäscht die andere. Er hat den Trecker an einen Freund vermittelt.“
„Und die Frau war damit einverstanden?“
„Die hat doch gar nicht gemerkt, dass sie übers Ohr gehauen wurde“, schnaubte Bäcker aufgebracht.
„Ach, Sture, das kann man so nicht sagen“, wehrte Neureiter ab.
„Durchaus kann man das. Mit dem Anhänger war es das gleiche. Plötzlich war er weg.“
„Der hatte doch keinen TÜV mehr“, sagte Neureiter.
„Deswegen verschenkt man keinen Anhänger. Der war auch fast neu. Er hat ihn ihr auch abgeschwatzt. Ich weiß überhaupt nicht, warum du ihn verteidigst, Martin. Sie hätte das Ding auch stehen lassen können. Es frisst ja kein Brot, nicht so wie ihre Pferde. Aber die alten Klepper hat Eckermann nicht haben wollen, die kamen zum Abdecker.“
Neureiter gab es auf, darauf noch etwas zu entgegnen.
„Sie können Eckermann nicht besonders leiden, scheint mir“, sagte Rothe.
„Ich bin nicht der Einzige.“
„Und glauben Sie jetzt, die Großcousine oder einer aus ihrer Familie könnte womöglich bei diesem Brand nachgeholfen haben?“
„Natürlich nicht!“, wurde Neureiter laut. „Meine Großcousine ist …“
„Eine dumme Person“, vollendete Bäcker den Satz.
„Also hör mal, Sture, was ist denn heute mit dir los? Ich habe dich ja noch nie so reden hören“, stieß Neureiter empört aus.
„Wenn es um deine Familie geht, bist du blind und taub, Martin“, sagte Bäcker und zu Rothe: „Die Großcousine ist die Frau, die unserem stadtbekannten Alkoholiker Anton Dewe Kost und Logis gegeben hat und ihm fünfhundert Euro in die Hand drückt, weil der mal nach der Heizung sieht. Und so war es auch, er hat nur nach der Heizung gesehen, sie nicht repariert. Die war nämlich gar nicht kaputt. Und als sie ihm nicht noch mehr geben wollte, dafür dass er angeblich die Pferde gefüttert hatte, – stattdessen hatte er seinen Rausch im Stall ausgeschlafen –, hat er ihr gedroht.“ Und wieder an seinen jungen Kollegen: „Und nun komm mir nicht moralisch, Martin, dass ich hier Familiengeheimnisse ausplaudere. Du weißt genau, was ich von dieser Geschichte halte“
„Du übertreibst maßlos, Sture. Bei meiner Großcousine hat er bei der Arbeit nie getrunken“, wehrte sich Neureiter.
„Wer’s glaubt“, knurrte Bäcker und stampfte aus dem Zimmer.
Rothe sah ihm verdutzt nach. Schließlich fragte er Neureiter: „Was halten Sie davon, dass Dewe bei Eckermanns Anlage gefunden wurde, Kollege?“
Neureiter starrte auf seinen Bildschirm. „Er wird dort seinen Rausch ausgeschlafen haben, nehme ich an.“
„Also hat er doch bei der Arbeit getrunken.“
Neureiter zuckte die Achseln. „Vielleicht hat er nicht gearbeitet.“
„Es hat eher den Anschein, er habe sich vor der Arbeit gedrückt.“ Rothe dachte noch eine Weile darüber nach und entschied, dass es nicht seine Sache war. Sollte doch Bäcker den Fall bearbeiten. Er fragte sich, ob er die Connolly wegen eines weiteren Treffens anrufen sollte oder mit Simone reden, der er etwas unglücklich über den Mund gefahren war. Er stellte fest, dass er zu beidem keine Lust hatte, und griff sich den obersten Bericht aus seiner Ablage.
Das zurückgelassene Auto. Der Bericht las sich flüssig. Da hatte ein Kollege seine Arbeit getan, der sich im Verfassen von Protokollen auskannte. Das Auto war ein Mercedes, Baujahr 1992, Diesel, Karosserie rot, gepflegt. Der Kilometerstand lag im sechsstelligen Bereich. Der Wagen war Montag früh von einer Politesse unverschlossen vor dem Bahnhofsgebäude gefunden worden. Der Zündschlüssel steckte. Persönliche Gegenstände waren nicht gefunden worden. Anhand des Kennzeichens konnte der Name der Halterin ausfindig gemacht werden. Die Bericht schloss mit dem Vermerk: Halterin tel. nicht angetroffen. Wagen wurde abgeschlossen. Es wurde eine Kurznotiz im Auto hinterlassen, dass der Schlüssel auf der Polizeidienststelle abgeholt werden kann.