Читать книгу Das Kreuz - Astrid Seehaus - Страница 9

2012

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Rosenmontag

Nichts hätte Frank Rothe, Polizeikommissar in Heilbad Heiligenstadt, in diesem Moment mehr erschüttern können als die Tatsache, dass er sich doch tatsächlich von seinem Untergebenen Martin Neureiter hatte überreden lassen. Noch bevor Rothe den Klingelknopf drückte, wusste er, dass dieser Besuch eine ausgesprochen bizarre Idee war, wenn nicht sogar vollkommen idiotisch. Er hätte nicht auf den Obermeister hören sollen, der Jüngste in seinem Team, zugegebenermaßen ein helles Köpfchen, jedoch manchmalein bisschen oberschlau.

Wenn Rothe es recht betrachtete, war es immerhin besser, sich mit einem Neureiter und seinen Einfällen herumzuschlagen, als angeschwiegen zu werden. Schweigen konnten die Eichsfelder, er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Und so war Neureiter sein einziger Freund im neuen Umfeld. Ein Freund, den er nicht vor den Kopf stoßen wollte. Das war auch der Grund gewesen, diese Einladung zu einem ausgelassenen Faschingsabend, wie nur die Eichsfelder ihn feiern können (Originalton Neureiter), anzunehmen.

Erfurt war bekannt für den größten Karnevalsumzug Thüringens, doch was wusste Rothe schon vom Eichsfelder Karneval. Nichts. Wenn er doch nicht in diesem lächerlichen Sheriffkostüm stecken würde. Hatte seine Tochter Jessi ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt? Er befürchtete, er war es selbst gewesen, der auf diese Schnapsidee gekommen war. Natürlich war er kein Karnevalsignorant. Wenn er früher in Erfurt keinen Dienst gehabt hatte, hatte er gefeiert. Es war die andere Seite in ihm, die Bedenken äußerte. Der Psychologe, der neben dem Singlevater und dem Polizisten auch noch in ihm steckte; und der fragte, ob er sich einen Sheriffstern an die Brust geheftet hatte, weil er mehr Mann sein wollte, als er tatsächlich war. Die Stimme war unnachsichtig und wollte wissen, ob er dieses Symbol von Männlichkeit und Stärke brauchte. Und wenn ja, warum und als Kompensation für was. Wie sah sein Liebesleben aus?

Rothe verkniff das Gesicht. Diese Selbstanalyse nervte. Er seufzte. Nun hatte er bereits mehrfach geklingelt und niemand öffnete. Wenn Bäcker darauf hoffte, Rothe würde sich lächerlich machen, indem er durch ein Fenster stieg, würde der Kollege sich täuschen. Rothe zog es dann eher vor zu gehen. Auch wenn Simone ihm später Vorhaltungen machen würde.

Ob sie auf ihn wartete? Irgendetwas stimmte seit einiger Zeit nicht zwischen ihnen. Er hätte seine Qualitäten als Liebhaber sehr gern unter Beweis gestellt, war aber an ihrem Unwillen gescheitert. Sie wollte nicht, wenn er wollte, und dass sie mal wollte, kam gar nicht vor, kurz gesagt: Simone war so verschlossen wie ein Priester, der sich auf das Beichtgeheimnis berief.

Rothe zog den Finger zurück, der gerade erneut die Türglocke auslösen wollte.

Würde es dem Team schaden, wenn er tatsächlich nicht auflief? Würde es dem Team überhaupt nützen, wenn er dabei wäre? Würde es ihm den Zugang zu Sture Bäcker erleichtern? Würde sein Kommen überhaupt einen besseren Teamplayer aus ihm machen? Grundsätzlich war das gemeinsame Feierabendbier immer gut und richtig. Nicht nur ein gemeinsam gelöster Fall schweißte zusammen und machte aus einem Haufen unterschiedlicher Persönlichkeiten ein Team, auch gemeinsamer Humor oder gemeinsam erlebte Freizeit, gemeinsame Erfahrungen, wie eben auch das ab und zu gemeinsam gestemmte Bier, konnten einem die Kollegen näher bringen. Sie waren noch kein richtiges Team. Jedenfalls kein vergleichbares zu den Erfurter Kollegen, die er Knall auf Fall hinter sich gelassen hatte. Bereute er seinen Weggang aus Erfurt? Bisher hatte Rothe Neureiters Anläufe, ihn auf den Fußballplatz mitzunehmen, wegen seiner Tochter ausgeschlagen. Sie brauchte ihren Vater, mehr als der Heiligenstädter SC einen weiteren Zuschauer. Aber Sture Bäcker war ein Problem. Er wirkte wie ein Monolith in einer zerklüfteten Landschaft. Rothe war vor einem Jahr wie ein Meteorit in der Kreisstadt aufgeschlagen und versuchte seitdem, seine Persönlichkeit zu entfalten und seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, was manchmal enorm erschwert wurde. Schon allein auch wegen Hauptmeister Simone Nolte, Pressesprecherin der Heiligenstädter Polizei. Er war in sie verliebt. Dachte er zumindest. Bisher war er davon ausgegangen, sie würde das Gleiche für ihn empfinden. Aber es schien komplizierter. Sie war die Venus und er der kleine Sputnik. Auf Dauer war das ziemlich anstrengend. Gedankenverloren polierte er den Sheriffstern. Wäre er doch besser als James Bond gegangen!

Die Musik im Haus wurde plötzlich lauter. Er konnte nicht beurteilen, wie viele Menschen schon vor ihm gekommen waren, die Straße war jedenfalls auffallend leer.

War er überhaupt richtig?

Er trat einen Schritt zurück und überprüfte die Hausnummer. Sie stimmte. Es musste noch einen Hintereingang geben. Er wollte sich schon abwenden, um danach zu suchen, als die Haustür aufsprang und er in die Dunkelheit des Flures gezerrt wurde.

„Da bist du ja endlich“, schnaufte eine Stimme an seinem rechten Ohr.

Ausdünstungen von Kirschlikör und einem schweren Parfüm raubten ihm den Atem. Ein feuchter Mund suchte seinen Hals, und eine kräftige Hand presste sich auf seine Brust.

„Oh, ein Orden?“, gurrte sie.

„Ein Sheriffstern“, entgegnete er dümmlich.

Der Versuch, die Frau von sich zu schieben, scheiterte an ihrem Alkoholpegel. Sie schien völlig enthemmt. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass es nicht Simone war.

„Lassen Sie das! Ich bin Polizist!“ Diese Argumentation kam ihm ebenso wenig intelligent vor wie seine Erläuterung zum Sheriffstern. Wo war er nur hineingeraten?

„Ich denke, du bist Sheriff? Wie originell, sich für unser erstes heißes Date zu verkleiden.“

Eine flusige Boa umschlang seinen Hals und der Geruch von Mottenkugeln reizte ihn zum Niesen. Der Hut rutschte ihm vom Kopf.

Während er den Niesreiz zu unterdrücken versuchte, fummelte sie weiter an ihm herum. Was für eine absurde Situation, dachte er und musste sie daran hindern, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen.

„Wo sind die anderen?“, wollte er wissen.

„Welche anderen?“, grunzte sie.

Er stutzte. Sie hatte Recht. Welche anderen? Ganz offensichtlich waren sie allein. Er war im falschen Haus! Aber das konnte doch nicht sein! Straße und Hausnummer hatte er mehrmals überprüft.

Neureiter und seine Scherze!

Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, während er sich ihren fleischigen Armen entwand.

„Wo wolltest du denn hin, schöner Mann?“, lallte sie und ließ sich schwer atmend auf die nächstbeste Sitzgelegenheit sinken: eine Chaiselongue. Einladend klopfte sie auf die freie Stelle neben sich. „Möchtest du mir nicht Gesellschaft leisten?“

Rothe überging die Frage und besorgte ihr ein Glas Wasser aus der Küche.

„Trinken Sie, dann wird es Ihnen besser gehen“, setzte er an, als er ins Zimmer zurückkehrte, doch sie war in der Zwischenzeit eingeschlafen.

Das Glas stellte er auf das Beistelltischchen, bedeckte ihren leicht bekleideten Körper mit einer Decke und zog die roten Seidentücher von den Lampen, um einen Zimmerbrand zu vermeiden. Er nahm den Hut vom Boden und setzte ihn sich auf. An der Haustür stieß er auf einen jungen Mann.

