Читать книгу Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2 - Augustinus von Hippo - Страница 5
14. Buch
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1. Durch den Ungehorsam des ersten Menschen wären alle in den zweiten, ewigen Tod versunken, wenn nicht Gottes Gnade viele erlöste.
Es war schon die Rede davon[1] , daß Gott die Menschen aus einem Menschen hervorgehen lassen wollte, um so das Menschengeschlecht nicht nur durch die Gleichheit der Natur zu vergemeinschaften, sondern auch durch eine Art verwandtschaftlicher Beziehung mit dem Bande des Friedens zu einträchtiger Einheit zu verknüpfen; wie auch davon, daß dieses Geschlecht in seinen einzelnen Gliedern nicht hätte sterben sollen, wenn nicht die zwei ersten, der eine erschaffen aus keinem, die andere aus dem einen, durch ihren Ungehorsam dies verschuldet hätten. Sie begingen eine so ungeheuerliche Sünde, daß dadurch die menschliche Natur verschlechtert ward, indem die Verstrickung in die Sünde und die Unvermeidlichkeit des Todes auch auf die Nachkommen überging. Die Herrschaft des Todes über die Menschen erstreckte sich aber in ihrer Gewalt so weit, daß die verdiente Strafe alle unrettbar auch in den zweiten Tod, der kein Ende hat, stürzen würde, wenn nicht Gottes unverdiente Gnade Bestimmte davor bewahrte. Und daher kommt es, daß es trotz der großen Zahl der Völker auf Erden und ihrer Vielgestaltigkeit in Sprache, Kriegswesen, Tracht, doch nur zwei Arten menschlicher Gemeinschaft gibt, die wir nach unseren Schriften recht wohl als zwei Staaten bezeichnen können. Der eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleische, der andere aus denen, die nach dem Geiste leben wollen, jeder in dem seiner Art zukommenden Frieden, in welchem sie auch wirklich leben, wenn sie das Ziel ihres Strebens erreichen.
2. Der Begriff „Leben nach dem Fleische“ umfaßt nicht nur leibliche, sondern auch geistige Laster.
Zunächst nun sind die Begriffe klarzustellen: nach dem Fleische leben und nach dem Geiste leben. Auf den ersten Blick und wenn man den Sprachgebrauch der Heiligen Schrift nicht vor Augen hat oder ihn zu wenig beachtet, möchte man meinen, nach dem Fleische lebte etwa die epikureische Philosophenschule, weil sie das höchste Gut des Menschen in die körperliche Lust setzt, und wer sonst noch unter den Philosophen das Beste des Leibes für das höchste Gut hält, und dazu die ganze Masse derer, die, ohne lang zu philosophieren, der Genußsucht ergeben, nur an Lüsten, die sie mit den leiblichen Sinnen empfinden, Freude zu haben vermögen; dagegen die Stoiker, die das höchste Gut des Menschen im Geiste suchen, lebten nach dem Geiste, weil auch der Menschengeist eben ein Geist ist. Allein wenn wir vom Sprachgebrauch der Heiligen Schrift ausgehen, so zeigt sich, daß die einen wie die andern nach dem Fleische leben. Sie bezeichnet als Fleisch nicht allein den Leib des irdischen und sterblichen Lebewesens [wie etwa in der Stelle[2] : „Nicht jedes Fleisch ist dasselbe Fleisch; ein anderes ist das des Menschen, ein anderes das der Tiere auf der Erde, ein anderes das der Vögel, ein anderes das der Fische“], sondern sie gebraucht dieses Wort außerdem noch in vielen anderen Bedeutungen, und unter diesen mannigfachen Redeweisen nennt sie oft auch den Menschen selbst, die Natur des Menschen, Fleisch, wie zum Beispiel[3] : „Aus den Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtfertigt werden“. Dabei meint sie natürlich: kein Mensch. Das sagt sie deutlicher kurz hernach[4] : „Im Gesetz wird niemand gerechtfertigt“, und im Brief an die Galater heißt es[5] : „Wir wissen aber, daß der Mensch aus den Werken des Gesetzes nicht gerechtfertigt wird“. In demselben Sinn heißt es ferner[6] : „Und das Wort ist Fleisch geworden“, d. i. Mensch geworden, was manche[7] unrichtig dahin aufgefaßt haben, Christus habe keine menschliche Seele gehabt. In diesen Stellen ist lediglich der Teil statt des Ganzen gesetzt und also der Mensch gemeint, wenn man das Fleisch nennt, gerade so wie umgekehrt das Ganze im Sinne eines Teiles gebraucht ist in den Worten, die das Evangelium von Maria Magdalena berichtet[8] : „Sie haben meinen Herrn fortgenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“, da sie hier doch nur vom Fleische Christi spricht, welches sie bestattet glaubte und nun aus dem Grab entführt wähnte. Während so die Heilige Schrift das Wort Fleisch in vielerlei Bedeutungen gebraucht, die zu durchforschen und zusammenzustellen zu weit führen würde, wollen wir, um darauf zu kommen, was nach dem Fleische leben heißt [es ist etwas Schlechtes, obwohl die Natur des Fleisches nichts Schlechtes ist], genau ins Auge fassen die Stelle aus dem Galaterbrief des Apostels Paulus, wo er sagt[9] : „Offenkundig sind die Werke des Fleisches, als da sind: Hurereien, Unreinigkeiten, Geilheit, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Zank, Eifersucht, Erregtheit, Uneinigkeit, Ketzerei, Neid, Trunksucht, Völlerei und anderes der Art, wovon ich euch verkündige, wie ich es schon ehedem gesagt habe, dass die, die solches tun, das Reich Gottes nicht besitzen werden“. Diese Stelle aus dem Apostelbrief, in ihrer Gesamtheit betrachtet, soweit es für den vorliegenden Gegenstand nötig erscheint, wird die Frage entscheiden können, was nach dem Fleische leben heißt. Unter Werken des Fleisches, die der Apostel da offenkundig nennt und verurteilt, nachdem er sie aufgezählt hat, finden wir nicht nur solche der Fleischeslust, wie Hurereien, Unreinigkeiten, Geilheit, Trunksucht, Völlerei, sondern auch solche, die Geistessünden bezeichnen und mit der Fleischeslust nichts zu tun haben. Leicht erkennt jeder, daß Dienstbarkeit, den Götzen erwiesen, Zauberei, Feindschaft, Zank, Eifersucht, Erregtheit, Uneinigkeit, Ketzerei, Neid Geistessünden sind, nicht Fleischessünden. Es kann ja sogar vorkommen, daß man sich um des Götzendienstes oder um eines ketzerischen Irrtums willen Enthaltung von leiblichen Lüsten auferlegt; und dennoch lebt der Mensch auch dann, mag er schon die Gelüste des Fleisches zähmen und beherrschen, nach dem Ausspruch des Apostels unzweifelhaft nach dem Fleische, und es zeigt sich, daß er in eben seiner Enthaltung von Fleischeslust verdammliche Werke des Fleisches übt. Feindschaften haben doch ihren Sitz im
Geiste; niemand würde sich einem wirklichen oder vermeintlichen Feinde gegenüber der Ausdrucksweise bedienen: „Du hast böses Fleisch wider mich“, sondern man sagt: „Du hast bösen Geist wider mich“. Und endlich wie man, hörte man von Fleischlichkeiten, um mich so auszudrücken, solche sofort mit dem Fleisch in Zusammenhang brächte, so zweifelt niemand, daß die Erregtheit zu den Geistesregungen gehört. Wenn also der Apostel, der Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit, alle diese und ähnliche Dinge Werke des Fleisches nennt, so geschieht es nur deshalb, weil er nach der Redefigur, bei der das Ganze durch den Teil bezeichnet wird, den Menschen selbst unter dem Fleisch verstanden wissen will..
3. Die Ursache der Sünde ging aus der Seele hervor, nicht aus dem Fleische; und die durch die Sünde eingetretene Vergänglichkeit ist nicht Sünde, sondern Strafe.
Stellt man das Fleisch als die Ursache aller sittlichen Gebrechen hin mit Berufung darauf, daß eben nur die vom Fleische beeinflußte Seele ein solches Leben führt, so heißt dies doch, die Gesamtnatur des Menschen außer Auge lassen. Freilich „beschwert der vergängliche Leib die Seele“[10] . Und deshalb äußert sich auch der Apostel, wo er von diesem vergänglichen Leibe handelt, über den er die Worte vorausschickt[11] : „Wenn auch unser äußerer Mensch der Vergänglichkeit unterworfen ist“, wie folgt[12] : „Wir wissen, daß wir, wenn dieses unser irdisches Wohnhaus aufgelöst wird, ein Gebäude von Gott empfangen, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges im Himmel. Wir seufzen ja danach, voll Verlangen, mit unserer himmlischen Wohnung überkleidet zu werden; wenn wir freilich auch bekleidet, nicht nackt erfunden werden. Denn die wir in dieser irdischen Wohnung sind, seufzen beschwert, und wollen darin nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde“. Wir fühlen uns also einerseits beschwert durch den vergänglichen Leib, wollen aber andrerseits dieses Leibes nicht entkleidet, sondern mit seiner Unsterblichkeit bekleidet werden, wohl wissend, daß nicht Natur und Wesen des Leibes, sondern seine Vergänglichkeit die Ursache der Beschwernis ist. Denn er wird auch im Jenseits vorhanden sein, aber er wird nicht beschwerlich fallen, weil er nicht mehr vergänglich ist. Also zurzeit beschwert der vergängliche Leib die Seele, und die irdische Einwohnung drückt nieder den Geist, den vieles erwägenden“. Allein wer alle Übel der Seele dem Leib auf Rechnung schreibt, ist im Irrtum.
Platos Anschauung allerdings legt Vergil[13] in prächtigen Versen dar mit den Worten:
„All diese Samen des Lebens
Sind voll feuriger Kraft, vom Himmel gekommen, soweit nicht
Lästiger Körper Schwere sie drückt, nicht irdische Hülle
Sterblicher Glieder sie hemmt“;
und um zu verstehen zu geben, daß all die vier wohlbekannten Gemütserregungen[14] : Begierde, Furcht, Lust, Traurigkeit, als die Wurzeln aller Sünden und Laster vom Leibe herkommen, fügt er bei:
„Dies die Quelle der Furcht und Begier, des Schmerzes, der Freude;
Eingeschlossen in Nacht und finsteren Kerker, erhebt sich
Nicht mehr zum Himmel der Blick.“
Aber unser Glaube lehrt anders. Nach ihm ist die Vergänglichkeit des Leibes, die die Seele beschwert, nicht die Ursache der ersten Sünde, sondern Strafe für sie, und nicht das vergängliche Fleisch hat die Seele zum Sündigen gebracht, sondern die sündigende Seele hat das Fleisch vergänglich gemacht. Wenn nun auch aus diesem Verderbnis des Fleisches mancher Anreiz zur Sünde und selbst auch sündhafte Begierden entspringen, so darf man doch nicht alle Laster eines verkehrten Lebens dem Fleische zuschreiben; sonst würden wir den Teufel, der kein Fleisch hat, in diesen Dingen völlig entlasten. Freilich kann man den Teufel nicht einen Hurer nennen oder einen Trunkenbold oder sonst etwas Schlimmes, was mit der Fleischeslust zusammenhängt, obwohl er auch zu solchen Sünden insgeheim überredet und anstachelt, aber er ist im höchsten Grade hochmütig und neidisch. Und so sehr hat diese Schlechtigkeit von ihm Besitz ergriffen, daß er um ihretwillen in den Kerkern dieser dunklen Luft zu ewiger Pein bestimmt ward[15] . Jene Laster aber, die im Teufel die Oberhand haben, weist der Apostel dem Fleische zu, obwohl der Teufel sicher kein Fleisch hat. Er bezeichnet nämlich Feindschaft, Streit, Eifersucht, Heftigkeit, Neid als Werke des Fleisches, und Haupt und Ursprung all dieser Übel ist der Hochmut, der ohne Fleisch im Teufel seine Herrschaft übt. Wer ist feindseliger gesinnt als er wider die Heiligen? Wer gegen sie streitsüchtiger, heftiger, eifersüchtiger, neidischer? Und da er alle diese Leidenschaften hat, ohne Fleisch zu haben, so können sie Werke des Fleisches nur deshalb sein, weil sie Werke des Menschen sind, den der Apostel, wie gesagt, mit dem Fleische meint. Denn nicht dadurch ist der Mensch dem Teufel ähnlich geworden, daß er ein Fleisch hat, das der Teufel gar nicht hat, sondern dadurch, daß er nach sich selber, nach dem Menschen also, lebt; auch der Teufel nämlich wollte nach sich selbst leben, als er in der Wahrheit nicht standhielt[16] und infolgedessen aus seinem Eigentum, nicht aus dem, was Gottes ist, Lüge redete, nicht nur ein Lügner, sondern selbst der Vater der Lüge. Er zuerst hat gelogen, und wie die Sünde, so hat auch die Lüge von ihm ihren Ausgang genommen.