Instinktiv zog Rothe die Tür hinter sich ins Schloss. „Wer sind Sie?“

Der junge Mann stellte sich als Ramon Fernandez vor.

„Ein Freund?“, fragte Rothe misstrauisch, ganz Polizist.

„Wie man’s nimmt“, war die ausweichende Antwort und reichte nicht, Rothes Vertrauen zu gewinnen.

Fernandez wollte sich an Rothe vorbeischieben, doch der verstellte ihm den Weg. Fernandez zögerte. Rothes verschlossenes Gesicht machte klar, dass er wenig ausrichten konnte.

„Und wer sind Sie?“, fragte Fernandez schließlich.

„Sehen Sie doch“, entgegnete Rothe trocken und zeigte auf den blechernen Sheriffstern. „Der Sheriff von Heiligenstadt.“ Zum Abschied tippte er an die Krempe seines Cowboyhutes und verschwand in die Nacht.

***

„Wir haben Sie vermisst. Wo waren Sie denn?“, krähte Neureiter, kaum dass Rothe in frostiger Laune den Raum betreten hatte. Sein freier Dienstag war von einem Wasserrohrbruch bestimmt gewesen und den vergeblichen Versuchen, Simone zu erreichen. Fasching hätte er am liebsten aus dem Gedächtnis gestrichen.

Als er Neureiter sah, stand ihm der verpatzte Rosenmontag wieder lebhaft vor Augen.

„Ich hatte zu tun“, knurrte er unfreundlich.

Mit schnellen Schritten ging er zum Schreibtisch und stürzte sich aufs Telefon, um Arbeitseifer vorzutäuschen. Aber Neureiter konnte ein ausgemachter Sturkopf sein. Sein bohrender Blick klebte an Rothe wie Kaugummi. Bei Vernehmungen war das nicht die schlechteste Taktik. Rothe knirschte mit den Zähnen, als auch das Telefon ihm nicht half, einem Gespräch zu entgehen. Das Besetztzeichen tutete laut und deutlich durch den Raum.

Genervt knallte er den Hörer auf die Gabel und herrschte: „Ich war da. Nur war da, wo ich war, keine Feier.“ Die Frau zu erwähnen, die Neureiter auf ihn angesetzt hatte, war unter seiner Würde.

„Sondern?“, fragte Neureiter neugierig.

„Sondern was?“, entgegnete Rothe und spießte seinen jungen Kollegen mit einem eiskalten Blick auf.

„Wer war denn da, wenn nicht wir?“, fragte dieser unerschrocken.

Rothe antwortete nicht, und Neureiter platzte heraus: „Niemand? Und wann ist Ihnen das aufgefallen? Kann es sein, dass Sie uns nicht gefunden haben?“

„Sie selbst haben mir doch die Straße genannt, warum sollte ich Sie da nicht finden?“, entgegnete Rothe.

„In Kallmerode?“

„Wieso Kallmerode?“, fragte Rothe.

Neureiter zuckte die Achseln und sah ihn abwartend an.

In Kallmerode?“, wiederholte Rothe ungläubig.

Er unterließ es, sich anmerken zu lassen, dass er sich nun wirklich wie ein Idiot vorkam, und schnappte sich eine Akte vom Stapel.

Sture Bäcker tauchte auf. Noch mehr als Rothe schien er den Aschermittwoch für den Tag des Grauens zu halten, die Tränensäcke hingen ihm bis zu den Kniescheiben.

„So ein Scheiß!“, fluchte er vor sich hin. „So ein Scheiß!“

Neureiter wurde auf einmal erstaunlich wortkarg. Rothe ignorierte Bäcker. Wenn der was sagen wollte, tat er das auch ohne Aufforderung. Simone Nolte betrat den Raum, gönnte Rothe nicht das kleinste Lächeln, als sie ihm mitteilte, dass der Vorgesetzte Moritz Klages ihn sehen wolle, und verschwand wieder. Bäcker fluchte weiter vor sich hin.

„Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen“, erbarmte sich Neureiter, und Bäcker blaffte: „Das mache ich nie wieder, mit meinen Enkeln zum Teistunger Kinderfasching zu fahren. Die haben uns nicht am Tisch sitzen lassen, meinten, es wäre alles schon belegt, obwohl es genügend freie Plätze gab. Der halbe Saal war leer und wir mussten stehen. Wir haben genauso Eintritt bezahlt wie die.“

„Ist wie mit dem Badehandtuch auf den Liegen. Da wird ein Handtuch auf die Liege gelegt und dann geht derjenige erst einmal frühstücken. Hättest du dich doch einfach hinsetzen müssen.“

„Nee, der Spaß war mir dann auch vergangen.“

Neureiter zuckte die Achseln. „Wie bei der Kirmes in Worbis. Da musste man zwei Mal Eintritt bezahlen: einmal, um auf den Platz zu kommen, das zweite Mal für das Karussell. Ist ja dann auch keiner hingegangen. Ach Sture, jetzt reg dich aber ab! So schlimm ist das ja nun auch wieder nicht!“

Rothe verließ den Raum, und Bäcker sah ihm nach. „Und was ist mit dem?“

„Was soll sein?“, tat Neureiter ahnungslos und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.

„Das ist nicht Ihr Ernst?“, meinte Rothe bissig, nachdem Klages ihn mit einer Aufgabe betraut hatte, die ihm weder lag noch interessierte.

„Wissen Sie, wer das ist, der da gerade mein Büro verlassen hat?“, fragte Klages ungerührt.

Simone Nolte war während des Gespräches zugegen und verzog keine Miene, während Rothe sich mühsam unter Kontrolle hielt.

„Der Landrat“, beantwortete Klages seine eigene Frage.

„Das ändert aber nichts an meiner Einstellung“, entgegnete Rothe.

„Sie ist eine Erfolgsautorin aus Amerika und genießt momentan die Gastfreundschaft des Landrates.“

„Das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich. Wieso nehmen Sie nicht jemanden, der …“

„Wir wollen doch niemanden vor den Kopf stoßen. Sie wissen, was ich meine, Kollege?“

Nein, das wusste er nicht, aber Rothe bremste sich. Klages verfügte jedoch über genügend Menschenkenntnis, um zu ahnen, wie sehr es in seinem Untergebenen brodelte.

„Es handelt sich um eine Dienstanweisung“, sagte er knapp.

Rothe richtete einen bitterbösen Blick auf Nolte.

„Damit ist die Sache geregelt“, sagte Klages gereizt. „Sie arbeiten zurzeit an keinem Fall, Kollege, von daher kann ich Ihr Missbehagen nicht ganz nachvollziehen.“

„Da ist die Güllesache in Mengelrode“, warf Rothe ein.

Klages blätterte in seinen Unterlagen und winkte ab. „Den Fall übernimmt Neureiter, der kennt sich da aus.“

Schweigen.

„Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Sie fühlt sich bedroht“, sah sich Klages nun doch gezwungen, weiter auszuführen. Da seien dieser Exmann, dieser Brief und diese Drohung, den Rest müsse Rothe herausfinden.

„Hat sie das gesagt?“, fragte Rothe.

„Ich habe nicht mit ihr gesprochen“, sagte Klages. „Kollege Rothe, wir wollen doch keinen unangenehmen Medienrummel. In ein paar Tagen beginnt ihre Lesereise und dann ist sie ja auch nicht mehr im Eichsfeld, und Sie haben Ihre Aufgabe erledigt.“

„Lesereise? Medienrummel? Lizzy Green? Bekannte Thriller-Autorin? Mit Verlaub, ich habe noch nie von dieser Frau gehört“, warf Rothe schließlich ungeduldig ein. Er fühlte sich überrumpelt, und wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: mit einer geradezu lächerlichen Aufgabe betraut worden zu sein, oder dass jemand ihn offenbar aus dem Ermittlerteam haben wollte.

„Weil sie unter Pseudonym schreibt. Lizzy Green ist Rebecca K. Connolly“, meldete sich Nolte zu Wort. „In Amerika ist sie sehr bekannt.“ Und als ob es sich um einen stummen Machtkampf mit Rothe handelte, setzte sie spitz hinzu: „Ich liebe ihre Bücher und habe sie alle gelesen. Drama am Mondsee, Lauf, wenn du kannst!, Schneesturm über Alaska, Sag nichts!, Stummer Schrei.“

Allmählich dämmerte es Rothe. „Du meinst, es ist die Connolly. Das ist doch der reinste Blödsinn, was sie schreibt. Wenn ich so ermitteln würde wie ihr Kommissar, bekäme ich binnen Minuten den Fall entzogen.“

Nolte lächelte maliziös. Die Tatsache war so offensichtlich und hätte auch in Leuchtbuchstaben nicht deutlicher sein können: Rothe hatte noch nicht einmal einen Fall.

„Wenn du das sagst. Aber wenigstens kennst du ihren Namen, oder?“, stellte Nolte süffisant fest.

„Ja, meine Güte, den Namen Connolly habe ich schon mal gehört.“

Er erinnerte sich, dass der Name irgendwie im Zusammenhang mit einer schlagzeilenkräftigen und millionenschweren Trennung gestanden hatte. Jessi las solche Käseblätter, ihn interessierte so etwas nicht. Jedenfalls war es um einen Schauspieler gegangen. Die Medien waren nicht gerade zimperlich mit ihr umgesprungen. Auf den Fotos hatte ihn die Connolly mit ihren stechenden Augen an eine Krähe erinnert. Das war von der Presse natürlich beabsichtigt gewesen. Für die Medien war sie die Schuldige.

Als Rothe seine Aufmerksamkeit wieder seiner Umgebung zuwandte, erklärte Nolte: „Und du kennst einen Film von ihr: Schneesturm über Alaska.’

„Ich habe einen Film von Connolly gesehen?“, stieß er ungläubig hervor. Daran müsste er sich doch eigentlich erinnern, außer Simone und er hätten wie Teenager herumgeknutscht, dann natürlich nicht. Er starrte sie an.

Es war offensichtlich: Sie erinnerte sich, und er wurde rot.

„Dann ist die Sache ja geklärt“, stellte Klages fest. „Sie werden der Connolly keinen Millimeter von der Seite weichen. Und ich erwarte absolute Diskretion von Ihnen.“

„Ich werde an ihr kleben wie eine Briefmarke“, knurrte Rothe und warf Nolte einen tödlichen Blick zu.

Nolte zeigte ihm die kalte Schulter und floh schneller als ein Schneesturm über Alaska aus dem Zimmer.

***

„Lizzy, das ist Mist, was du mir gemailt hast.“ Die Agentin in New York, mit der Connolly skypte, war ungehalten. „Du willst deinen Bostoner Kommissar ändern? Er ist eine eingeführte Figur. Der ist nicht romantisch! Deine Leser lieben ihn so, wie er ist: knallhart, ruppig, egoistisch. Lizzy! Jetzt hör doch auf mich! Du machst einen Fehler, wenn du eine Figur änderst. Gerade du solltest doch wissen, dass es keine Romantiker mit Y-Chromosom gibt. Und dein Ex ist wirklich das letzte …“

„Es war nicht alles schlecht“, fühlte Lizzy sich gedrängt zu sagen. Sie befürchtete endlose Tiraden über Peter Green, den Mann, der sie geheiratet und binnen Wochen unglücklich gemacht hatte.

Aber Percy ließ sich nicht davon abbringen. „Das tut mir leid, Liebes, aber du musst doch endlich mal darüber hinwegkommen.“

„Percy, ich bin darüber hinweg.“

„Bist du nicht. Peter ist immer noch in deinem Kopf. Und wenn du ihn nicht bald aus deinem Leben streichst, kann ich auch nicht mehr für die Verkaufszahlen deiner Bücher garantieren.“

„Percy“, versuchte Lizzy den Redeschwall ihrer Agentin zu unterbrechen, was ihr nicht gelang. Percys Worte fegten über sie hinweg, bis Lizzy die Geduld verlor. „Ich möchte doch nur, dass sich mein Kommissar verliebt.“

„NO!“, entgegnete die Agentin. „Er ist ein Mann. Männer verlieben sich nicht. Männer haben Sex. Die kennen so was wie Liebe gar nicht.“

Lizzy wusste, dass Percy sich erst vor kurzem von ihrem Mann getrennt hatte, weil er sie betrogen hatte, und wollte sich in keine Diskussion verwickeln lassen. Doch das „Ach, das ist doch Quatsch!“ rutschte ihr schneller heraus, als sie ihren Mund wieder schließen konnte.

„Ist es nicht, sondern Realität, Süße. Lass ihn so oder mach ihn härter. Wie wäre es mit einem Ritualmord an Kindern?“

Percy, du kotzt mich an!“, stieß Lizzy genervt aus.

Percy, Persephone McDermott, ihres Zeichens die beste Agentin, mit der die Literaturszene in Amerika momentan aufwarten konnte, hielt zum ersten Mal während dieses Bildschirmtelefonates den Mund.

Lizzy war während des Gespräches sehr wohl aufgefallen, dass sich ihre Agentin von ihr distanzierte. Dass sie nicht mehr hinter ihr stand und Lizzys Ansichten dem Verlag gegenüber verteidigte, sondern umgekehrt versuchte, die Ansichten des Verlages durchzusetzen. Percy war noch nie mit derlei Vorschlägen an sie herangetreten. Im Gegenteil, Lizzy hatte bisher schreiben können, was sie wollte. Es gab nur eine einzige Bedingung: das Buch musste ein Erfolg werden. Und genau der blieb seit einiger Zeit aus.

Lizzy vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war. Sie würde sich in den nächsten Tagen um eine neue Unterkunft bemühen. Natürlich war es nett, dass man ihr Gastfreundschaft gewährte, aber sie empfand schon seit einigen Tagen wieder diese Unruhe. Sie wünschte sich, allein zu sein. Einfach nur sie selbst: traurig und einsam. Die Lesereise würde sie absagen. Sie müsste es nur noch Percy beibringen. Aber dieser Moment war dafür der denkbar schlechteste, und so ließ sie es.

„Einen weiteren Flop kannst du dir nicht erlauben“, unterbrach Percy ihre Gedanken.

„Ich weiß“, sagte Lizzy und stellte sich vor, wie ihre Agentin und ihr Verlag reagieren würden, wenn sie von ihrem Plan erführen. Eine Absage der Lesereise zusätzlich zu den Flops der letzten Jahre würde wahrscheinlich die Kündigung des Vertrages nach sich ziehen.

Wenn doch die Wirtschaftskrise nicht so zugeschlagen hätte! Auch Lizzy war davon nicht verschont geblieben, nur wusste noch niemand davon. Das Haus in Miami Beach hatte sie verkauft. Die Bodyguards entlassen, wie auch alle anderen Angestellten. Das Haus in den Rockies war nach dem Brand eine Ruine, und die Versicherung wollte nicht zahlen. Das andere Haus hatte sich Peter unter den Nagel gerissen. Peter! Sie wollte nicht an ihn denken, und schon dachte sie an ihn. Als Schauspieler ohne Engagement hatte er das Leben an ihrer Seite sehr genossen. Ein Leben wie die sprichwörtliche Made im Speck.

Natürlich hatte sie mit Zähnen und Klauen um ihr Geld gekämpft, als die Trennung absehbar war. Und um ihr Ansehen. Nach nur wenigen Wochen glich ihre Ehe einem Scherbenhaufen. Und dann kamen die schlechten Besprechungen ihrer Bücher. Eine vernichtende Kritik jagte die andere.

Rebecca K. Connolly: Diese Frau könnte niemals über die Liebe schreiben, da sie ihr Herz erst suchen müsse. Aber wo soll man suchen, wenn man kein Herz hat?