4. Der Sinn der Worte „nach dem Menschen leben“ und „nach Gott leben“.
Lebt also der Mensch nicht nach Gott, sondern nach dem Menschen, so ist er dem Teufel ähnlich; denn auch der Engel durfte nicht nach dem Engel, sondern mußte nach Gott leben, sollte er in der Wahrheit standhalten und aus dem, was Gottes, die Wahrheit reden, statt aus dem Eigenen zu lügen. Und vom Menschen sagt der Apostel an anderer Stelle[17] : „Wenn aber die Wahrheit Gottes in meiner Lüge überströmte“. Die Lüge nennt er da unser Eigen, die Wahrheit spricht er Gott zu. Wenn demnach der Mensch nach der Wahrheit lebt, so lebt er nicht nach sich selbst, sondern nach Gott. Gott ist es, der gesagt hat[18] : „Ich bin die Wahrheit“. Lebt er aber nach sich selbst, d. i. nach dem Menschen und nicht nach Gott, so lebt er klärlich nach der Lüge; nicht als wäre der Mensch selbst die Lüge, da ja sein Urheber und Schöpfer Gott ist, der natürlich nicht Urheber und Schöpfer der Lüge ist, sondern weil die dem Menschen anerschaffene Grundrichtung erfordert, daß er nicht nach sich selbst, sondern nach dem lebe, der ihn erschaffen hat, d. h. daß er dessen und nicht seinen Willen tue; nicht so leben, wie es ihm anerschaffen ist, darin besteht die Lüge. Er will nämlich glückselig sein, auch wenn er nicht so lebt, daß er es sein kann. Ein solcher Wille ist das Verlogenste, was es gibt. Und mit gutem Grund kann man deshalb sagen, jede Sünde sei eine Lüge. Denn die Sünde kommt nur zustande durch einen auf unser Wohlergehen oder auf Abwendung unseres Übelergehens gerichteten Willen. Also ist das Lüge, was zu unserm Wohlergehen geschieht, aber eben dadurch uns übel bekommt, oder was zur Besserung unserer Lage geschieht und sie in Wirklichkeit verschlechtert. Und dies rührt lediglich daher, daß es dem Menschen nur gut ergehen kann im Anschluß an Gott, den er nun aber durch die Sünde verläßt, nicht im Anschluß an sich selbst, in der Sünde, die darin liegt, nach sich selbst zu leben.
Wenn wir also die Ursache des Entstehens zweier verschiedener und sich entgegengesetzter Staaten darin gesucht haben, daß die einen nach dem Fleische, die andern nach dem Geiste leben, so könnte man als Ursache ebensogut bezeichnen, daß die einen nach dem Menschen, die andern nach Gott leben. Mit ausdrücklichen Worten sagt ja « Paulus » zu den Korinthern[19] : „Denn wenn unter euch Eifersucht und Streit « herrschen », seid ihr dann nicht fleischlich und wandelt nach dem Menschen?“ Also wandeln nach dem Menschen ist gleichbedeutend mit fleischlich sein, weil unter Fleisch als einem Teile des Menschen der Mensch selbst zu verstehen ist. Vorher hat er ohnehin die nämliche Gattung von Menschen seelisch genannt, die er hier als fleischlich bezeichnet; er sagt nämlich[20] : „Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm selbst ist? So weiß auch niemand, was Gottes ist, als nur der Geist Gottes. Wir aber“, fährt er fort, „haben nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt worden ist. Und das lehren wir auch, nicht mit gelehrten Worten menschlicher Weisheit, sondern mit geistgelehrten, indem wir das Geistige geistig behandeln. Der seelische Mensch dagegen faßt nicht, was des Geistes Gottes ist; ihm ist es Torheit.“ An solche also, an seelische meine ich, wendet er sich kurz hernach mit den Worten[21] : „Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistigen, sondern als zu Fleischlichen“; hier wie dort derselben Redefigur sich bedienend, mit dem Teil das Ganze bezeichnend. Denn sowohl mit der Seele als auch mit dem Fleische, den beiden Bestandteilen des Menschen, kann man das Ganze, den Menschen, bezeichnen; und so ist seelischer Mensch und fleischlicher Mensch gleichbedeutend, beides ist ein und dasselbe, nämlich der nach dem Menschen lebende Mensch, wie ja auch wieder eben Menschen gemeint sind sowohl in der Stelle[22] : „Aus den Werken des Gesetzes wird nicht gerechtfertigt werden jegliches Fleisch“, als auch in der Stelle[23] : „Fünfundsiebzig Seelen stiegen hinab mit Jakob nach Ägypten“. Dort ist unter jeglichem Fleisch jeglicher Mensch zu verstehen und hier unter den fünfundsiebzig Seelen fünfundsiebzig Menschen. Und statt: „nicht mit gelehrten Worten menschlicher Weisheit“ hätte es ebensogut heißen können: fleischlicher Weisheit, und statt: „ihr wandelt nach dem Menschen“ ebenso gut: nach dem Fleische. Noch deutlicher tritt das hervor in den anschließenden Worten[24] : „Denn wenn der eine sagt: Ich bin des Paulus, der andere aber: Ich des Apollo, seid ihr da nicht Menschen?“ Was er meinte mit den Ausdrücken: Seelisch seid ihr, fleischlich seid ihr, das sagt er hier genauer, voller: „Menschen seid ihr“, das will sagen: Nach dem Menschen lebt ihr, nicht nach Gott; würdet ihr nach Gott leben, so wäret ihr Götter,
5. Die Ansicht der Platoniker über das Wesen von Leib und Seele ist zwar erträglicher als die der Manichäer, aber doch auch nicht annehmbar, weil sie die Ursachen alles sittlich Bösen im Wesen des Fleisches sucht.
Man braucht also nicht unsere Sünden und Laster zur Schmach für den Schöpfer schuldzugeben der Natur des Fleisches, die in ihrer Art und an ihrem Orte gut ist, sondern dies ist nicht gut, unter Hintansetzung des guten Schöpfers nach einem geschaffenen Gut zu leben, ob man nun lieber nach dem Fleische oder nach der Seele oder nach dem ganzen Menschen lebt, der aus Seele und Leib besteht [weshalb er auch mit dem einen wie dem andern bezeichnet werden kann]. Denn wer als das höchste Gut die Natur der Seele preist und die Natur des Fleisches als ein Übel anschuldigt, der ist in seinem Streben und Meiden gleich fleischlich, obwohl er der Seele das Streben und dem Fleische das Meiden zugedacht hat; denn seine Meinung ist menschliche Torheit, nicht göttliche Wahrheit. Zwar verirren sich die Platoniker nicht soweit wie die Manichäer, daß sie die irdischen Körper gleich als das Wesen des Bösen verabscheuen würden, vielmehr führen sie alle Bestandteile, aus denen sich die sichtbare und betastbare Welt zusammensetzt, und dazu die Eigenschaften dieser Bestandteile auf Gott als Bildner zurück; jedoch lassen sie die Seele „durch die irdische Hülle sterblicher Glieder“[25] in der Weise beeinflußt werden, daß ihr daraus die Krankheiten der Begierde, Furcht, Lust und Bekümmernis erwachsen. Und in diesen vier Gemütserregungen, wie Cicero sie nennt[26] , oder Leidenschaften, wie man zumeist den griechischen Ausdruck hierfür wörtlich wiedergibt, ist die ganze Fehlerhaftigkeit des sittlichen Gehabens der Menschen beschlossen. Was soll aber dann des Äneas verwunderte Frage bei Vergil[27] , an den Vater gerichtet, der ihm von der Rückkehr der Seelen der Unterwelt in Leiber erzählt hat:
„Ist's denn glaublich, o Vater, daß einige Seelen zur Höhe
Wieder entschweben von hier und in träge Körper zurückgehn?
Welch unselige Gier nach Licht durchbebt diese Armen!“
Lebt diese unselige Gier immer noch von der „irdischen Hülle sterblicher Glieder“ her in den Seelen, trotz ihrer hochgepriesenen Reinheit? Sind sie nicht von aller derartigen Körperpest, wie er das nennt[28] , gereinigt, wenn sie „wieder zurück in Leiber zu wandern verlangen“?[29] Selbst angenommen also, es hätte seine Richtigkeit, was ganz und gar grundlos ist, mit der stets wechselnden Reinigung und Befleckung von unablässig hin- und wiederwandernden Seelen, so hätte man doch nicht sagen dürfen, daß den Seelen alle schuldbaren und sündhaften Regungen nur aus ihren irdischen Leibern erwüchsen; denn jene unselige Gier, um mit dem edlen Wortführer zu reden, rührt nach den Platonikern durchaus nicht vom Leibe her; sie zwingt vielmehr die von aller Körperpest gereinigte und außerhalb jeglichen Körpers befindliche Seele erst hinein in einen Leib. Demnach wird auch nach ihrem eigenen Geständnis die Seele nicht vom Leib allein beeinflußt in der Richtung auf Begierde, Furcht, Lust und Bekümmernis, sondern sie kann auch aus sich selbst durch solche Regungen erschüttert werden.
6. Die Beschaffenheit des Willens macht es aus, ob die von ihm beherrschten Gemütsbewegungen schlecht oder gut sind.
Es kommt indes auf die Beschaffenheit des Willens im Menschen an; ist der Wille verkehrt, so werden auch diese Regungen in ihm verkehrt sein; ist er dagegen gerade gerichtet, so werden sie nicht nur untadelhaft, sondern selbst lobenswert sein. Denn in allen Regungen ist Wille vorhanden, ja sie alle sind nichts anderes als Willensregungen. Begierde und Lust sind lediglich der Wille in der Bejahung dessen, was wir wollen; Furcht und Traurigkeit der Wille in der Verneinung dessen, was wir nicht wollen. Wenn wir bejahen durch Streben nach dem, was wir wollen, so heißt man das Begierde; und wenn wir bejahen durch Genießen dessen, was wir wollen, so nennt man das Lust. Und umgekehrt, wenn wir uns ablehnend verhalten gegen Dinge, deren Eintritt wir nicht wollen, so ist eine solche Willensregung Furcht; und wenn wir uns ablehnend verhalten gegen Dinge, die wider unsern Willen eingetreten sind, so ist eine solche Willensregung Traurigkeit. Und ganz allgemein wandelt und wendet sich der Wille zu Regungen so oder so, wie er angezogen oder abgestoßen wird je von den verschiedenen Gegenständen, die man anstrebt oder meidet. Deshalb braucht der Mensch, der nach Gott und nicht nach dem Menschen lebt, nur ein Freund des Guten zu sein; daraus ergibt sich dann von selbst, daß er dem Bösen seinen Haß zuwendet. Und einen „vollkommenen Haß“ schuldet er den bösen Menschen[30] , das will sagen: da niemand seiner Natur nach böse ist, sondern jeder Böse nur durch die Sünde böse ist, so darf der, welcher nach Gott lebt, weder den Menschen hassen wegen der Sünde noch die Sünde lieben wegen des Menschen, sondern muß die Sünde hassen und den Menschen lieben. Denn wenn die Sünde beseitigt ist, so bleibt nur solches zurück, was er zu lieben hat, und nichts, was er zu hassen hätte.
7. Die Worte amor und dilectio werden in der Heiligen Schrift unterschiedslos nach der guten und der schlimmen Seite gebraucht.
Denn wer sich vorgesetzt hat, Gott zu lieben, und nicht dem Menschen gemäß, sondern Gott gemäß den Nächsten zu lieben, wie auch sich selber, der wird ohne Zweifel wegen dieser Liebe als eines guten Willens bezeichnet. Diese Willensrichtung heißt in der Hl. Schrift meist Caritas, doch wird auch das Wort amor dafür gebraucht. Ein amator des Guten zum Beispiel sagt der Apostel[31] müsse der sein, den man zur Leitung des Volkes auswählt. Und als der Herr selbst den Apostel Petrus fragte: „Liebst du mich mehr als diese“ und sich dabei des Wortes diligere bediente, erwiderte Petrus, indem er das Wort amo gebrauchte: „Herr, Du weißt, daß ich Dich liebe“[32] ; und wiederum fragte der Herr, ob ihn Petrus liebe, wieder nicht amare, sondern diligere gebrauchend; aber Petrus wiederholte seine Beteuerung in der vorigen Weise, d. i. mit dem Worte amo. Bei der dritten Frage jedoch bediente sich Jesus selbst nicht mehr des Wortes diligo, sondern des Wortes amo, und der Evangelist fährt fort: „Da ward Petrus betrübt, daß er zum drittenmal zu ihm sagte: Liebst du mich“, und hier, in der Zusammenfassung der dreimaligen Frage des Herrn, gebraucht der Evangelist das Wort amo, obwohl sich dessen der Herr nur in einer Frage, in den beiden andern dagegen des Wortes diligo bediente. Daraus ersehen wir, daß der Herr mit diligere nichts anderes sagen wollte als mit amare. Petrus jedoch wechselte mit dem Ausdruck für dieselbe Sache nicht, sondern gebrauchte amo auch zum drittenmal, als er erwiderte: „Herr, Du weißt alles, Du weißt, daß ich Dich liebe“.
Das glaubte ich deshalb heranziehen zu sollen, weil manche meinen, dilectio oder caritas sei etwas anderes als amor. Dilectio hätte nach ihnen einen guten, amor einen schlimmen Sinn. Daß ein derartiger Bedeutungsunterschied nicht einmal bei den weltlichen Schriftstellern obwaltet, steht fest. Mögen indes die Philosophen zusehen, ob und wie sie einen Unterschied zwischen diesen Wörtern machen wollen; ihr Schrifttum gibt deutlich zu erkennen, daß sie jedenfalls den amor, der sich auf gute Dinge und auf Gott selbst richtet, in Ehren halten. Es war nur darauf hinzuweisen, daß unser religiöses Schrifttum, das wir an Geltung und Ansehen über jedes andere stellen, unter amor nichts anderes versteht als unter dilectio und caritas. Und zwar haben wir bereits dargetan, daß auch amor in gutem Sinne gebraucht wird. Man könnte nun etwa noch meinen, daß amor nach der guten wie nach der schlimmen Seite, dilectio dagegen nur in gutem Sinne zu gebrauchen sei. Aber dagegen sprechen Schriftstellen, in denen diligere und dilectio ebenfalls in beiden Bedeutungen gebraucht ist, wie die Psalmstelle[33] : „Wer die Ungerechtigkeit liebt, haßt seine Seele“, und die Worte des Apostels Johannes[34] : „Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“, wo gar in derselben Stelle dilectio in gutem und in schlimmem Sinne vorkommt. Will man aber einen Beleg für den Gebrauch von amor in schlimmem Sinn [den in gutem Sinn haben wir schon nachgewiesen], so lese man die Schriftstelle[35] : „Denn es werden die Menschen sein se ipsos amantes, amatores pecuniae“. Der gerade Wille also ist gute Liebe, der verkehrte Wille schlechte Liebe. Liebe, die nach dem Besitze ihres Gegenstandes lechzt, ist Begierde, Liebe im Besitz und Genuß ihres Gegenstandes ist Lust; Liebe, die dem ausweicht, was ihr feindlich entgegentritt, ist Furcht, und Liebe, die das ihr feindliche Begegnis empfindet, ist Traurigkeit. All diese Gemütsbewegungen sind also schlecht, wenn die Liebe schlecht ist, gut, wenn sie gut ist. Das wollen wir aus der Schrift beweisen. Der Apostel verlangt[36] aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein; ferner[37] : „Meine Seele begehrt, Deine Satzungen zu verlangen“ oder vielleicht besser: „Meine Seele ist voll Verlangen danach, Deine Satzungen zu begehren“; oder[38] : „Die Begierde nach Weisheit führt zur Herrschaft“. Doch hat sich der Sprachgebrauch dahin ausgebildet, daß man unter Lust oder Begierde schlechthin ohne Beifügung des Gegenstandes nur Lust und Begierde im schlimmen Sinne versteht. Freude im guten Sinn ist gemeint in den Stellen[39] : „Freuet euch im Herrn und frohlocket, ihr Gerechten“; oder[40] : „Freude hast Du gegeben in mein Herz“; oder[41] : „Du wirst mir Freude geben vollauf durch Dein Angesicht“. Furcht in gutem Sinn findet sich bei dem Apostel erwähnt, wo er sagt[42] : „Mit Furcht und Zittern wirket euer eigen Heil“; oder[43] : „Sei nicht hoffärtig, sondern fürchte dich“; oder[44] : „Ich fürchte aber, es möchten, wie einst die Schlange mit ihrer Arglist die Eva verführt hat, so auch eure Gemüter verderbt werden und entfremdet der Keuschheit, die in Christo ist“. Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob sich auch Traurigkeit in gutem Sinne findet; so nämlich sage ich lieber als Unbehagen[45] , wie Cicero diese Gemütsbewegung nennt[46] , oder als Schmerz, wie sie bei Vergil heißt in der Stelle[47] : „Dies ist die Quelle — — des Schmerzes, der Freude“; denn Unbehagen und Schmerz sind mehr für leibliche Zustände in Gebrauch.
8. Von den drei Affekten, die sich nach den Stoikern im Geiste des Weisen finden unter Ausschluß des Schmerzes oder der Traurigkeit, wovon ein gesunder Geist nichts wisse.
Was nämlich bei den Griechen eupaqeiai heißt, im Lateinischen bei Cicero constantiae, die vernünftigen Stimmungen der Seele, deren kennen die Stoiker nur drei, entsprechend den drei Gemütsbewegungen, die im Geiste des Weisen vorkommen, und zwar der Begierde gegenüber das vernünftige Verlangen [voluntas], der Lust gegenüber die Freude, der Furcht gegenüber die Vorsicht; dagegen der Bekümmernis oder dem Schmerz gegenüber, also jener Gemütsbewegung gegenüber, die wir zur Vermeidung aller Zweideutigkeit lieber als Traurigkeit bezeichnen, könne es im Geiste des Weisen keine entsprechende Stimmung geben. Das vernünftige Verlangen nämlich strebt nach dem Guten, sagen sie, und das eben tut der Weise; die Freude bezieht sich auf das erreichte Gute, und das Gute erreicht der Weise überall; die Vorsicht geht dem Übel aus dem Wege, und diesem muß der Weise aus dem Wege gehen; dagegen der Traurigkeit gegenüber könne es deshalb im Geiste des Weisen nichts geben, weil sie sich auf ein bereits eingetretenes Übel bezieht, den Weisen aber nach ihrer Lehre kein Übel treffen kann. Nur der Weise, so will es ihre Theorie, verlangt, ist frohgemut und übt Vorsicht; der Tor dagegen weiß nur zu begehren, Lust zu empfinden, sich zu fürchten und sich zu betrüben; und jene drei Stimmungen nennen sie die vernünftigen, diese vier dagegen die Gemütserregungen, perturbationes nach Cicero, sonst meist Passionen. Im Griechischen heißen die vernünftigen Stimmungen, wie gesagt, εὐπάθειαι, die vier Gemütserregungen πάθη. Wie ich nun mit möglichster Sorgfalt nachgeforscht habe, ob eine solche Ausdrucksweise in der Heiligen Schrift einen Rückhalt habe, stieß ich auf das Wort des Propheten[48] : „Es findet sich keine Freude bei den Gottlosen, spricht der Herr“; etwa in dem Sinne, daß das Böse bei den Gottlosen nur Lust, nicht Freude auslösen könne, weil sich zu freuen ausschließlich den Guten und Frommen zusteht. Und ebenso scheint die Stelle im Evangelium[49] : „Wonach immer ihr Verlangen habt, daß es euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun“ dafür zu sprechen, daß man im schlimmen und schändlichen Sinne wohl begehren, aber nicht Verlangen haben könne. Allerdings haben manche Übersetzer mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch das Wörtchen „Gutes“ beigefügt und übersetzt: „Alles Gute, wonach ihr Verlangen habt, daß es euch die Leute tun“. Sie glaubten vorbeugen zu müssen, daß man nicht Unehrbares von den Leuten verlange, etwa schwelgerische Gastmähler, um von schändlicheren Dingen zu schweigen, und nicht vermeine, dieses Gebot nun zu erfüllen, wenn man derlei auch den Leuten gewähre. Allein im griechischen Text, aus dem der lateinische geflossen ist, steht das Wörtchen „Gutes“ nicht da, sondern heißt es einfach: „Wonach immer ihr Verlangen habt, daß es euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun“; ich denke, deshalb, weil in dem Ausdruck „Verlangen habt“ schon die Richtung auf Gutes angedeutet ist. Sonst müßte es heißen: „Was ihr begehret“.
Indes darf man nicht überall unsere Sprechweise auf diese Sonderbedeutungen einschränken, zuweilen jedoch sind sie am Platz; und bei den [heiligen] Schriftstellern, vor deren Autorität die eigene Meinung verstummen muß, sind solche Sonderbedeutungen überall da anzunehmen, wo die richtige Auslegung zu keinem andern Ergebnis zu gelangen vermag; so in den Stellen, die ich als Beispiele teils aus einem Propheten, teils aus dem Evangelium vorgeführt habe. Wer wüßte auch nicht, daß die Gottlosen jauchzen vor Lust? Und doch „spricht der Herr: Es findet sich keine Freude bei den Gottlosen“. Das kann doch nur daher kommen, daß Freude im besonderen und engeren Sinn etwas anderes ist als Lust. Und ebenso liegt auf der Hand, daß zu Unrecht geboten wird, den Leuten all das zu tun, was man von ihnen für sich verlangt; damit würde ja gegenseitiger Ergötzung durch schändliche und unerlaubte Lust das Wort gesprochen; und gleichwohl ist es ein sehr heilsames und wohlbegründetes Gebot: „Wonach immer ihr Verlangen habt, daß es euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun“. Wiederum nur deshalb, weil hier „Verlangen“ in einem besonderen Sinne gebraucht ist und nicht nach der schlimmen Seite gedeutet werden kann. Allein der sonst allgemein übliche Sprachgebrauch kennt auch ein böses Verlangen; sonst könnte es nicht heißen[50] : „Trage kein Verlangen, irgendeine Lüge zu sagen“, und in ausdrücklichen Gegensatz zu diesem bösen Willen wird der gesetzt, den die Engel verkündigt haben[51] : „Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind“. Hier ist ja „gut“ ganz überflüssig, wenn die Willensrichtung nur gut sein kann. Und wenn der Apostel zum Lob der Liebe aussagt, daß sie sich nicht freue der Ungerechtigkeit[52] , so gewinnt dieses Lob seine Kraft nur dadurch, daß sich die Bosheit in dieser Weise freut. Denselben unterschiedslosen Gebrauch dieser Wörter findet man auch bei den weltlichen Schriftstellern. Cicero, der hochgefeierte Redner, sagt[53] : „Ich begehre, milde zu sein, versammelte Väter“. Er hat also hier dieses Wort in gutem Sinne gebraucht, und wer möchte ein solcher Wortfuchser sein, zu behaupten, er hätte „verlangen“ statt „begehren“ sagen sollen! Ferner bei Terenz sagt ein lasterhafter junger Mensch, von toller Begierde entbrannt[54] : „Ich verlange nichts anderes als Philumene“. Daß dieses Verlangen unreine Begier gewesen, zeigt sattsam die Antwort, die seinem vernünftigeren Sklaven in den Mund gelegt wird: „Es wäre weit besser, du bemühtest dich, solche Liebe in deinem Herzen zu ersticken, statt Dinge zu reden, die deine Begier noch mehr und doch umsonst anfachen“. Daß sie auch Freude in schlimmer Bedeutung gebrauchten, bezeugt jener Vergilische Vers, worin die vier Gemütsbewegungen auf den kürzesten Ausdruck gebracht sind[55] ;
„Dies die Quelle der Furcht und Begier, des Schmerzes, der Freude“.
Und an anderer Stelle[56] spricht derselbe Dichter von „den schlimmen Freuden des Geistes“.
Und also verlangen und hüten sich und freuen sich die Bösen sowohl wie die Guten, oder um dasselbe mit andern Worten zu sagen: es begehren, fürchten sich und hegen Lust die Guten sowohl wie die Bösen; aber die einen auf gute, die andern auf böse Art, je nachdem die Träger dieser Stimmungen und Gemütsbewegungen einen geraden oder einen verkehrten Willen haben. Und auch die Traurigkeit, für die die Stoiker kein Gegenstück im Geiste des Weisen zu entdecken vermochten, findet sich in gutem Sinne, namentlich in unserm Schrifttum. So lobt der Apostel die Korinther, daß sie sich gottgefällig betrübt hätten. Aber vielleicht wendet man gegen die Heranziehung dieser Stelle ein, daß der Apostel ihnen Glück gewünscht habe zu einer bußfertigen Betrübnis, wie sie nur möglich ist bei solchen, die gesündigt haben. Er schreibt nämlich[57] : „Ich sehe, daß jener Brief, wenigstens im Augenblick, euch betrübt hat; jetzt freue ich mich, nicht daß ihr euch betrübt habt, sondern daß ihr euch zur Buße betrübt habt. Denn ihr habt euch gottgefällig betrübt, so daß ihr durch uns auf keine Weise Schaden leidet. Denn die gottgefällige Traurigkeit bewirkt Buße zum Heil, die niemals reut; die Traurigkeit der Welt dagegen bewirkt den Tod. Seht doch nur, welchen Eifer eben diese gottgefällige Traurigkeit in euch zuwege gebracht hat.“ Und so können die Stoiker zu ihren Gunsten geltend machen, die Traurigkeit scheine wohl in der Form der Reue über die Sünde nützlich zu sein; im Geiste des Weisen aber könne sie sich schon deshalb nicht finden, weil ihm weder eine Sünde zustößt, durch deren Buße er sich betrüben müßte, noch sonst ein Übel, dessen Ertragung und Empfindung ihn traurig machte. Man erzählt ja selbst von Alcibiades [wenn ich mich nicht im Namen irre], er habe geweint, als ihm Sokrates abstritt, daß er glücklich sei, wofür er sich hielt, und ihm bewies, wie unglücklich er sei, da er töricht sei[58] . Für ihn war also die Torheit der Grund dieser ebenfalls nützlichen und wünschenswerten Traurigkeit, die sich darauf bezieht, daß man etwas ist, was man nicht sein soll. Allein nicht der Tor, sondern der Weise gilt den Stoikern erhaben über die Traurigkeit.