Kati Miller, die Giftspritze unter den Kolumnisten und verhinderte Autorin. Ihr Debüt war auf der Liste der hundert besten Romanveröffentlichungen auf dem letzten Platz gelandet. Auf der gleichen Liste stand Lizzys Roman Schneesturm über Alaska an erster Stelle. Natürlich hätte Lizzy sich in einem Live-Interview nicht darüber äußern sollen. – Kati Miller verspüre zwar den Wunsch zu schreiben, könne es aber nicht. – Es war ein Fehler. Vielleicht sogar der größte in Lizzys Karriere. Kati Miller war aufgrund ihrer wöchentlichen Kolumne bekannt wie ein bunter Hund und der Liebling der Nation, und sie, die Ausländerin, hatte sich kritisch geäußert. Hella Lemkowsky, ihre Interviewerin, hatte gefeixt, danach einen Karrieresprung gemacht und war seitdem der neue Star im Frühstücksfernsehen. Lizzy hätte es nicht ungeschickter anstellen können. Und es hatte doch alles so verheißungsvoll angefangen …

Nach ihrer traumhaften Hochzeit hatte sie sich eine traumhafte Ehe vorgestellt. Das Haus, das sie als Liebesnest gekauft hatte, war nicht weniger traumhaft. Die besten Innenarchitekten hatten ihre Fantasie von Licht, Luft und Leichtigkeit umgesetzt. Es war nicht naiv gewesen zu meinen, sie könnte es besser machen als all die anderen. Aber sie war eben leider doch vor lauter Liebe ziemlich blind gewesen.

„Was ist? Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Percy kurz angebunden.

Automatisch nickte Lizzy. „Ist in Ordnung, ich werde dir ein neues Exposé schicken“

„Bis morgen Abend.“

„Ja, sicher.“

„Und denk daran, was ich dir gesagt habe. Keine Romantik, sondern Sexszenen. Denk an Shades of Grey! Und mit jedem Kapitel muss eine Wendung her. Das wollen deine Leser.“

Lizzy unterdrückte ihre Ungeduld und beließ es bei einem wiederholten Nicken.

„Du musst den Stoff in sechs Wochen liefern. Die Frage, wie du das schaffst, lasse ich jetzt mal unter den Tisch fallen. Du musst es schaffen. Es ist deine letzte Chance. Danach kann ich nichts mehr für dich tun.“

Percy war wie eine Katze um den heißen Brei geschlichen, und nun war es heraus: Sie würde sie fallen lassen, wenn es soweit war.

Ein frostiger Abschied und Lizzy ging offline, klappte ihr Notebook zu und steckte es in ihre weite Umhängetasche. Es wäre besser, das Gerät mitzunehmen. Zwar war alles passwortgeschützt, aber sie hatte sich durch die jahrelange Erfahrung als Prominente angewöhnt, gerade in Amerika, wo der Klatsch über Promis ganze Armeen an Journalisten beschäftigte, stets auf Nummer sicher zu gehen. Unbemerkt verließ Lizzy das Haus ihrer Gastgeber, bestieg den gemieteten silbergrauen A4 und nahm den Weg nach Norden. Während sie Heiligenstadt verließ und die Autobahn querte, ließ sie ihre Gedanken wie Treibgut kommen und gehen.

Sie war sich nicht sicher, ob der Schritt von Boston zurück ins Eichsfeld wirklich der richtige war. Und dann auch noch nach Seeburg. Sie hatte den frühmorgendlichen Blick über den See immer geliebt – das Auge des Eichsfeldes –, wenn der Morgendunst tief über dem Wasser hing. Weder der Charles River noch der Neponset River in Boston konnten diesen schmerzlich vermissten Anblick heimatlicher Schönheit ersetzen. Bei manchen Morgenstimmungen hätte es der Fall sein können, wenn sie den Verkehrslärm hätte ausblenden können (oder den Geruch). Dass man seine Heimat im Herzen trug und mitnahm, war eine romantische Verbrämung für Heimweh. Sie war niemals wirklich in Boston angekommen. Das wusste sie jetzt. Nur war die Frage, ob sie aus freien Stücken zurückkehrte oder dazu getrieben wurde.

Sie hatte es nicht eilig. Solange es keinen Schneeregen geben würde, fühlte sie sich im Wagen sicher. Vielleicht sogar mehr als in einem Hotelzimmer. Sie war so sehr in Gedanken, dass sie die Abzweigung nach Teistungen verpasste. Da sie keine Lust verspürte zu wenden, würde sie die kurvenreiche Strecke nach Nesselröden nehmen und versuchen, die Fahrt zu genießen. Sie fuhr die Serpentinen hinunter nach Siemerode, sah links die Windräder, passierte rechts eine kleine Mariengrotte, Reste einer Obstbaumreihe säumten den Weg. Der kalte Nieselregen tauchte die Landschaft in Grau und dimmte ihre Stimmung. Sie passierte Weißenborn und dachte an die Goldene Mark mit dem See. Wenn es vor 2500 Jahren nicht zu diesem Einsturz eines unterirdischen Hohlraumes gekommen wäre, gäbe es den See mit dem angrenzenden Feuchtland nicht. Das Land war zwar weitestgehend drainiert, hatte aber von jeher die Menschen gefordert. Es war niemals leicht gewesen, hier zu leben. Seit den Siebzigern standen weite Flächen unter Naturschutz. Das waren die Fakten, die sie in der Schule gelernt hatte. Aber um sich von der Landschaft berühren zu lassen, musste man sich vom Schulbuchwissen lösen und den Wind auf den Wangen spüren, die von Feuchtigkeit gesättigte Luft einatmen, musste man den Geräuschen lauschen: dem Schlagen des Wassers an das Ufer, dem Rufen der Vögel, dem entfernten Dröhnen der Maschinen, die die Saat ausbrachten. Es hatte Tage gegeben, an denen war ihr Herz mit der Welt im Einklang gewesen. Dieser Seelenfrieden erschien ihr im Nachhinein reiner und klarer als alles, was sie im Laufe ihres Lebens in einer Kirche empfunden hatte. Doch auch wenn sie ihre Heimat vermisste, so konnte sie nicht nach Seeburg zurückkehren.

Das Leben in Amerika hatte sie verstummen lassen – vielleicht waren es aber auch Peter und die Medien gewesen, – was an sich keine Kunst war, da sie noch nie eine große Rednerin gewesen war. Aber das waren die hiesigen Bauern auch nicht, und dennoch hatte sie stets das Gefühl begleitet, ein unsichtbares Band hielte sie zusammen. Die Trennung von Peter bedeutete nicht automatisch den Wegzug aus Boston. Im Nachhinein war das vielleicht ein Fehler gewesen. New York, das Mekka der Intellektuellen, wäre eine Option gewesen. An Los Angeles hatte sie nie ernsthaft gedacht. Trotz der Touristen war Los Angeles nur Potemkinsche Kulisse.

Dass Valentin ohne Vater aufwuchs, war ihre größte Sorge. Er war zwar schon vierzehn, aber brauchte nicht gerade ein Vierzehnjähriger einen Vater? Peters Brief war unmissverständlich. Er wollte in Erziehungsfragen ein Wörtchen mitreden. Auf einmal?! Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Sie hasste ihn. Doch ganz gleichgültig, wie ihre Situation momentan aussah, noch lag alles in ihren Händen, und das nächste Buch konnte wieder ein Bestseller werden. Aber Percys Themenvorschlag für das neue Buch lag ihr im Magen. Sie könnte Percy und ihre Ideen natürlich auch ignorieren, und der Kommissar bliebe nicht der ewig mürrische, ruppige Ermittler mit schlechtem Benehmen, ohne Takt und Einfühlungswillen. Aber was käme dann? Würde Percy die Zusammenarbeit auflösen? Lizzy brauchte sie. Valentins ungute Entwicklung hatte sie in ihrem Wunsch bestärkt, Amerika den Rücken zu kehren, doch das warf große Risiken auf. Sollte sie den Bostoner Verlag wirklich verlassen? Alternativen hatten sich bisher nicht aufgetan. Sie hatte aber auch keine gesucht.

Ohne in den Rückspiegel zu schauen, bremste sie, hielt am Fahrbahnrand und zog ihr Handy heraus. Die Finger glitten über die Ziffern. Eine Zahlenfolge, die sie wöchentlich wählte und dabei Unsummen für die Gespräche ausgab. Das Freizeichen erklang. Sie ließ es klingen. Als niemand abhob, versuchte sie es erneut. Sie wählte und wartete.