9. Im Leben der Gerechten haben die Gemütserregungen eine Stelle, aber sie sind auf das rechte Ziel gerichtet.
Indes haben wir uns mit den genannten Philosophen über die Frage der Gemütserregungen schon auseinandergesetzt im neunten Buch[59] und darauf hingewiesen, daß es ihnen mehr um Worte als um die Sache und mehr um Rechthaberei als um die Wahrheit zu tun sei. Bei uns dagegen kennen die auf der irdischen Wanderschaft gottgemäß lebenden Bürger der heiligen Stadt Gottes in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der gesunden Lehre alle diese Regungen, Furcht, Begierde, Schmerz, Freude, und weil ihre Liebe auf das rechte Ziel gerichtet ist, so sind bei ihnen auch alle diese Regungen in der rechten Ordnung. Sie fürchten die ewige Strafe und begehren nach dem ewigen Leben; sie empfinden Schmerz in der Gegenwart, weil[60] sie in sich selbst noch erseufzen, die Annahme an Kindesstatt, die Erlösung ihres Leibes, erst noch erwartend; sie freuen sich in Hoffnung, weil[61] „erfüllt werden wird das Wort, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod vom Siege“. Weiter fürchten sie zu sündigen, begehren auszuharren, fühlen Schmerz ob ihrer Sünden, freuen sich an guten Werken. Die Furcht zu sündigen schöpfen sie aus dem Wort[62] : „Weil die Ungerechtigkeit Überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten“, und das Verlangen auszuharren aus dem Wort[63] : „Wer ausharrt bis ans Ende, der wird selig werden“, und den Schmerz ob ihrer Sünden aus dem Wort[64] : „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, und die Freude an guten Werken aus dem Wort[65] : „Einen freudigen Geber liebt Gott“, Weiter — je nach ihrer inneren Schwäche oder Stärke — fürchten sie versucht zu werden oder verlangen danach; sind betrübt in Versuchungen oder freuen sich in solchen. Ihre Furcht schöpfen sie aus dem Wort[66] : „Wenn einer von irgendeiner Sünde übereilt worden sein sollte, so überweiset ihr, die ihr geistlich seid, einen solchen im Geiste der Sanftmut, und hab acht, daß nicht auch du versucht wirst“ ; und ihr Verlangen, versucht zu werden, aus dem Worte, das ein Held des Gottesstaates spricht[67] : „Prüfe mich, Herr, und versuche mich, erforsche mit Feuer meine Nieren und mein Herz“; und den Schmerz in Versuchungen aus dem Beispiel des weinenden Petrus, und die Freude in solchen aus den Worten des Jakobus[68] : „Erachtet es als eitel Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet“.
Und nicht nur um ihrer selbst willen geben sie sich solchen Regungen hin, sondern auch um anderer willen, deren Erlösung sie wünschen, deren Untergang sie fürchten, und über deren Untergang sie betrübt sind, über deren Rettung sie sich freuen. Einen vor allem wollen wir nennen, die wir von den Heiden her in die Kirche Christi gekommen sind, den Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit, den vortrefflichen Helden, der sich seiner Schwachheiten rühmt[69] , ihn, der mehr als alle seine Mitapostel gearbeitet[70] und durch zahlreiche Briefe die Völker Gottes belehrt hat, nicht bloß die, die er vor Augen sah, sondern auch die, die er im Geiste vorhersah. Auf diesen Mann, den Kämpen Christi, der, von ihm belehrt[71] , aus ihm gesalbt[72] , mit ihm gekreuzigt[73] , in ihm glorreich, auf der Schaubühne dieser Welt, wo er für Engel und Menschen zum Schauspiel ward[74] , den großen Kampf gesetzmäßig[75] gekämpft[76] und nach dem Siegespreis der von oben erhaltenen Berufung gerungen hat dem entgegen, was vor ihm lag[77] , auf ihn, sage ich, schauen die Bürger des Gottesstaates und sehen ihn mit Entzücken sich freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden[78] , nach außen in Kämpfen, innen in Furcht[79] , voll Sehnsucht, aufgelöst und mit Christus zu sein[80] , voll Verlangen, die Römer zu sehen, um auch bei ihnen einige Frucht zu gewinnen[81] , eifernd für die Korinther und aus Eifersucht fürchtend, es möchten ihre Gemüter verführt werden zum Abfall von der Keuschheit, die in Christus ist[82] , in großer Traurigkeit und beständigem Schmerz in seinem Herzen[83] über die Israeliten, daß sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen und ihre eigene aufzurichten suchen und so der Gerechtigkeit Gottes nicht untergeben sind[84] ; nicht nur seinen Schmerz, sondern selbst seine Trauer bekennend über solche, die vorher gesündigt und nicht Buße getan haben über ihre Unlauterkeit und Unzucht[85] .
Sind derlei Regungen und Leidenschaften, hervorgehend aus der Liebe zum Guten und aus heiliger Zuneigung, Laster zu nennen, gut, so nenne man die wahren Laster Tugenden. Aber da diese Leidenschaften, indem sie in Tätigkeit treten, wo es am Platz ist, der rechten Vernunft folgen, wie dürfte man sie doch Krankheiten [der Seele] oder schlechte Leidenschaften nennen? Daher hat auch der Herr selber, der völlig sündelos war, während seines Erdenwallens in Knechtsgestalt sie walten lassen, wo er es für recht hielt. Und echt war die menschliche Gemütsbewegung bei ihm, der einen wirklichen Menschenleib und einen wirklichen Menschengeist an sich trug. Wenn also von ihm im Evangelium berichtet wird, daß er sich über die Herzenshärte der Juden zornig betrübte[86] , daß er sagte[87] : „Ich freue mich um euretwillen, damit ihr glaubet“, daß er bei der Auferweckung des Lazarus Tränen vergoß[88] , daß er sehnliches Verlangen trug, mit seinen Jüngern das Osterlamm zu essen[89] , daß seine Seele beim Herannahen des Leidens traurig war[90] , so ist das natürlich nicht falsch berichtet. Vielmehr hat er solchen Regungen aus bestimmten Rücksichten Eingang verstattet in seinem menschlichen Gemüte, wenn er wollte, so gut wie er Mensch geworden ist, da er wollte.
Indes – das muß man zugeben – gehören derlei Regungen, und zwar auch die rechten und gottgemäßen, ausschließlich dem irdischen Leben an, nicht dem künftigen, das wir erhoffen, und oft genug müssen wir sie auch gegen unsern Willen über uns ergehen lassen. So kommt es vor, daß wir weinen, wo wir nicht wollen — ich meine natürlich hier nicht aus sündiger Begier, sondern aus rechter Liebe. Bei uns sind also diese Regungen Ausdruck der Schwäche, wie sie in der Menschennatur liegt; nicht so aber bei dem Herrn Jesus, der auch die Schwäche in seiner Gewalt hatte. Immerhin würden wir nicht einmal recht leben, wenn wir deren gar keine hätten, solang wir das irdische Leben mit seinen Schwächen zu führen haben. Wo der Apostel wider gewisse Leute Tadel und verdammendes Urteil ausspricht, nennt er auch als einen ihrer Fehler, daß sie „ohne Gemütserregung“ seien[91] . Auch der heilige Psalm sagt in vorwurfsvollem Tone[92] : „Ich wartete, ob einer mittrauere, und es fand sich keiner“. Völlige Unempfindlichkeit gegen den Schmerz während unseres Verweilens an dieser Stätte des Elends kann in der Tat, wie auch einer von den Gelehrten dieser Welt empfand und aussprach[93] , „nur sehr teuer erkauft werden, nur um den Preis seelischer Gefühllosigkeit und körperlicher Stumpfheit“. Was also die Griechen apaqeia nennen[94] , das ist etwas sehr Schönes und Wünschenswertes, wenn es dahin zu verstehen ist [man gebraucht das Wort nämlich von einem geistigen, nicht von einem körperlichen Zustand], daß man frei von solchen Leidenschaften leben soll, die im Gegensatz zur Vernunft auftreten und den Geist verwirren, aber es ist nicht einmal in diesem Sinne dem irdischen Leben beschieden. Nehmen doch gerade die frömmsten, gerechtesten, heiligsten Menschen, nicht etwa die Dutzendmenschen, das Wort für sich in Anspruch[95] : „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“. Also dann wird eine derartige apaqeia vorhanden sein, wenn sich im Menschen keine Sünde finden wird. Einstweilen jedoch lebt man gut genug, « wenn » ohne schweren Fehl; wer dagegen ohne Sünde zu leben vermeint, bringt damit die Sünde nicht weg, sondern beraubt sich so der Verzeihung. Ist aber apaqeia dahin zu verstehen, daß eine Leidenschaft an den Geist überhaupt nicht herankommen kann, so ist sie ja der reinste Stumpfsinn, schlimmer als alle Gebrechen miteinander. Die vollkommene Glückseligkeit schließt also, so könnte man etwa sagen, wohl den Stachel der Furcht und jegliche Traurigkeit aus, aber daß es dort keine Liebe und keine Freude geben werde, kann man nur in offenbarem Widerspruch mit der Wahrheit behaupten. Ist endlich apaqeia ein Zustand, worin keine Furcht schreckt und kein Leid quält, so muß man sich im gegenwärtigen Leben vor ihr hüten, wenn man recht, d. i. gottgemäß leben will; im jenseitigen glückseligen Leben allerdings, dem ewige Dauer verheißen ist, ist diese Art von apaqeia ohne Einschränkung zu erhoffen. Denn die Furcht, von der der Apostel Johannes sagt[96] : „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein; wer aber Furcht hat, ist nicht vollkommen in der Liebe“, diese Furcht ist von anderer Art als die des Apostels Paulus, die Korinther möchten durch die List der Schlange verführt werden[97] . Eine solche Furcht nämlich, wie Paulus da meint, ist der Liebe eigen, ja ihr allein eigen, dagegen die Furcht, von der Johannes spricht, gehört einer Art an, die mit der Liebe nichts gemein hat und von der der Apostel Paulus seinerseits sagt[98] : „Denn nicht habt ihr empfangen den Geist der Knechtschaft, um euch wiederum zu fürchten“. Die keusche Furcht jedoch, die in die Weltzeit der Weltzeiten fortdauert[99] , ist, wenn sie in der künftigen Weltzeit ebenfalls statthat [und anders kann man das Fortdauern in die Weltzeit der Weltzeiten kaum auffassen], nicht die Furcht, die vor einem Übel erschrickt, das eintreten kann, sondern eine Furcht, die festhält an einem Gute, das man nicht verlieren kann. Denn wo die Liebe zu dem erreichten Gut unwandelbar ist, da ist ohne Frage die Furcht vor dem Übel, das es zu meiden gilt, sozusagen sorglos. Unter keuscher Liebe versteht man eben die Willensrichtung, kraft deren es für uns eine Notwendigkeit sein wird, nicht sündigen zu wollen und die Sünde zu meiden aus dem sicheren Gefühl des Besitzes der Liebe, nicht aus Besorgnis, unsere Schwäche möchte uns etwa in Sünden fallen lassen. Oder aber es kann überhaupt keine Art von Furcht statthaben in jener völligen Sicherheit immerwährender glückseliger Freuden, und dann ist der Ausspruch: „Die Furcht des Herrn dauert fort in die Weltzeit der Weltzeiten“ in demselben Sinne zu verstehen, in dem es heißt[100] : „Die Geduld der Armen wird nicht verloren sein in Ewigkeit“. Denn die Geduld als solche wird auch nicht ewig fortdauern, weil sie nur da nötig ist, wo Übel zu ertragen sind; sondern ewig wird das fortdauern, wohin man gelangt durch Geduld. Und so mag es wohl deshalb von der keuschen Furcht heißen, daß sie fortdauere in die Weltzeit der Weltzeiten, weil das fortdauern wird, wohin die Furcht als solche geleitet.
Die Sache verhält sich also so: man muß ein rechtschaffenes Leben führen, um zum glückseligen Leben zu gelangen, und bei rechtschaffener Lebensführung sind alle jene Gemütserregungen auf das rechte Ziel gerichtet, bei verkehrter sind sie verkehrt. Das glückselige und zugleich ewige Leben aber wird zwar die Liebe in sich schließen und die Freude, beides nicht bloß auf das rechte Ziel gerichtet, sondern auch gesichert, nicht aber Furcht und Schmerz. Daraus wird schon einigermaßen klar, wie sich die Bürger des Gottesstaates, indem sie nach dem Geiste, nicht nach dem Fleische wandeln, d. i. gottgemäß, nicht nach dem Menschen, auf der irdischen Pilgerschaft verhalten sollen und wie sie in jener Unsterblichkeit, nach der sie trachten, beschaffen sein werden. Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen. Und finden sich Bürger darin, die solche Regungen zu zügeln und zu mäßigen scheinen, so sind sie in ihrer Gottlosigkeit so hochmütig und stolz, daß sie eben durch ihre Mäßigung reichlich an Dünkel zusetzen, was sie sich an Leiden ersparen. Und wenn manche etwa — selten ist solcher Aberwitz, aber um so unnatürlicher — das an sich besonders hochschätzen, daß sie von gar keiner Gemütsbewegung gehoben und angestachelt oder gebeugt und niedergedrückt werden, ach, so haben sie ihre ganze Menschlichkeit eingebüßt, ohne doch wahre Ruhe des Gemütes zu gewinnen. Unbeweglich ist noch nicht ohne weiters recht beschaffen, und gefühllos nicht auch schon gesund.
10. Waren wohl die ersten Menschen im Paradies, ehe sie sündigten, von Leidenschaften beunruhigt?
Jedoch mit Recht wirft man die Frage auf, ob der erste Mensch oder die ersten Menschen [denn es war eine Verbindung von zweien] in ihrem seelischen Leibe vor der Sünde diese Leidenschaften hatten, die wir im geistigen Leibe, nach Beseitigung und Ausschließung aller Sünde, nicht haben werden. Denn hatten sie sie, wo bleibt dann ihre Glückseligkeit an jener denkwürdigen Stätte der Glückseligkeit, im Paradiese? Ist doch niemand vollkommen glückselig, der von Furcht oder Schmerz beunruhigt wird. Allein was hätten jene ersten Menschen zu fürchten oder zu leiden gehabt mitten im Überfluß so herrlicher Güter, wo der Tod nicht drohte noch Siechtum des Leibes, wo nichts mangelte, was ein auf das Gute gerichteter Wille sich wünschen konnte, nichts Feindseliges sich zeigte, was Leib oder Seele des glücklich lebenden Menschen hätte verletzen können? Liebe herrschte, unerschütterte Liebe zu Gott und zwischen den Gatten, die in treuer und aufrichtiger Gemeinschaft lebten, und aus dieser Liebe floß gewaltige Freude, da der Gegenstand der Liebe zugleich unaufhörlich Gegenstand des Genusses war. Es herrschte ein wunschloses Meiden der Sünde, und solang dieses andauerte, brach von keiner Seite irgendein Übel herein, das Betrübnis hervorgerufen hätte. Oder begehrten sie etwa, die verbotene Frucht zu genießen, fürchteten aber den Tod, und hätte sonach Begierde und Furcht schon damals an jener Stätte die ersten Menschen beunruhigt? Aber nein, es gab ja da überhaupt keine Sünde, und von Sünde wäre es nicht freizusprechen, wollte man wider das Gebot Gottes begehren und sich der Übertretung aus Furcht vor der Strafe enthalten, nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit. Nein, sage ich, es gab dort vor dem Eintritt der Sünde überhaupt nicht schon der verbotenen Frucht gegenüber jene Sünde, die Gott dem Weibe gegenüber kennzeichnet mit den Worten[101] : „Wenn einer ein Weib ansieht, um ihrer zu begehren, hat er schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen“. Und so glücklich nun wie die ersten Menschen waren, frei von Gemütsunruhe und von allem Ungemach des Leibes, ebenso glücklich wäre die Gesamtgemeinschaft der Menschen, wenn das erste Paar nichts Böses begangen hätte, das sie auch auf die Nachkommen hinüberleiteten, und wenn niemand aus ihrer Nachkommenschaft aus Bosheit sich etwas zuschulden kommen ließ, was er mit der Verdammnis büßen sollte. Und dieses Glück hätte beständig fortgedauert, bis kraft jenes Segenswortes[102] : „Wachset und mehret euch“ die Zahl der vorherbestimmten Heiligen voll geworden wäre, und dann wäre ein anderes noch größeres Glück verliehen worden, das, welches den glückseligen Engeln verliehen ist, ein Zustand, bei dem nunmehr jede Möglichkeit der Sünde und des Todes ausgeschlossen und das Leben der Heiligen ohne Hindurchgang durch Mühsal, Schmerz und Tod so beschaffen sein sollte, wie es sein wird nach Hindurchgang durch all dieses bei jener Unvergänglichkeit des Leibes, die durch die Auferstehung der Toten wieder verliehen wird.
11. Vom Fall des ersten Menschen, wobei die gut erschaffene Natur verschlechtert ward, die nun nur von ihrem Schöpfer wiederhergestellt werden kann.
Indes Gott hat alles vorhergewußt, und deshalb konnte ihm auch nicht unbekannt sein, daß der Mensch sündigen würde; und so müssen wir die heilige Stadt Gottes in der Gestalt nehmen, wie Gott sie vorhergewußt und bestimmt hat, nicht in einer Gestalt, die in den Gesichtskreis des uns Bekannten gar nicht treten konnte, weil sie nicht in Gottes Plane lag. Der Mensch konnte ja durch seine Sünde nicht einen göttlichen Ratschluß umstoßen, als hätte er Gott genötigt, seinen Beschluß zu ändern; Gottes Vorherwissen erstreckte sich vielmehr im voraus auf beides: wie schlecht der Mensch sein werde, den er seinerseits gut erschaffen, und was er trotzdem noch Gutes mit ihm anstellen werde. Wenn es nämlich auch von Gott heißt, daß er Beschlossenes ändere [sogar von einer Reue Gottes liest man in übertragenem Sinne in der Heiligen Schrift[103] ], so bezieht sich diese Ausdrucksweise doch eben nicht auf das, was der Allmächtige auf Grund seines Vorherwissens tut, sondern auf das, was menschliches Ermessen erwartet hätte oder der natürliche Gang der Dinge mit sich brächte. Gott hat also, wie geschrieben steht[104] , den Menschen recht gemacht und sonach ihn mit gutem Willen ausgestattet; denn ohne solchen wäre er nicht „recht“. Der gute Wille ist also das Werk Gottes; mit ihm ward der Mensch von Gott erschaffen. Dagegen der erste böse Wille, der ja im Menschen eintrat vor allen bösen Werken, war mehr eine Art Abfall vom Werke Gottes zu eigenen Werken als selbst ein Werk, und zwar ein Abfall zu schlechten Werken deshalb, weil diese Werke dem Menschen gemäß, nicht gottgemäß sind. Der Wille seinerseits also oder der Mensch selbst, sofern er schlechten Willens ist, ist gleichsam der schlechte Baum, der solche Werke als seine schlechten Früchte hervorbringt[105] . Demnach haftet der schlechte Wille, obgleich er nicht der Natur gemäß, sondern ihr als ein Gebrechen widrig ist[106] , doch an der Natur, deren Gebrechen er bildet, da ein Gebrechen nicht für sich, sondern nur an einer Natur bestehen kann, jedoch nur an einer, die Gott aus nichts erschaffen hat, nicht an einer, die der Schöpfer aus sich selbst gezeugt hat, wie er das Wort gezeugt hat, durch das alles geworden ist; und wenn auch Gott den Menschen aus Erdenstaub gebildet hat, so ist doch diese Erde und jeglicher irdische Stoff völlig aus nichts, und eine aus nichts erschaffene Seele gab Gott dem Leibe bei der Erschaffung des Menschen. Aber so sehr überragt das Gute an siegreicher Kraft das Böse, daß, obgleich dem Bösen verstattet ist zu existieren, um zu zeigen, wie sich Gottes Vorsehung in ihrer Gerechtigkeit selbst des Bösen zum Guten zu bedienen weiß[107] , gleichwohl Gutes zwar ohne Beimischung von Bösem bestehen kann, wie da ist der höchste und wahre Gott selbst, ferner die gesamte unsichtbare und sichtbare himmlische Schöpfung oberhalb dieses dunstigen Luftkreises, nicht aber Böses ohne Gutes, weil die Naturen, woran das Böse haftet, doch eben als Naturen gut sind[108] . Demnach wird das Böse beseitigt nicht dadurch, daß eine Natur, die hinzugetreten wäre, oder ein Teil einer Natur aufgehoben würde, sondern dadurch, daß eine Natur, die verdorben und verschlechtert worden ist, geheilt und gebessert wird. Also ist die Wahl des Willens dann wahrhaft frei, wenn er nicht Gebrechen und Sünden unterworfen ist. Ein solcher freier Wille war es, den Gott dem Menschen gab; durch eigenen Fehl verloren gegangen, konnte er nur von dem zurückgegeben werden, der allein ihn hatte geben können. Deshalb spricht die Wahrheit[109] : „Wenn euch der Sohn frei macht, dann werdet ihr wahrhaft frei sein“. Es könnte gerade so gut heißen: „Wenn euch der Sohn heilt, dann werdet ihr wahrhaft gesund sein“. Denn Heiland ist der Sohn durch das gleiche Mittel wie Befreier.
Es lebte also der Mensch gottgemäß in einem leiblichen und geistigen Paradiese. Denn das Paradies war ein wirklicher Ort im Hinblick auf die leiblichen Güter, ohne daß dadurch seine geistige Bedeutung im Hinblick auf die geistigen Güter ausgeschlossen würde; und es war etwas Geistiges, das der Mensch mittels seiner inneren Sinne genoß, ohne daß dadurch ausgeschlossen würde seine Eigenschaft als wirklicher Ort, dessen Genuß dem Menschen durch die äußeren Sinne vermittelt wurde[110] . Es war das eine wie das andere. Nachdem jedoch jener hochmütige und deshalb neidische Engel, eben durch seinen Hochmut von Gott ab- und sich selbst zugekehrt und mit einer Art tyrannischer Wollust seine Freude lieber darin suchend, Sklaven zu seinen Füßen zu sehen als selbst zu Füßen zu liegen, aus seinem geistigen Paradies herabgefallen war [über seinen Fall und den seiner Genossen, die aus Gottes Engeln seine Engel geworden sind, habe ich mich im elften und zwölften Buch dieses Werkes so gut als mir möglich verbreitet], ging sein Streben dahin, sich mit verführerischer Verschlagenheit in den Geist des Menschen einzuschleichen, dem er neidisch war, da er aufrecht stand, während er selbst gefallen war. Und er erwählte sich im wirklichen Paradiesesort, wo außer den beiden Menschen, Mann und Weib, auch die übrigen irdischen Lebewesen, alle zahm und unschädlich, weilten, als sein Sprachrohr, geeignet für sein Vorhaben, die Schlange, ein schlüpfriges Tier, gewandt in krummen Schleichwegen. Diese machte er sich gefügig in seiner geistigen Bosheit durch seine Engelserscheinung und seine überragende Natur und redete, sie als sein Werkzeug mißbrauchend, Lug und Trug zu dem Weibe, indem er bei dem minderen Teil des Menschenpaares den Anfang machte, um stufenweise zum Ganzen zu gelangen, in der Meinung, der Mann werde nicht so leichtgläubig sein und könne eher durch Nachgiebigkeit gegenüber fremdem Irrtum als durch eigenen Irrtum betrogen werden. Wie Aaron dem irregehenden Volke in der Anfertigung eines Götzenbildes nur aus Rücksichtnahme nachgab[111] , ohne selbst der Verführung zu erliegen und beizustimmen, und wie Salomon wohl kaum dem Irrtum huldigte, man müsse Götzen dienen, sondern viel wahrscheinlicher durch einschmeichelnde Weiberbitten zu solchen Gotteslästerungen sich drängen ließ[112] , so hat vermutlich auch der erste Mann seinem Weibe, der einzige der einzigen, der Mensch einem Menschen, der Gatte der Gattin, in der Übertretung des Gebotes Gottes aus enger geselliger Verbindung nachgegeben, ohne ihre Worte für wahr zu halten und durch sie sich verführen zu lassen. Denn sicher mit gutem Grund sagt der Apostel[113] : „Und Adam ward nicht verführt, das Weib aber ward verführt“; er will damit andeuten, daß Eva die Worte, die die Schlange an sie richtete, als Wahrheit hinnahm, während Adam mit seiner einzigen Gefährtin eben verbunden bleiben wollte selbst in der Gemeinschaft der Sünde, freilich deshalb nicht minder schuldbeladen, wenn er wissentlich und mit Überlegung gesündigt hat. Darum heißt es beim Apostel nicht: „Er hat nicht gesündigt“, sondern: „Er ward nicht verführt“; denn selbstverständlich meint er ihn, wo er sagt[114] : „Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen“, und kurz hernach noch deutlicher: „Durch eine ähnliche Übertretung wie die Adams“. Unter Verführten dagegen versteht er solche, die ihr Tun nicht für Sünde halten; Adam jedoch war ein Wissender. Wie wäre sonst die Versicherung wahr: „Adam ward nicht verführt“? Indes, noch unerfahren der göttlichen Strenge, konnte er sich darin täuschen, daß er sein Vergehen für läßlich hielt. Sonach ward er allerdings nicht verführt in dem Sinne, wie das Weib verführt ward, aber er täuschte sich immerhin darin, wie seine Entschuldigung beurteilt werden mußte[115] : „Das Weib, das Du mir beigesellt, sie gab mir, und ich aß“. Also, um es kurz zu sagen: Wenn auch nicht beide durch gläubige Zustimmung sich betrügen ließen, so ließen sich doch beide durch Sündigen einfangen und in die Fallstricke des Teufels verwickeln.