Was fühlte sie? Diese Frage war eine von den vielen Fragen, die sie neuerdings nicht mehr mit Sicherheit beantworten konnte. Die Amerikaner verstanden sich gut darin zu manipulieren. Und sie war jahrelang Teil dieser Manipulationsmaschinerie gewesen, hatte in Interviews gesagt, was man ihr vorgab und was die Leute hören wollten, hatte getragen, was man ihr vorgab und die Leute sehen wollten etc. pp. Und das gleiche hatte sich dann auch bei der Schreiberei eingestellt. War sie zu Anfang ihrer Karriere noch eine frei denkende und handelnde Autorin gewesen, so wurde auch da die Maschinerie um sie herum immer perfekter. Verlagsmenschen oder Percy höchstpersönlich arbeiteten plötzlich an ihren Themen, gaben ihr Themen vor, wollten sie in der Erfolgsspur halten. Einmal ein Krimi, immer ein Krimi. Einmal eine Liebesromanze, immer eine Liebesromanze. So ähnlich wie bei der Besetzung der Schauspieler: einmal der Böse, immer der Böse. (Peter hatte die Rolle des Herzensbrechers bevorzugt. Beruflich wie auch privat.) Und das war so lange gut gegangen, bis die Medien Sand hineingestreut hatten. Sie dachte an Hella Lemkowsky und das verpatzte Interview. Ihre Gedanken schlugen eine plötzliche Kapriole. Natürlich ging es um den Hof.

Lizzy legte das Handy weg. Es hatte keinen Sinn, ihre Mutter aufzusuchen. Sie schien nicht da zu sein.

Es war immer um den Hof gegangen.

Im Mittelpunkt hatte in dieser Familie nie etwas anderes gestanden. Und auf einmal wusste Lizzy, was sie wollte. Sie hatte es niemals aus den Augen verloren (vielleicht verdrängt, aber nicht verloren), und ihr Entschluss stand so klar vor ihr wie ein Foto, das man jemandem zeigte. Sie wollte den Hof. Es war ihr Hof. Sie war die Erbin. Die einzige Erbin. Gesa war Mitte siebzig. Warum klammerte sie sich an einen Hof, den sie nicht wollte? Nie gewollt hatte? Den sie im Grunde ihres Herzens hasste?

Sie schrak zusammen, als das Handy in ihrer Hand klingelte.

„Ja?“ Sie rechnete mit Gesa, doch es war ein Kommissar aus Heiligenstadt, der sie treffen wollte. „Etwa jetzt?“

„Spricht etwas dagegen, Ms. Connolly?“, fragte Rothe.

„Ja, ich habe zu tun.“ Lizzy dachte an das Exposé, das sie noch ausarbeiten musste.

„Dann vielleicht später?“

„Möglich, es kommt darauf an. Worum geht es denn?“

„Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten.“

„Ach ja, und Sie meinen, das geht nicht am Telefon? Hören Sie, es passt mir jetzt gar nicht. Rufen Sie mich später noch einmal an!“

Grußlos legte sie auf.

Beunruhigt dachte sie darüber nach, was sie ihrer Gastgeberin erzählt hatte. Warum sonst sollte ein Kommissar aus Heiligenstadt anrufen, wenn er nicht etwas von diesem Brief wüsste? Nervös trommelte Lizzy mit den Fingern auf dem Lenkrad. Was hatte sie erzählt? Sie hatte es doch in Scherze verpackt: Peter! Was ihm denn da plötzlich einfiele. Hatte doch sonst keine Vatergefühle. Ob sein Therapeut ihm da ins Gewissen geredet hätte? Sie hatten gelacht, und doch schien Lizzy ihre Sorgen nicht genügend verschleiert zu haben. Natürlich waren sie beschwipst gewesen. Lizzy hatte es gut getan, sich mal keine Gedanken über ihr Äußeres zu machen oder über ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit. Sie hatten sich einen angezwitschert und Spaß gehabt. Na und? Was war schon dabei? Nichts, wenn da nicht dieser Brief wäre, den sie vermutlich vorgelesen hatte. Wahrscheinlich ein wenig theatralisch, gespickt mit Scherzen, was aber nichts von seiner Bedrohlichkeit genommen hatte.

Lizzy griff in die Manteltasche und zerknüllte Peters Brief. Sie sollte ihn vernichten, und diesen Kommissar musste sie auch loswerden. Sie befühlte die raue Struktur des Papiers und lächelte böse. „Nun denn, Herr Kommissar aus Heiligenstadt, so leicht werde ich es Ihnen nicht machen.“

***

Gesa Meyer hatte das Telefon gehört. Den ganzen Tag klingelte es schon. Wie auch den Tag davor, und den Tag davor und davor … würde es denn nie aufhören?

Sie lag auf dem Sofa, zu schwach um aufzustehen, und ebenso lustlos.

Vielleicht sollte sie sich doch so ein schnurloses Telefon zulegen. Doch bei Lustlosigkeit würde auch ein schnurloses Telefon sie nicht dazu bekommen, an den Apparat zu gehen. Ächzend richtete sie sich auf. Deprimiert. Müde. Ihre Kopfschmerzen kehrten zurück. Doch sie war zu langsam, das Klingeln hatte aufgehört und sie dämmerte wieder weg.

Sie sah ihre drei Schwestern vor sich: Meta, Antonia und Lizzy. Lizzy war nur zehn Minuten älter als sie gewesen und seit über sechzig Jahren tot.

Tot. Was fühlte man, wenn der Zwillingspartner fehlte? Nichts, kam ihr in den Sinn. Was hatte sie empfunden, als ihnen die Todesnachricht überbracht wurde? Sie wusste es nicht mehr.

Es klingelte erneut. Dieses Mal war es die Türglocke.

Mit Mühe erhob sich Gesa vom Sofa und schlurfte zur Haustür.

Ihr Pächter Hans Hermann Eckermann stand vor der Tür. Ewa, seine zweite Frau, war dieses Mal mitgekommen. Die erste Ehe war kinderlos geblieben. Das war der Grund, dass er sich eine andere Frau gesucht hatte. Ewa war aus Polen und hatte ihm drei Kinder geboren.

Gesa schaltete die Außenbeleuchtung an und stellte fest, dass die defekte Glühbirne immer noch nicht ausgetauscht war. Leonhardt wollte das doch machen. Sie seufzte. Musste sie sich denn um alles kümmern? Die Gesichter ihres Besuches wirkten im Halbdunkel regelrecht gespenstisch.

„Kommen Sie herein“, sagte Gesa und winkte sie durch den Flur in die Küche.

Sie wunderte sich auf einmal über sich selbst, warum sie es in den vielen Jahren nie geschafft hatte, ihm das Du anzubieten.

„Für Sie“, sagte Hans Hermann und drückte ihr eine Flasche Sekt in die Hand.

Der Pächter ging auf die fünfzig zu. Seine Wangen leuchteten wie rote Äpfel, er neigte zum Bauchansatz, sein Haar wurde schütter. Er hatte sich sehr verändert. Als er sich gleich nach der Wende als Pächter für die Flächen beworben hatte, hatte Gesa irrtümlich gedacht, er würde seinen Vater begleiten, so jung hatte der junge Hans Hermann auf sie gewirkt. Aber er war mit fünfundzwanzig drei Jahre älter als Lizzy und sah sich durchaus in der Lage, das Land zu bewirtschaften. Der Vater hatte seinen Sohn lediglich begleitet.

„Das Licht über der Tür ist kaputt. Wenn Sie eine Birne haben, kann ich sie Ihnen schnell austauschen“, bot Hans Hermann freundlich an.

Während Gesa eine passende Glühbirne suchte, sah sich Eckermann in der Küche um. Die Küche war neu und hatte bestimmt fünfzehntausend Euro gekostet, wenn sie nicht sogar teurer gewesen war. Das überraschte ihn, und er fühlte sich irgendwie hintergangen. Mit keinem Wort hatte sie bei seinem letzten Besuch angedeutet, dass sie die Küche erneuern würde. Er ließ sich seine Empfindungen nicht anmerken und wechselte die Glühbirnen. Wenig später saßen sie zu dritt am Küchentisch und leerten die Flasche Sekt, die er mitgebracht hatte.