12. Die Bedeutung der von den ersten Menschen begangenen Sünde.
Nun mag es freilich etwa befremden, daß die menschliche Natur durch andere Sünden nicht in der Weise verändert wird, wie sie durch die Übertretung der beiden ersten Menschen verändert worden ist; denn deren Folge war eine Verderbnis, so groß, wie wir sie täglich sehen und empfinden, und im Zusammenhang damit der Tod und all die vielen und schweren Stürme der Leidenschaften, die den Menschen bald hierhin, bald dorthin treiben, ein Zustand, ganz anders wie im Paradies vor der Sünde, obwohl auch da die menschliche Natur in einem seelischen Leibe hauste. Es mag dies, wie gesagt, befremden, allein man darf doch jenes Vergehen nicht für leicht und gering erachten deshalb, weil es begangen ward an einer Speise, an einer an sich guten und unschädlichen, nur eben verbotenen; denn etwas Böses hätte doch Gott an dieser Stätte so hoher Glückseligkeit nicht erschaffen und gepflanzt. Um den Gehorsam vielmehr handelte es sich, der in dem Gebote nachdrücklich ans Herz gelegt ward, und diese Tugend ist bei dem vernunftbegabten Geschöpf in gewissem Sinne die Mutter und Hüterin aller Tugenden; denn das vernunftbegabte Geschöpf ist so erschaffen, daß es nützlich ist für es, unterwürfig zu sein, verderblich dagegen, seinen eigenen Willen zu tun unter Hintansetzung des Willens dessen, von dem es erschaffen ist. Dieses Gebot nun, von einer einzigen Speise nicht zu essen, so leicht zu beobachten, wo eine solche Fülle anderer Speisen zur Verfügung stand, so kurz zu merken, wo zudem gar die Begierde dem Willen noch nicht entgegen arbeitete, was erst nachmals im Gefolge der Strafe für die Übertretung der Fall war, ein solches Gebot zu verletzen, war eine um so größere Ungerechtigkeit, je leichter es hätte beobachtet und gehalten werden können.
13. Bei der Übertretung Adams ging der bösen Tat ein böser Wille voraus.
Im geheimen aber begann die Bosheit, um sodann in offenem Ungehorsam auszubrechen. Nur dadurch, daß ein böser Wille vorherging, kam es zur bösen Tat. Der Anfang des bösen Willens aber liegt im Hochmut und nirgends anderswo. „Der Hochmut ist der Anfang aller Sünde“[116] . Und Hochmut wiederum ist nichts anderes als das Streben nach verkehrter Hoheit. Denn verkehrte Hoheit ist es, den Urgrund zu verlassen, mit dem der Geist in Zusammenhang bleiben soll, und gewissermaßen sich selbst zum Urgrund zu werden und zu dienen. Das geschieht, wenn der Geist ein übergroßes Wohlgefallen an sich selbst findet. Und ein solches Wohlgefallen ist dann vorhanden, wenn der Geist sich abkehrt von jenem unwandelbaren Gute, das ihm mehr gefallen sollte als er selbst. Freiwillig aber ist diese Abkehr; denn würde der Wille standhaft beharren in der Liebe des unwandelbaren höheren Gutes, von dem er erleuchtet wurde zu sehen und entzündet zu lieben, so würde er sich davon nicht abkehren zum Wohlgefallen an sich selber und infolgedessen nicht trübe und kalt werden; und also hätte Eva die Worte der Schlange nicht für wahr gehalten, noch Adam den Willen seiner Gemahlin über Gottes Gebot gestellt oder gemeint, er übertrete nur in läßlicher Weise ein Gebot, wenn er die Genossenschaft mit seiner Lebensgefährtin auch auf die Sünde erstrecke. Also erst nachdem sie böse geworden waren, wurde die böse Tat vollbracht, die Übertretung, die im Genuß der verbotenen Speise bestand. Solch schlechte Frucht konnte nur ein schlechter Baum hervorbringen[117] . Daß aber der Baum schlecht war, trug sich wider die Natur zu; denn schlecht wurde er nur durch Verderbnis des Willens, die gegen die Natur ist. Indes nur eine aus nichts erschaffene Natur kann durch Verderbnis verschlechtert werden. Daß die Natur ist, hat sie demnach daher, daß sie von Gott erschaffen ist; daß sie aber herabsinkt von dem, was sie ist, hat sie daher, daß sie aus nichts erschaffen ist. Dabei ist jedoch der Mensch nicht so herabgesunken, daß er eitel nichts wäre, sondern so, daß er, sich selber zugekehrt, etwas Geringeres war, als da er dem anhing, der im höchsten Sinne ist. Gott verlassen und sich auf sich selbst beschränken oder sich selbst gefallen, heißt also nicht soviel wie nichts sein, wohl aber dem nichts sich nähern. Daher werden die Hochmütigen in der Heiligen Schrift auch wohl die Selbstgefälligen genannt[118] . Denn gut allerdings ist es, sein Herz hoch zu tragen, aber nicht in der Richtung auf sich selbst, wie es der Hochmut macht, sondern in der Richtung auf den Herrn, was der Gehorsam tut, der sich nur bei den Demütigen findet. Es gibt also merkwürdigerweise eine Art Erniedrigung, die das Herz emporhebt, und eine Art Erhebung, die das Herz erniedrigt. Das klingt nun freilich wie ein Widerspruch, daß die Erhebung nach unten, die Erniedrigung nach oben führen soll. Aber fromme Erniedrigung macht einem Höheren ergeben, und nichts ist erhabener als Gott; sonach erhebt eine Erniedrigung, die Gott gegenüber Ergebenheit bewirkt. Die Erhebung dagegen, die sündhafte meine ich, verschmäht es eben als solche, unterworfen zu sein, und sinkt herab von dem, der nichts Höheres über sich hat, und wird infolgedessen weiter unten sein, und es tritt ein, was geschrieben steht[119] : „Du hast sie herabgestürzt, da sie sich erhoben“. Es heißt nicht: „Da sie sich erhoben hatten“, als hätten sie sich zuerst erhoben und wären dann herabgestürzt worden, sondern indem sie sich erhoben, wurden sie herabgestürzt. Das Erheben selbst ist eben schon ein Herabsinken. Seinen guten Grund also hat es, wenn hienieden im Gottesstaat und den Angehörigen des in der Welt pilgernden Gottesstaates in erster Linie die Demut ans Herz gelegt und an dem König dieses Staates, an Christus, sie in erster Linie gefeiert wird, während das dieser Tugend entgegengesetzte Laster der Selbsterhebung immer wieder als der Hauptfehl seines Widersachers, des Teufels, in der Heiligen Schrift hervorgehoben wird. Hierin liegt in der Tat der große Unterschied, der die beiden Staaten, die wir meinen, voneinander scheidet, die Genossenschaft der frommen Menschen und die der gottlosen, jede mit den zugehörigen Engeln, in denen zuerst in die Erscheinung trat hier die Liebe zu Gott, dort die Liebe zu sich selbst.
Auf dem Wege offensichtlicher und aufgelegter Sünde, auf dem Wege einer Tathandlung wider Gottes Verbot, hätte also der Teufel den Menschen nicht eingefangen, wenn nicht der Mensch bereits an sich selbst Gefallen zu finden angefangen hätte. Daher kam es, daß der Mensch nun liebäugelte mit der Aussicht[120] : „Ihr werdet sein wie die Götter“. Das hätten sie eher sein können, indem sie dem höchsten und wahren Urgrund durch Gehorsam anhingen, jedenfalls nicht, indem sie sich selbst Urgrund zu sein suchten aus Hochmut. Denn geschaffene Götter sind nicht in eigener Wahrheit Götter, sondern durch Teilnahme am wahren Gott. Ein Mehr des Strebens bringt Einbuße mit sich bei einem, der in dem Wahn, sich selbst zu genügen, abläßt von dem, der ihm in Wahrheit genügt. Zuerst also war im Verborgenen vorhanden die böse Gesinnung, wodurch sich der Mensch, indem er an sich selber Gefallen findet, als wäre er seinerseits Licht, von dem Lichte abkehrt, durch das er, wenn er an ihm sein Gefallen hat, selbst auch Licht wird; und dann erst folgte die böse Tat, begangen in voller Sichtbarkeit nach außen hin. Denn wahr ist, was geschrieben steht[121] : „Ehe es fällt, erhebt sich das Herz, und ehe es zu Ruhm aufsteigt, erniedrigt es sich“. In der Tat, der Fall, der sich im geheimen vollzieht, geht voran einem Falle, der sich nach außen hin sichtbar vollzieht, indem man den Fall im geheimen nicht für einen Fall erachtet. Wie sollte man auch eine Erhebung für einen Fall erachten? Und doch liegt schon in der Erhebung der Abfall, durch den man von dem Erhabenen abgelassen hat. Dagegen erscheint es auch dem blöden Auge als ein Fall, wenn eine greifbare und unzweifelhafte Übertretung eines Gebotes stattfindet. Deshalb hat Gott zum Gegenstand seines Verbotes eine Begehungstat gemacht; eine solche läßt sich durch keinerlei Schein des Rechttuns entschuldigen. Ja ich wage zu behaupten, daß es für Hochmütige gut ist, in eine offensichtliche und aufgelegte Sünde zu fallen, damit sie so über sich selbst Mißfallen empfinden, nachdem sie doch schon durch ihr Selbstgenügen gefallen sind. Heilsamer jedenfalls war für Petrus das Mißfallen über sich selbst, da er weinte, als das Wohlgefallen an sich, da er sich übernahm[122] . Dahin läßt sich auch ein heiliger Psalm vernehmen[123] : „Erfülle ihr Angesicht mit Schmach, und sie werden Deinen Namen suchen, Herr“, das will sagen: damit die, die sich selber gefielen, ihren eigenen Namen suchend, nunmehr an Dir Gefallen finden und Deinen Namen suchen mögen.
14. Der Hochmut, der in der Übertretung lag und schlimmer war als die Übertretung selbst.
Schlimmer noch und verwerflicher ist der Hochmut, womit man selbst bei offenkundigen Sünden zu Entschuldigungen seine Zuflucht nimmt, wie es die ersten Menschen getan haben, das Weib mit den Worten[124] : „Die Schlange hat mich verführt, und ich aß“, und der Mann: „Das Weib, das Du mir beigesellt, sie gab mir von dem Baume, und ich aß“. Kein Wort der Bitte um Verzeihung, kein Wort des Flehens um ein Heilmittel. Stellen sie auch ihre Tat nicht in Abrede wie Kain, so sucht doch der Hochmut immer noch einen Sündenbock für seine Verkehrtheiten: der Hochmut des Weibes die Schlange, der Hochmut des Mannes das Weib. Aber es kommt mehr eine Anklage heraus als eine wirkliche Entschuldigung, wo die Übertretung des göttlichen Gebotes offen zutage liegt. Sie sind doch eben selbst die Täter, wenn auch das Weib auf Zureden der Schlange, der Mann auf Drängen des Weibes die Tat beging, gleich als ob man irgendetwas anderem mehr als Gott glauben oder nachgeben dürfte.
15. Gerecht war die Vergeltung, die den ersten Menschen für ihren Ungehorsam zuteil ward.
Verachtet also ward Gott in seinem Gebote, er, der den Menschen erschaffen, nach seinem Ebenbild ihn gemacht, ihn höher gestellt als die übrigen Lebewesen, im Paradiese ihm die Wohnung angewiesen, ihm die Fülle aller Dinge und des Wohlseins verliehen und ihn nicht etwa mit zahlreichen oder ungeheuerlichen oder schwierigen Geboten beladen, sondern ihm lediglich mit einem ganz einfachen und leichten Gebot unter die Arme gegriffen hatte zu heilsamem Gehorsam, das Geschöpf, dem freiwillige Unterwürfigkeit zum besten gereichen sollte, dadurch erinnernd, daß er der Herr sei. Und so folgte die gerechte Verurteilung auf dem Fuße, und zwar eine Verurteilung dazu, daß der Mensch, der bei Beobachtung des Gebotes auch dem Fleische nach hätte geistig werden sollen, nun selbst dem Geiste nach fleischlich wurde und er, der in seinem Eigendünkel an sich selber Gefallen gefunden hatte, durch Gottes Gerechtigkeit nun auch sich selber überlassen wurde; aber nicht so, daß er in jeder Hinsicht sein eigener Herr sein, sich in voller Gewalt haben sollte, vielmehr so, daß er, zwiespältig in sich selbst, dem verknechtet, mit dem er durch sein Sündigen gleichen Sinnes geworden ist, statt der begehrten Freiheit eine harte und elende Knechtschaft zu leisten hatte, dem Geiste nach freiwillig tot und nun dem Leibe nach wider Willen sterblich, als Verächter des ewigen Lebens nun auch zu ewigem Tode verurteilt, wenn nicht die Gnade erlösend wirkte. Wen diese Strafe zu schwer oder ungerecht dünkt, der weiß eben die Größe der Bosheit nicht zu ermessen, die im Sündigen lag, wo das Meiden der Sünde so leicht gemacht war. Wie Abrahams Gehorsam mit vollem Recht als groß gerühmt wird, weil ihm ein so schwerer Auftrag zuteil ward, nämlich seinen Sohn zu töten[125] , so war im Paradies der Ungehorsam um so größer, als das, was befohlen war, keinerlei Schwierigkeit darbot. Und wie der Gehorsam des zweiten Menschen um so preiswürdiger ist, als er gehorsam ward bis zum Tode[126] , so ist der Ungehorsam des ersten Menschen um so verwerflicher, als er ungehorsam ward bis zum Tode. Denn wo schwere Strafe auf den Ungehorsam gesetzt und vom Schöpfer etwas Leichtes anbefohlen ist, da läßt sich die Größe der Bosheit gar nicht schildern, die darin liegt, in einer leichten Sache dem Gebot einer so erhabenen Macht angesichts einer so furchtbaren Strafe nicht zu gehorchen.
Übrigens, um es kurz zu sagen, ist in der Strafe für jene Sünde lediglich Ungehorsam mit Ungehorsam vergolten worden. Das ganze Elend des Menschen besteht ja nur in dem Ungehorsam seiner selbst gegen sich selbst: er wollte nicht, was er konnte, und nun will er, was er nicht kann. Freilich konnte er im Paradies vor der Sünde nicht gar alles, aber was er nicht konnte, wollte er auch nicht, und so konnte er in der Tat alles, was er wollte; jetzt aber „ist der Mensch“, wie wir an der Nachkommenschaft Adams sehen und die Heilige Schrift[127] es bezeugt, „der Nichtigkeit gleich geworden“. Unzähliges will er, was er nicht kann, weil er sich selbst nicht gehorcht, d. h. weil seinem Willen sein Geist und das unter diesem stehende Fleisch nicht gehorcht. Wider Willen zumeist regt sich sein Geist auf, leidet und altert und stirbt sein Fleisch und erdulden wir noch eine Reihe von Dingen, die alle wir nicht zu erdulden hätten wider Willen, wenn unserm Willen unsere eigene Natur in jeder Weise und in allen Teilen gehorchte. Man wendet freilich ein, nur der Körper sei Träger des Leidens und dadurch verhindert, seinen Dienst zu versehen[128] . Aber es ist gleichgültig, woher der Aufruhr kommt; die Sache steht eben doch so, daß durch die Gerechtigkeit des allwaltenden Gottes, dem wir nicht in Unterwürfigkeit dienen wollten, unser Fleisch, das unterwürfig war, uns durch Versagung des Dienstes lästig ist, obgleich wir unsererseits durch Versagung unseres Dienstes Gott nicht lästig werden konnten, sondern nur uns. Denn wir bedürfen allerdings des Dienstes unseres Leibes, aber Gott bedarf nicht unseres Dienstes, und deshalb ist, was wir erdulden, eine Strafe für uns, nicht aber, was wir getan, eine Strafe für Gott. Und übrigens sind die sogenannten leiblichen Schmerzen eigentlich Schmerzen der Seele im Leibe und infolge der Leiblichkeit. Der Leib an sich ohne Seele fühlt weder Schmerz noch Begier[129] . Vielmehr ist Träger des Begehrens oder des Leidens, das dem Leibe zugeschrieben wird, entweder der Mensch selbst, wie wir erörtert haben, oder irgendetwas in der Seele, worauf der Zustand des Fleisches einwirkt, der entweder ein widriger ist und dann Schmerz erzeugt, oder ein angenehmer und dann Lust erweckt. Jedoch leiblicher Schmerz ist lediglich Beschwernis der Seele infolge des Fleisches und Widerwille der Seele gegen dessen Leiden, wie Seelenschmerz, den man Traurigkeit nennt, Widerwille ist gegen Dinge, die uns gegen unsern Willen zustoßen. Indes der Traurigkeit geht in der Regel Furcht vorher, die wiederum ihren Sitz in der Seele hat, nicht im Fleische. Dagegen leiblichem Schmerz geht nicht etwas wie leibliche Furcht vorher, die man im Fleische fühlte vor dem Schmerz. Wohl aber geht der Lust eine Art Verlangen vorher, das man im Fleische fühlt sozusagen als dessen Begehren, wie Hunger und Durst und das, was man in geschlechtlichen Dingen Lust [libido] nennt, obgleich dies das Wort für Begierde ganz allgemein ist. Wie denn die Alten[130] auch den Begriff Zorn bestimmt haben als Lust sich zu rächen, obwohl zuweilen der Mensch auch auf leblose Dinge, bei denen doch keine Empfindung für Rache vorhanden ist, einen Zorn hat und etwa im Zorn einen schlecht schreibenden Griffel zerschlägt oder ein Schreibrohr zerbricht. Immerhin ist auch das etwas wie Rachelust, wenn auch eine ziemlich sinnlose, und nach einer Art, wie soll ich sagen, Aftervergeltung sollen dabei die Übeltäter Übles erfahren. Rachelust also ist das, was man Zorn heißt; Lust Geld zu haben, was man Habsucht, Lust um jeden Preis Recht zu behalten, was man Starrköpfigkeit, Lust sich zu rühmen, was man Prahlerei nennt. Und so gibt es viele und mannigfache Lüste, und manche davon haben auch ihren eigenen Namen, andere wieder nicht. Zum Beispiel würde man sich schwer tun, die Herrschlust mit einem Sonderausdruck zu benennen, die aber gleichwohl über tyrannische Gemüter eine verhängnisvolle Macht hat, wofür nichts Geringeres als die Bürgerkriege zeugen.
16. Von dem Übel der Lust, eines Gebrechens, dessen Name zwar Sammelname ist für viele Laster, im besondern aber von den Regungen geschlechtlicher Art in Gebrauch ist.
Es gibt also Lüste nach vielerlei Dingen; wenn jedoch von Lust schlechthin die Rede ist ohne Beifügung eines Gegenstandes, worauf sie sich richtet, so denkt man gewöhnlich nur an die Lust, durch welche die Schamteile aufgeregt werden. Diese Lust aber nimmt nicht nur den ganzen Leib, und zwar nicht äußerlich nur, sondern auch innerlich in Anspruch und regt den ganzen Menschen zumal auf, indem sich mit dem Begehren des Fleisches zugleich eine Gemütsbewegung verbindet und vermischt und so ein Genuß erfolgt, der unter den körperlichen Genüssen obenan steht; in einer Weise, daß in dem Augenblick, wo er seinen Höhepunkt erreicht, fast alles scharfe und umsichtige Denken niedergehalten wird. Aber jeder Freund der Weisheit und heiliger Freuden, der im Ehestande lebt, jedoch nach der Mahnung des Apostels[131] „sein Gefäß in Heiligkeit und Ehren zu besitzen weiß, nicht im Fieber der Begier, wie die Heiden auch, die Gott nicht kennen“, würde lieber, wenn es in seiner Macht stünde, ohne solche Lust Kinder erzeugen, so daß auch bei diesem Geschäft der Nachkommenschaftsgründung die hierfür erschaffenen Glieder in derselben Weise seinem Geiste dienstbar wären wie die übrigen je ihren besonderen Aufgaben dienenden Glieder, also nicht auf Anreizung durch hitzige Lust, sondern in Bewegung gesetzt durch den Wink des Willens. Aber selbst auch wer Freude hat an solchem Genuß, fühlt sich dazu nicht gerade immer dann angeregt, wann er will, gleichviel ob es sich um eheliche Beiwohnung oder um unlautere Schandtaten handelt; vielmehr stellt sich diese Regung mitunter ungestüm ein, ohne daß ihrer jemand begehrte, zuweilen läßt sie den danach Schmachtenden im Stich und bleibt die Begierde im Körper kalt, während sie im Gemüte heiß entbrannt ist; und so versagt merkwürdigerweise nicht nur dem Zeugungswillen, sondern selbst der geilen Lust die Lust den Dienst, und während sie sich dem zügelnden Geist in ihrer Ganzheit meist widersetzt, teilt sie sich in der Richtung auf sich zuweilen selbst und bringt zwar das Gemüt in Erregung, wird aber sich selber untreu, wenn es sich um die körperliche Erregung handelt.
17. Die Nacktheit der ersten Menschen und die nach der Sünde eintretende Erkenntnis, daß man sich ihrer zu schämen habe.
Mit Recht schämt man sich dieser Lust in hohem Grade, mit Recht werden die Glieder, die von ihr nach eigenem Rechte sozusagen, nicht in allweg nach unserer Willkür in Erregung gesetzt werden oder nicht, Schamglieder genannt, was sie vor der Sünde der ersten Menschen nicht waren. Denn diese „waren“, wie geschrieben steht[132] , „nackt und schämten sich nicht“, nicht als wäre ihre Nacktheit eine unbewußte gewesen, aber schändlich war die Nacktheit noch nicht, weil die Lust noch nicht des Willens ungefragt jene Glieder erregte, das Fleisch noch nicht von dem Ungehorsam des Menschen Zeugnis gab in seiner Art durch Ungehorsam seinerseits. Sie waren ja nicht blind erschaffen, wie man in Volkskreisen annimmt; denn Adam sah doch die Tiere, denen er die Namen beilegte[133] , und vom Weibe heißt es ausdrücklich[134] : „Da sah das Weib, daß der Baum gut sei zur Speise und anzuschauen eine Augenweide“. Ihre Augen waren also offen, aber nach der Richtung waren sie nicht geöffnet, will sagen, darauf waren sie nicht gerichtet, daß sie es als Folge des Gnadenkleides erkannt hätten, wenn ihre Glieder von einer Widersetzlichkeit gegen den Willen nichts wußten. Als diese Gnade gewichen war, entstand, um den Ungehorsam mit gleicher Strafe zu züchtigen, in der körperlichen Regung etwas Neues, Unschamhaftes, infolgedessen die Nacktheit unanständig wurde, und dieses Neue erregte ihre Aufmerksamkeit und machte sie beschämt. In diesem Sinne heißt es von ihnen nach der Verletzung des Gebotes Gottes durch offene Übertretung[135] : „Da öffneten sich die Augen beider und sie merkten, daß sie nackt seien, und sie flochten Feigenblätter ineinander und machten sich Schürzen“. „Die Augen beider öffneten sich“, heißt es, aber nicht zum Sehen, sie sahen ja vorher auch, sondern zur Unterscheidung zwischen dem Gute, das sie verloren hatten, und dem Bösen, dem sie verfallen waren. Deshalb hat auch der Baum selbst, weil er diese Unterscheidung herbeiführen sollte, wenn er zum Zweck des Genießens davon wider das Verbot berührt würde, eben daher seine Benennung erhalten; er hieß der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Ist man einmal die Lästigkeit des Krankseins inne geworden, so springt andrerseits die Annehmlichkeit des Gesundseins um so mehr in die Augen. „Sie merkten also, daß sie nackt seien“, entblößt nämlich der Gnade, die bewirkte, daß ihre Nacktheit sie nicht beschämte, indem kein Gesetz der Sünde in Widerspruch trat zu ihrem Geiste[136] . Sie merkten also etwas, was ihnen glücklicher verborgen geblieben wäre, wenn sie, gläubig und gehorsam ihrem Gott, nicht etwas begangen hätten, was sie das Unheil inne werden ließ, das Unglaube und Ungehorsam anstiften. Beschämt nun durch den Ungehorsam ihres Fleisches als durch die ihren eigenen Ungehorsam bezeugende Strafe, „flochten sie Feigenblätter zusammen und machten sich «campestria», d. i. Schamgürtel. Manche Übersetzer gebrauchen in der Tat hier das Wort Gürtel. Nun ist freilich „campestria“ ein im Lateinischen übliches Wort, aber es leitet sich davon her, daß die jungen Männer, die auf dem campus nackt ihre Übungen machten, ihre Scham bedeckten; im Volksmund heißen daher also Umgürtete campestrati. Die Sittsamkeit also bedeckte züchtig das, was durch die Lust zum Ungehorsam aufgereizt wurde wider den ob seines Ungehorsams gestraften Willen. Daher ist es allen Völkern — alle sind sie ja aus jenem Stamm entsprossen — so sehr angeboren, die Scham zu verhüllen, daß man bei manchen Barbaren nicht einmal im Bade diese Körperteile entblößt, sondern sich mit deren Umhüllung badet. Und die Philosophen, die in den dichten Wildnissen Indiens nackt philosophieren und deshalb die Gymnosophisten heißen[137] , bedienen sich ebenfalls einer Bedeckung für ihre Scham, obwohl sie sonst ganz nackt sind.
18. Der Beischlaf ist ganz allgemein Gegenstand schamhaften Verhüllens, selbst auch der eheliche.
Was aber die Ausübung dieser Art von Lust betrifft, so meidet dabei die Lust die Öffentlichkeit, und zwar nicht etwa bloß bei strafbaren Schändlichkeiten aller Art, wo man die Verborgenheit aufsucht, um sich der gesetzlichen Strafe zu entziehen, sondern auch beim Umgang mit Dirnen, einer Schmach, die der irdische Staat zu einer erlaubten gemacht hat. Auch hier also, wo es sich um etwas handelt, was kein Strafgesetz dieses Staates ahndet, entzieht sich die verstattete und straffreie Lust doch dem Auge der Öffentlichkeit, und aus natürlichem Schamgefühl haben die schlechten Häuser Heimlichkeit vorgesehen, und wenn es auch der Unzucht gelang, die Fesseln des Verbotes zu sprengen, so ließ doch eine gewisse Züchtigkeit es nicht zu, die Verborgenheit des Schlupfwinkels aufzugeben für solche Schmach. Die Schändlichen selbst vielmehr nennen diese Schmach eine Schändlichkeit, und so sehr sie sie lieben, wagen sie doch nicht, öffentlich damit ans Tageslicht zu treten. Aber selbst das eheliche Beilager, das nach den Vorschriften der Ehegesetztafeln zur Gewinnung von Nachkommenschaft vollzogen wird, sucht nicht auch dieses, obwohl es erlaubt und ehrbar ist, die Heimlichkeit des zeugenlosen Schlafgemaches auf? Werden nicht alle Diener und sogar die Brautführer und wem sonst noch irgendein Geschäft den Zutritt gewährte, aus dem Gemache geschafft, bevor der Gatte die Gattin zu liebkosen beginnt? Und wenn alle guten Taten, wie ebenfalls ein gewisser „größter Meister der römischen Sprache“[138] sagt[139] , ans Licht gestellt, d. i. zur Kenntnis gebracht sein wollen, so gilt solches von dieser guten Tat doch nur mit Einschränkung: sie will zur Kenntnis gebracht sein, aber sie schämt sich, sich sehen zu lassen. Jeder hat Kenntnis davon, was zwischen Gatten vorgeht, um Kinder zu gewinnen; wird ja, damit dies vor sich gehen könne, mit so großer Feierlichkeit die Gattin heimgeführt; und doch läßt man, wenn das vor sich geht, was Kindern das Leben geben soll, nicht einmal etwa schon vorhandene Kinder der Ehe als Zeugen zu. So sehr eben diese gute Tat, um sich zur Kenntnis zu bringen, dem geistigen Auge sich aufdrängt, so ängstlich meidet sie das leibliche Auge. Warum? Weil das, was von Natur aus völlig in Ordnung ist, doch bei seinem Vollzug aus Strafe zugleich die Scham zur Begleiterin hat.