***

„Hören Sie, der Landrat übertreibt. Mir geht es gut“, widersetzte sich Connolly einem Treffen mit Rothe, der sie erneut angerufen hatte. „Und wenn ich Sie treffen würde, hätte ich sowieso nicht viel Zeit. Und Sie haben sicherlich auch Besseres zu tun, als sich mit einer Schriftstellerin zu unterhalten. Sie sitzen bestimmt an einem Fall, und da will ich nicht stören.“

Rothe drehte am Rad. Was dachte die sich eigentlich? Dass er einer Fangruppe vorstand? Er würde es zwar nicht aussprechen, aber es gab Sinnvolleres, als einer Frau nachzulaufen, die ganz offensichtlich ihr Leben im Griff hatte und ihn aussehen ließ, als wäre er ein Dummkopf.

Er biss die Zähne zusammen und wagte einen neuen Anlauf. „Hören Sie, ich möchte mich persönlich davon überzeugen, was es mit diesem Brief auf sich hat.“

„Nichts“, sagte Connolly. „Weniger als nichts. Peter ist der liebste Mensch auf Erden, und meine Gastgeberin muss etwas in den falschen Hals bekommen haben.“

„Das freut mich zu hören, Ms. Connolly. Aber vielleicht wäre es besser, Sie ließen mich persönlich die Harmlosigkeit des Inhaltes prüfen. Finden Sie nicht?“

„Nein“, sagte Connolly und kappte die Verbindung.

„Diese Frau schafft mich“, stieß Frank aus, als er auf sein Handy starrte. Er war versucht, das Gerät auf der Tischplatte zu zerdreschen.

„Probleme?“, fragte seine Tochter, die ins Wohnzimmer gerollt kam.

„Nicht wirklich. Nur dass ich die Anweisung bekommen habe, eine Frau zu beschützen, die nicht beschützt werden will.“

„Um wen handelt es sich denn?“

„Rebecca Connolly.“

„Connolly? Etwa die Connolly? Die Schriftstellerin? Wow, Paps, das ist ja der Wahnsinn! Du kennst eine berühmte Schriftstellerin?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Noch habe ich sie nicht zu Gesicht bekommen.“

„Und wie willst du sie dann beschützen?“

Rothe verdrehte die Augen. „Das ist genau mein Problem.“

„Gibt es Morddrohungen?“

Frank schaute seine Tochter liebevoll an. „Mein Schatz, du liest zu viele Krimis. Und woher kennst du sie? Hast du ihre Romane gelesen?“

„Öh, nö, nicht wirklich. Ich habe nur einen angefangen und nicht zu Ende gelesen. Matthias’ Papa liest ihre Bücher. Du weißt doch, ich mag eher Liebesromane. Ihr Kommissar ist nicht so wie du. Ich finde, er ist ein arrogantes Arschloch.“

Frank äußerte sich lediglich zu einem abwartenden „Aha!“

„Ein echter Holzklotz. Und die Frauen in Connollys Romanen kommen alle als doofe Dummchen oder miese Mörderinnen daher. Das ist sehr unspannend. Dieser Blödmann von Kommissar ist so typisch amerikanisch.“

„Und wie sind die typischen Amerikaner?“, fragte Frank und versuchte, sich ein Schmunzeln zu verkneifen.

„Überheblich“, antwortete sie vehement und rollte in die Küche. „Ich habe Hunger. Willst du auch was?“

Er setzte sich an den runden Kieferntisch, den Jessi in den Kleinanzeigen gefunden hatte „Nur eine Kleinigkeit. Und wo spielen ihre Geschichten?“

„In Boston.“

Frank überlegte, wie er als Kommissar wäre, würde er in einer Millionenmetropole arbeiten. Sicherlich würde sehr schnell Kaltschnäuzigkeit seine Tage bestimmen.

Das war das Stichwort.

Er sprang auf und schnappte sich erneut das Handy. Während er zurück in die Küche schlenderte, wählte er Connollys Nummer. Kaum war sie am Apparat, schnauzte er unfreundlich: „Entweder Sie treffen sich mit mir, oder ich zitiere Sie aufs Revier.“

Jessi schlug sich die Hand vor den Mund, um das schallende Lachen zu unterdrücken. Frank verfluchte sich im Stillen.

„Wie bitte?“, fragte Connolly verdattert. Ihre Stimme troff vor Ironie, als sie erwiderte: „Aber Herr Kommissar, ich habe nie behauptet, dass ich mich nicht mit Ihnen treffen möchte. Selbstverständlich wäre es mir eine große Freude, Sie persönlich kennen zu lernen.“

„Dann ist ja gut“, knurrte Rothe.

Für Trotteligkeit gab es bestimmt einen Ehrenplatz zwischen Dick und Doof. Noch nie zuvor hatte ihn eine Frau derart genervt wie diese verwöhnte Primadonna.

Er bestimmte Ort, Tag und Uhrzeit, und sie verlegte das Treffen kurzerhand um eine Stunde nach hinten in ein Café, das er nicht kannte.

Auch gut.

Hauptsache, sie kam.

***

Connolly kam mit Absicht eine Stunde zu spät. Sie stieg aus ihrem Audi und ließ sich dabei Zeit. Auch wenn sich dieser Kommissar ärgern würde, was konnte er ihr schon tun? Nichts. Sollte er doch annehmen, sie sei ein verwöhnter Star aus Amerika. Ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ihre Gastgeber hatten ihr das Blumencafé Fiora in Worbis nicht nur wegen des einladenden Interieurs und des guten Kaffees und Kuchens empfohlen (und ein Frühstück dort wäre wirklich ein Augenschmaus), sondern auch wegen des Blumengeschäftes.

Mit dem Gedanken, ihrer Gastgeberin als Dank ein paar Blumen mitzubringen, betrat sie den Blumenladen. Die Verkäuferin hinter der Theke band gerade einen großartigen Strauß, der sogar Lizzy beeindruckte. Lizzy grüßte und schlenderte die Stufen zu den Räumlichkeiten des Cafés hinauf. Im vorderen Raum waren drei Frauen in ein Gespräch vertieft, die sich für ein Frühstück getroffen hatten, im hinteren Zimmer saß ein Mann am Fenster, der die Stellplätze beobachtete.

Soso, dachte Connolly, ihm müsste mein Divenauftritt gefallen haben, so wie ich mit dem Hintern gewackelt habe. Sie warf ihm ein charmantes Lächeln zu. Er musterte sie. Sie war es gewohnt, gemustert zu werden, und dieser Mann tat es ausgiebig. Ohne ein Lächeln. Das war typisch für das Eichsfeld. Dieses fehlende Lächeln. So etwas vergaß man nicht, auch wenn man der Heimat jahrelang den Rücken gekehrt hatte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie ihn für ein Prachtexemplar von Mann hielt. Da er saß, schätzte sie seine Größe auf über eins achtzig, er war sportlich, geschmackvoll gekleidet. Sein Gesicht war nicht glatt, nicht perfekt, aber hatte die richtige Mischung aus Attraktivität und herber Männlichkeit.

Betont gelangweilt ließ sie ihren Blick durch den hübschen Raum schweifen und stellte fest, dass der Kommissar nicht auf sie gewartet hatte. Er schien, so wie erhofft, die Geduld verloren zu haben.

Uups, war sie ein böses Mädchen?

In sich hineinlächelnd überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte und entschied, die Blumen zu kaufen.

Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Als sie das Fahrzeug parkte, ausstieg und dabei ihre wohlgeformten Beine zeigte, musste er sich bezähmen, sie nicht gedanklich zu entkleiden. Sogar in Thüringens Hauptstadt wäre sie eine auffallende Erscheinung gewesen. Ihr Auftreten zeugte von Kopf bis Fuß von Klasse. Das tiefrote Kostüm mit einem knielangen Bleistiftrock umschmeichelte eine perfekte Figur. Er zwang sich, sich nichts von seinen Gedanken anmerken zu lassen und stellte sich auf die Begrüßung ein. Doch sie warf ihm nur einen knappen Blick zu, lächelte vage und – ging?