19. In dem gesunden Naturzustand vor der Sünde gab es die Seelenteile des Zornmuts und der Begehrlichkeit nicht, die sich im Menschen so sündhaft regen, daß man sie mit dem Zügel der Weisheit zurückhalten muß.
Daher haben auch unter den Philosophen die, die der Wahrheit am nächsten kommen[140] , den Zornmut und die Begehrlichkeit offen als fehlerhafte Teile der Seele erklärt, mit der Begründung, daß sie ungestüm und unordentlich auch nach Dingen sich regen, die die Weisheit zu vollbringen verbietet, weshalb sie des Verstandes und der Vernunft als Führers bedürften. Dieser dritte Teil der Seele throne sozusagen in einer Burg und leite von da aus die zwei anderen, so daß sich im Menschen durch die Herrschaft des einen und das dienende Verhalten der anderen die Gerechtigkeit in jedem Teil des Geistes aufrecht erhalten lasse. Diese Teile nun, die nach dem Geständnis der erwähnten Philosophen auch im weisen und sich selbst beherrschenden Menschen fehlerhaft sind, so daß der Geist sie durch Zucht und Niederhaltung zügeln und von Dingen, nach denen sie sich unrecht regen, abbringen muß und ihnen nur da freien Lauf gewähren darf, wo es sich um Dinge handelt, die das Gesetz der Weisheit verstattet[141] , diese Teile also waren im Paradiese vor der Sünde nicht fehlerhaft. Sie regten sich nicht nach irgend etwas im Widerspruch mit dem rechten Willen, so daß sie es nötig gemacht hätten, sie mit dem Zügel der Vernunft zurückzuhalten. Denn daß sie jetzt solche Strebungen haben und von denen, die ein Leben der Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Frömmigkeit führen, bald leichter, bald schwerer, immer aber doch eben nur durch Bändigung und Kampf in ihren Grenzen gehalten werden, ist selbstverständlich kein gesunder, von Natur aus gegebener Zustand, sondern ein von Schuld herrührender Schwächezustand. Wenn aber scheue Scham die Ausflüsse des Zornes und anderer Leidenschaften in Wort und Tat aller Art nicht in der Weise verbirgt, wie die Betätigung der Lust durch die Zeugungsglieder, so hat dies nur darin seinen Grund, daß bei den übrigen Leidenschaften nicht diese selbst die Glieder des Leibes in Bewegung setzen, sondern der Wille, falls er ihnen zustimmt, der nun dann im Gebrauch der Leibesglieder durchaus Herr ist. Ein zorniges Wort oder auch ein Schlag im Zorn kommt nur dadurch zustande, daß sich die Zunge oder die Hand auf Geheiß sozusagen des Willens in Bewegung setzt; und diese Glieder werden, auch wenn kein Zorn vorhanden ist, in Bewegung gesetzt eben durch den Willen. Dagegen die Zeugungsglieder des Leibes hat die Lust sozusagen in Eigenrecht genommen in einem Maße, daß sie nicht in Bewegung gesetzt werden können, wenn die Lust sich versagt und wenn sie nicht von selbst oder auf Anreiz hin sich erhebt. Das ist es, was Scham erweckt, was sich errötend den Augen von Zuschauern entzieht; und eher noch läßt sich der Mensch eine Schar von Augenzeugen gefallen, wenn er ungerechterweise einem andern zürnt, als auch nur einen einzigen Zuschauer, wenn er sich, wie es ganz in der Ordnung ist, mit seiner Gattin vereint.
20. Die Ausgeschämtheit der Kyniker ist eine Verirrung.
Das haben jene hündischen[142] Philosophen, die Kyniker, nicht erkannt, die gegen das den Menschen angeborene Schamgefühl eine wahrhaft hündische Ansicht geltend machten, eine schmutzige, meine ich, und ausgeschämte: weil das, was an der Gattin geschieht, in der Ordnung sei, so solle man es ohne Scheu öffentlich tun und auf Gassen und Straßen allüberall den Beischlaf ausüben. Indes das natürliche Schamgefühl hat obgesiegt über diese irrige Anschauung. Wenn auch angeblich Diogenes das einmal aus Eitelkeit getan hat in der Meinung, seine Schule werde so berühmter werden, wenn ihre Ausgeschämtheit besonders lebhaft im Andenken der Menschen hafte, so sind doch später die Kyniker davon abgestanden, und es überwog die Scham, die Menschen vor Menschen erröten macht, über die Verirrung, die Menschen mit Hunden auf eine Stufe zu stellen sich erdreistete. Ich möchte daher auch eher glauben, Diogenes und andere, von denen man solches erzählt, werden nur die entsprechenden Bewegungen den Leuten zu sehen gegeben haben, die ja nicht wußten, was unter der Decke vorging, als sie hätten unter den Augen von Menschen die geschlechtliche Lust auszuüben vermocht. Die Lust selbst nahm Anstand, sich zu erheben, wo die Philosophen keinen Anstand nahmen, den Schein zu erwecken, als wollten sie sich zum Beischlaf niederlegen. Auch jetzt gibt es ja noch kynische Philosophen; man kennt sie ganz wohl an ihrem griechischen Mantel und an dem Knotenstock, den sie tragen; aber keiner von ihnen wagt, solches zu tun, und würde es einer wagen, so würde er zwar kaum gesteinigt, aber jedenfalls gehörig verspien werden. Die menschliche Natur hegt also ohne Zweifel Scham und Scheu gegenüber dieser Lust und hegt sie mit Recht. Denn in ihrer unbotmäßigen Auflehnung, die die Zeugungsglieder des Leibes allein ihren eigenen Regungen dienstbar gemacht und der Gewalt des Willens entzogen hat, tritt deutlich das Merkmal der Vergeltung für die erste Unbotmäßigkeit des Menschen zutage; in dem Teil ganz besonders mußte es hervortreten, der zur Fortpflanzung der menschlichen Natur bestimmt ist, die durch jene erste und große Sünde zum Schlechteren verändert worden ist. Und der Verflechtung in diese Sünde wird man nur entrissen, wenn durch Gottes Gnade in den Einzelnen das gesühnt wird, was zum allgemeinen Verderben, da alle in dem Einen waren, begangen und durch Gottes Gerechtigkeit bestraft ward.
21. Der Segen der Mehrung durch Fruchtbarkeit, den Menschen vor der Sünde erteilt, wurde durch die Übertretung nicht aufgehoben; es trat jedoch neu hinzu das Fieber der Lust.
Keinenfalls also dürfen wir annehmen, die Gatten im Paradiese hätten auf dem Wege solcher Lust, die sie mit Scham übergoß und zur Bedeckung der Zeugungsglieder veranlaßte, die Verheißung wahr gemacht, die Gott in seinem Segen aussprach[143] : „Wachset und mehret euch und erfüllet die Erde“. Ist doch erst nach der Sünde diese Lust erstanden und erst nach der Sünde hat die Natur, die ja nicht schamlos ist, nunmehr verlustig gegangen der Herrschgewalt über den Leib in all seinen Teilen, sie empfunden, bemerkt, sich darüber beschämt gefühlt und sie zu verbergen gesucht. Jener Ehesegen dagegen, daß die Gatten durch ihre Verbindung wachsen und sich mehren und die Erde erfüllen sollten., ist zwar auch nach der Sünde ihnen verblieben, aber er ist vor der Sünde gegeben worden, damit man erkenne, daß die Erzeugung von Kindern mit der Strafe für die Sünde nichts zu schaffen habe, sondern zur Herrlichkeit der Ehe gehöre. Aber die Menschen von heute, die natürlich von dem ehemaligen Paradiesesglück keine Ahnung haben, können sich die Erzeugung von Kindern nur auf dem ihnen aus Erfahrung bekannten Wege, auf dem Wege der geschlechtlichen Lust vorstellen, deren man sich selbst im ehrbarsten Ehebeilager schämt. Und die Heilige Schrift, worin es doch heißt, daß man nach der Sünde sich der Nacktheit schämte und die Scham bedeckte, nehmen die einen[144] überhaupt nicht an, sondern lachen darüber ungläubig, während die anderen[145] sie zwar annehmen und in Ehren halten, jedoch den Ausspruch: „Wachset und mehret euch“ nicht von der Fruchtbarkeit dem Leibe nach verstanden wissen wollen, mit Berufung darauf, daß es auch über die Seele einen ähnlichen Ausspruch gibt, nämlich[146] : „Du wirst mich zunehmen lassen in meiner Seele der Tugend nach“. Demnach verstehen sie bei den in der Genesis folgenden Worten: „Und erfüllet die Erde und herrschet über sie“ unter Erde den Leib, den die Seele mit ihrer Gegenwart erfüllt und über den sie ganz besonders dann herrscht, wenn sie in der Tugend zunimmt; Leibesfrucht dagegen habe damals so wenig wie heutzutage ohne geschlechtliche Lust entstehen können, die erst nach der Sünde auftrat und erkannt ward und sich scheu in die Verborgenheit zurückzog, und es sollte auch im Paradies keine Leibesfrucht geben, sondern erst außerhalb, wie es auch eingetreten ist. Denn erst nachdem sie daraus vertrieben waren, taten sie sich zur Erzeugung von Kindern zusammen und erzeugten solche wirklich.
22. Die eheliche Verbindung ist von Gott eingesetzt und gesegnet.
Wir dagegen zweifeln durchaus nicht, daß wachsen und sich mehren und die Erde erfüllen gemäß dem Segen Gottes eine Gabe der Ehe sei und daß Gott die Ehe vor der Sünde des Menschen von Anfang an eingesetzt habe, indem er Mann und Weib schuf, ein geschlechtlicher Unterschied, der eben im Fleische klar sich zeigt. Und gerade diesem Werke Gottes ist der Segen beigefügt, um den es sich handelt. „Als Mann und Weib schuf er sie“, heißt es in der Schrift, und im unmittelbaren Anschluß daran fährt sie fort: „Und Gott segnete sie und sprach: Wachset und mehret euch und erfüllet die Erde und herrschet über sie“ und so weiter. Man kann dies ja alles recht wohl auch in einem geistigen Sinne auffassen, jedoch der Ausdruck „Mann und Weib“ widerstrebt der Beziehung auf etwas Entsprechendes in ein und demselben Menschen, etwa in dem Sinn, daß sich in ein und demselben Menschen zweierlei findet, etwas, was herrscht, und etwas, was beherrscht wird; vielmehr sind, wie daraus, daß von Leibern verschiedenen Geschlechtes die Rede ist, ganz augenscheinlich hervorgeht, Mann und Weib so erschaffen worden, daß sie durch Zeugung von Nachkommenschaft wachsen und sich mehren und die Erde erfüllen sollten, und es hätte keinen Sinn, sich gegen diese wörtliche Auffassung zu sperren[147] . Das verbietet schon die Antwort des Herrn auf die Frage[148] , ob es erlaubt sei, sein Weib um jeder Ursache willen zu entlassen, weil Moses wegen der Herzenshärte der Israeliten gestattet hatte, den Scheidebrief zu geben. Der Herr erwiderte: „Habt ihr nicht gelesen, daß der, der sie erschaffen hat im Anfang, als Mann und Weib sie geschaffen und gesprochen hat: Um deswillen wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden zwei in einem Fleische sein? Es sind also nicht mehr ihrer zwei, sondern sie sind ein Fleisch. Was also Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen“. Hier spricht doch der Herr nicht vom Geist, der gebietet, und dem Fleisch, das gehorcht, oder von der vernünftigen Seele, die die Leitung hat, und der unvernünftigen Begehrlichkeit, die zu leiten ist, oder von der betrachtenden Tugend, die den Vorrang hat, und der handelnden, die tiefer steht, oder von der geistigen Einsicht und der körperlichen Empfindung, sondern offenbar von dem ehelichen Bande, wodurch die beiden Geschlechter gegenseitig aneinander geknüpft sind. Es ist also gewiß, Mann und Weib waren ursprünglich schon so eingerichtet, wie wir heutzutage zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes beschaffen sehen und wissen, eins aber werden sie genannt entweder wegen der innigen Verbindung oder wegen des Ursprungs des Weibes, das aus der Seite des Mannes erschaffen ist. Denn auch der Apostel[149] mahnt unter Berufung auf dieses erste Vorbild, das, von Gott aufgerichtet, am Anfang steht, alle einzelnen Ehepaare, daß die Männer ihre Frauen lieben sollen.