Er hatte Jessis Kommentar zu seinem Telefonausraster noch im Ohr („Das wird sie natürlich total überzeugt haben, mit dir zusammenzuarbeiten.“). Und als er ihr erklärt hatte, warum er Druck ausüben müsse, hatte sie gemeint, er sei so charmant wie ein Reibeisen. Er solle doch mal an den Film mit Kevin Costner und Whitney Houston denken – der Bodyguard und die Sängerin. Da hätte es vor Erotik geknistert, und das ganz bestimmt nicht, weil Costner herumgeschnauzt hätte. Sie sei Schriftstellerin, hatte er sich zu verteidigen versucht, und man wisse doch, dass alle Schriftstellerinnen dick seien, weil sie zu viel säßen, zu wenig Sport trieben und ständig Gummibärchen in sich hineinstopften. Abgesehen davon brächte diese Nervensäge von Frau ihn an den Rand des Wahnsinns.

Und nun saß er hier und starrte einer Frau nach, die eine Figur zum Niederknien hatte und ein Gesicht mit einem Mund, der nach Küssen schrie. Die Fotos, die er aus dem Internet hatte, wurden ihr nicht im Mindesten gerecht.

„Ihre Verabredung wartet bereits auf Sie“, sagte die Ladeninhaberin, halb verdeckt von einem prächtigen Blumenstrauß.

Die Mischung aus Freesien und Gerbera in ihren Lieblingsfarben gefiel Lizzy. Sie war so sehr in die Betrachtung der Blumen vertieft, dass die Worte an ihr vorüberzogen, ohne dass sie den Inhalt begriff. Verwirrt wandte sie den Blick vom Strauß ab und starrte die Frau fragend an.

„Der Gast, den Sie suchen, wartet am Fenster auf Sie. Hinten in der zweiten Stube. Vielleicht möchten Sie mitkommen, er hat auch den Strauß bestellt.“

Es dauerte einen Moment, ehe Lizzy begriff, von wem sie gesprochen hatte.

Als sie den Raum ein zweites Mal betrat, hatte sich Frank Rothe bereits vom Stuhl erhoben, hielt den Strauß in der Hand und überreichte ihn ihr mit den Worten: „Ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an.“

Lizzy versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie peinlich ihr die Situation war. Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Sie nahm den Strauß entgegen und verbarg ihr Gesicht in den Blumen, vor allem auch, um ihre Verlegenheit zu kaschieren. Dann stellte sie die Blumen in die Vase, die vorausschauend auf einem Nebentisch platziert worden war. Ihr Zuspätkommen entschuldigte sie nicht. Das tat sie nie. Ihrer Meinung nach bedeutete jede Entschuldigung ein Schuldeingeständnis. Davon abgesehen hatte es ihr tatsächlich die Sprache verschlagen.

Er betrachtete sie schweigend. Ihm entging nicht die feine Röte auf ihren Wangen. Er war so sehr gefangen von ihrem Äußeren, dass er seinerseits noch nicht einmal das Bedürfnis verspürte zu reden. Es schien ihm durchaus zu genügen, sich an ihrem Anblick zu erfreuen und dann, irgendwann, zu gehen. Bis sie ihn aus seinem Tagtraum riss.

„Ich habe nicht sehr viel Zeit. Ich muss noch arbeiten“, sagte sie kühl und seine wohlwollende Haltung ihr gegenüber war wie weggeblasen. Sie sah sich interessiert um, ließ ihren Blick schweifen, tat so, als ob es sie überhaupt nicht beeindruckte, was er von ihr wollte oder dachte oder tat, und blickte ihm schließlich direkt ins Gesicht. „Wie geht es jetzt weiter?“

„Was darf ich für Sie bestellen? Kaffee? Oder lieber Tee? Einen Cappuccino?“

„Einen Cappuccino bitte“, antwortete sie gestelzt.

Routiniert bestellte Rothe zwei Cappuccini und vertiefte sich wieder in ihr Gesicht. Er versuchte herauszufinden, was genau dessen Attraktivität ausmachte. Die Fülle ihrer kastanienbraunen Haare? Oder ihre fein gemeißelten Wangenknochen? Die sorgsam gezupften Augenbrauen, die dunkler und breiter waren, als man sie üblicherweise bei den Frauen sah. Connollys Augen vermittelten etwas Raubtierhaftes. Das war ihm bereits durch die Fotos in der Presse aufgefallen, aber das waren unvorteilhafte Schnappschüsse von einer Frau, die vor den Fotografen floh, weil sie nicht abgelichtet werden wollte, und dabei höchst unsympathisch wirkte. Ihm gegenüber gab sie sich reserviert, fast schon arrogant. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie mit ihm spielte und es ihre Art war zu provozieren. Es war nur die Frage, ob er sich provozieren ließe. Die Farbe ihrer Augen hätte er bei Aufforderung mit hellem Bernstein beschrieben, nicht unbedingt stechend, aber durchdringend, fast so, als könne man ihr keine Wahrheit verheimlichen. Ihre Nase war kein niedliches Stupsnäschen, was auch nicht zu ihrem Gesicht gepasst hätte, sondern durchaus prägnant. Aber am ausdrucksstärksten war ihr Mund. Um die Illusion eines solch sinnlichen Mundes zu erschaffen, wurden bestimmt Millionen für Lippenstifte ausgegeben.

Sein Blick löste sich von ihren vollen Lippen und wanderte zurück zu ihren Augen, die nun ihrerseits sehr intensiv sein Gesicht begutachteten.

„Nennen Sie mich Frank“, bat er.

Sie zögerte, ließ ihn ein wenig zappeln. Tatsächlich die Arroganz in Person.

„Lizzy“, sagte sie schließlich.

Die Cappuccini wurden serviert. Lizzy ignorierte den Keks neben ihrer Tasse. Er zerriss die Zuckertüte und streute den Zucker auf die aufgeschäumte Milch. Seine Gedanken wanderten zu berühmten Filmszenen („Schau mir in die Augen, Kleines“, „Wir haben ein vollen Tank, eine halbe Packung Zigaretten, es ist Nacht, und wir tragen Sonnenbrillen“), und er fragte sich, warum er gerade daran denken musste. Vermutlich weil die Situation ihm vorkam wie eine Inszenierung.

Wozu sollte dieses Treffen führen? Er hätte es gerne gesehen, wenn sie ihm soweit vertraute, dass sie ihm ihr Herz ausschüttete. Ihm von dem Brief erzählen würde. Von den Auseinandersetzungen, den Dingen, die dazu geführt hatten, dass sie hier war. War es wirklich nur die Lesereise, die sie zurück ins Eichsfeld gebracht hatte? Oder war sie auf der Flucht vor ihrem Ex?

Aber anstatt zu reden, ohne dass er Fragen stellen musste, sagte sie gar nichts. Sie schwieg. Frank fühlte sich wie auf einem Heizkissen, es fehlte nicht viel und er würde an seinem Kragen herumnesteln, um sich mehr Luft zu verschaffen. Und sie wirkte wie eine gelangweilte Geliebte. Jessi hatte ihn gebeten, sich jedes Wort von ihr zu merken. Aber was sollte er ihr erzählen, wenn es nichts zu erzählen gab?

Er versuchte sich an einer Kevin-Costner-Haltung und eröffnete das Gespräch mit einer Frage. „Wofür steht das K in Ihrem Namen?“

Sie lehnte sich zurück, spielte mit dem Kaffeelöffel, den sie leicht gegen ihre volle Unterlippe tippte. Wie magnetisiert starrte er auf ihre Lippen.

Sie antwortete: „Katharina ist der Name meiner Großmutter. Ansonsten ist der Name Rebecca Connolly ein Kunstprodukt. Meine Agentin hatte diesen Namen schon lange im Kopf und suchte die dazu passende Autorin. Und dann kam ich, und sie meinte, der Name passe zu meinem Gesicht. Das eingefügte K war meine Idee. Ich wollte wenigstens etwas, das zu mir gehört. Etwas Authentisches, dass ich mich nicht nur als Kunstprodukt fühle.“ Sie lachte, und das erste Mal begann Frank zu verstehen, warum die Connolly so viele Anhänger hatte.

„Und warum sind Sie nach Amerika gegangen? Hat man dort leichter Erfolg als bei uns?“

Sie wiegte den Kopf „Sie stellen interessante Fragen, Herr Kommissar.“

„Frank.“

„Frank“, wiederholte sie und sah ihm tief in die Augen. Ihm fielen in diesem Moment die feinen Lachfältchen um ihre Augen auf. „Ich habe eher damit gerechnet, dass Sie mich nach dem Brief befragen würden.“

„Erwischt!“, gab er lächelnd zu. „Aber vergessen Sie doch einfach den Ermittler und erzählen Sie!“

Sie legte den Löffel zurück auf die Untertasse und schwieg. Das Schweigen dehnte sich aus.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Frank.

„Natürlich nicht.“ Wieder blitzte dieses umwerfende Lächeln auf. „Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich glaube, mit dieser Vorstellung sind wir doch alle aufgewachsen. Vielleicht nicht Sie im Osten, aber wir im Westen. Für uns Jugendliche war Amerika das Land der Träume. Das ist eine Glaubensvorstellung, die man nicht hinterfragt. Man weiß, es stimmt. Man weiß es so sehr, man geht so sehr davon aus, dass es so ist, dass man diesen Glaubenssatz niemals in Zweifel zieht.“ Sie lächelte. „Bis man eigene Erfahrungen macht.“

„Und Sie haben Ihre eigenen Erfahrungen gemacht.“

„Und ich habe meine eigenen Erfahrungen gemacht.“

„Wie alt waren Sie denn, als Sie das Eichsfeld verließen?“

„Zweiundzwanzig.“

„Für Eichsfelder Verhältnisse doch recht früh“, sagte Frank spontan, da er an Sture Bäcker dachte, der sich an seine Familie klammerte wie andere an ihr Portemonnaie.

„Möglich“, antwortete sie wieder einsilbig.

Das Schweigen, das sich erneut zwischen ihnen ausbreitete, war zäh und lästig. Frank hätte gern gesehen, dass sie weitersprach, aber er spürte ihren Widerstand. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat Amerika nicht alle Ihre Träume erfüllen können.“

Sie seufzte. „Wie es mit Träumen eben so ist. Sie fliegen wie Luftballons in den Himmel und fort sind sie. Nicht alle Träume lassen sich verwirklichen, und Luftballons haben an sich auch keine andere Funktion, als zu fliegen. Ich möchte nicht unzufrieden wirken, das müssen Sie mir glauben. Amerika hat mir viele Chancen gegeben. Sie lagen nur nicht in dem Bereich, den ich mir erträumt habe. Als ich nach Amerika ging, wollte ich in der Musikbranche Karriere machen. Aber die Musikindustrie ist knallhart. Das ist sie hier auch, aber mir scheint, dort ist sie härter. Die amerikanischen Musikproduzenten haben nicht gerade auf die kleine Lizzy gewartet. Und mit meiner landwirtschaftlichen Lehre wäre ich als Apfelsinenpflückerin geendet. Das entsprach nun gar nicht meinen Vorstellungen.“ Sie lachte. „Glück ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Ich hätte niemals gedacht, dass ich letztendlich mein Geld mit Schreiben verdienen würde. Und das hatte durchaus mit Glück zu tun. Zur richtigen Zeit die richtige Geschichte beim richtigen Agenten. In meinem Falle eine Agentin. Der Erfolg hat sich trotzdem nicht so schnell eingestellt. Ich wurde nicht über Nacht bekannt, wie Sie vielleicht glauben. Dazwischen liegen Jahre voller Hoffnungen und Enttäuschungen.“

Sie rührte im Kaffee und leckte sich die Lippen. Eine Geste, die sein Herz höher schlagen ließ. „Niemand kann einem vorhersagen, ob man mit dem, was man tut, Erfolg haben wird. Und wie misst man Erfolg? Irgendwann wird sowieso alles zur Routine. Die Interviews, die Gastauftritte in den Shows, der Medienrummel. Sogar das, was von der Regenbogenpresse als Glamour verkauft wird, kann langweilig werden.“

„Ist das der Grund, dass Sie zurück nach Deutschland wollen?“

„Sie stellen vielleicht Fragen. Wie kommen Sie denn darauf?“

„Ich dachte, ich hätte das zwischen den Zeilen herausgehört. Mir scheint, Sie haben genug von Amerika.“

„Dann haben Sie aber gute Ohren.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden werde. Das muss die Lesereise ergeben. Vielleicht ergeht es mir mit Deutschland wie mit Amerika. Wenn ich lange genug hier gewesen bin, zieht es mich wieder zurück.“

„Nach Boston?“, stocherte Frank herum, in der Hoffnung, das Gespräch in eine Richtung zu lenken, die ihm hinsichtlich dieses Briefes mit der angeblichen Drohung ihres Exmannes weiterhelfen könnte.

„Boston ist eine Millionenstadt und weist sicherlich viele interessante Aspekte auf.“

„Aber?“

„Aber Boston wird nie meine Heimat werden.“ Sie lachte auf. „Nun habe ich es ausgesprochen.“

„Was?“, fragte Frank.

„Das Wort, das ich vermeiden wollte. Heimat.“

„Was ist daran so schlimm?“

„Nichts. Und trotzdem. Das macht mich zu einem Menschen, der zurückblickt. Wissen Sie, Frank, ich habe im Laufe der Jahre in Amerika so viele Menschen getroffen, die mir als völlig Fremder ihre Gefühle offenbarten. Gefühle von Heimweh und Verlust. Die Iren sind da ganz besonders schlimm. Die fangen gleich an zu singen.“ Sie lachte kurz auf. „Ich wollte nie zu denen gehören. Weder singend noch schreibend.“

„In meinen Ohren klingt das durchaus normal“, sagte Frank und wechselte das Thema. „Die landwirtschaftliche Lehre haben Sie doch sicherlich aus einem bestimmten Grund gemacht. Hatten Sie einen Hof oder wollten Sie in einen Hof einheiraten?“

„Jetzt kommt aber der Ermittler in Ihnen durch.“ Ihr Lächeln wurde schlagartig künstlich. Sie zog ihr Portemonnaie hervor.

„Ich bitte Sie, Sie sind mein Gast“, wehrte er ab.

„Das ist nicht nötig. Sie haben mir doch schon diesen beeindruckenden Strauß geschenkt.“ Der Schein, den sie auf den Tisch legte, war groß genug, um auch seine Bestellung einzubeziehen. „Es war nett, Sie kennen zu lernen, Frank. Ich denke, jedes weitere Treffen erübrigt sich. Wir haben uns genügend ausgetauscht, so dass Sie wissen, dass keine Gefahr besteht.“

„Ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen“, sagte Frank, legte seinerseits einen Schein auf den Tisch und zückte seine Visitenkarte. „Die obere Nummer ist die vom Revier, die untere meine. Rufen Sie mich bitte an und teilen Sie mir mit, wann Sie Zeit haben, mich wieder zu treffen.“

„Gar nicht“, sagte sie abweisend, schnappte sich den Strauß und rauschte hinaus. Die Visitenkarte ließ sie unbeachtet.

Frank hatte Mühe, ihr durch den engen Flur zu folgen.

„Solange Sie mir nicht eindeutig nachweisen können, dass Sie nicht in Gefahr sind, werde ich mich um Sie kümmern“, sagte er, als er sie auf dem Parkplatz einholte.

Sie lachte gekünstelt auf. „Ach ja, aber haben Sie nicht zu Anfang des Gespräches gesagt, ich solle den Ermittler vergessen?“

Frank lächelte gewinnend. „Ich wollte Sie nicht verschrecken.“

„Herr Kommissar, ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Das kann ich sehen, und doch verheimlichen Sie mir etwas.“

„Das ist albern.“, entgegnete sie scharf. „Und ich werde mich nicht noch einmal mit Ihnen treffen.“

Frank stand vor ihr und spürte ihren warmen Atem. Ihr Parfüm roch blumig und ihre Haut war so samten wie ein Schmetterlingsflügel. Sie wandte sich abrupt ab, öffnete die Beifahrertür und deponierte den Blumenstrauß auf dem Sitz. Ohne ihn weiter zu beachten, setzte sie sich in den Wagen und startete den Motor. Rothe sah ihr gebannt nach. Was hatte diese Frau nur an sich, dass er sich wie ein Trottel behandeln ließ?

Als sie außer Sichtweite war, holte er sein Handy hervor und wählte Simones Nummer. Auf der anderen Seite hob jemand ab. Er fragte sie, lauschte und lachte. Diese Nacht würde er nicht alleine verbringen. Irgendwie war er darüber sehr erleichtert.

Das Kreuz

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