Читать книгу Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2 - Augustinus von Hippo - Страница 6

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23. Über die Frage, ob es auch im Paradiese zur Zeugung hätte kommen müssen, wenn niemand gesündigt hätte, und ob dort die Keuschheit den Kampf wider das Feuer der Begierde aufzunehmen gehabt hätte.

Wollte man aber annehmen, die ersten Menschen hätten sich nicht zusammengetan und gezeugt, wenn sie nicht gesündigt hätten, so hieße das behaupten, daß zur Erfüllung der Zahl der Heiligen die Sünde des Menschen notwendig gewesen sei. Denn wären sie ohne das Dazwischentreten der Sünde allein geblieben, wie doch jene Annahme verlangt, die die Möglichkeit der Zeugung von der vorgängigen Sünde abhängig sein läßt, so war die Sünde in der Tat notwendig, sollte es nicht bloß zwei, sondern viele gerechte Menschen geben. Das ist ungereimt, und so hat man vielmehr anzunehmen, daß, auch wenn niemand gesündigt hätte, die Zahl der Heiligen, die nötig ist zur Vollzahl der Bürger des Gottesstaates, so groß geworden wäre, wie sie sich nun aus der Menge der Sünder durch Gottes Gnade ansammelt, solang Kinder dieser Welt zeugen und gezeugt werden.

Demnach hätte jene Ehe, würdig des Paradiesesglückes, wäre die Sünde nicht eingetreten, gleichwohl teure Nachkommenschaft gezeugt, jedoch ohne dabei beschämende Lust zu empfinden. Wie das möglich gewesen, ist hier nicht der Ort, an einem Beispiel zu zeigen. Aber deshalb braucht es nicht unglaublich zu erscheinen, daß dem Willen, dem so viele Glieder auch jetzt noch dienstbar sind, jenes eine Glied ebenfalls ohne geschlechtliche Lust hätte dienstbar sein können. Oder sollten wir zwar Hände und Füße nach Belieben des Willens in Bewegung setzen zu den diesen Gliedern obliegenden Werken, und das ohne alle Weigerung, mit einer Leichtigkeit, wie sie uns aus Erfahrung und Beobachtung bekannt ist, vorab bei aller Art von körperlicher Arbeit, wo der natürlichen Schwäche und Ungelenkigkeit behende Übungsfertigkeit nachhilft, dagegen uns wider die Annahme sträuben, daß die Zeugungsglieder gerade so gut wie die übrigen Glieder den Menschen auf einen Wink des Willens hin in Gehorsam hätten dienstbar sein können zum Werk der Kindererzeugung, wenn die Lust nicht eingetreten wäre als Vergeltung für die Sünde des Ungehorsams? Sagt doch Cicero in seinem Werk über den Staat, da wo er sich über den Unterschied der Regierungen äußert und ein Gleichnis hierfür dem Gebiete der Menschennatur entnimmt, man regiere die Glieder des Leibes wie Kinder wegen der Leichtigkeit, womit sie gehorchen, dagegen die fehlerhaften Teile des Geistes würden durch ein rauheres Regiment wie Sklaven gebändigt. Und gewiß hat der Geist nach der natürlichen Ordnung den Vorrang vor dem Leibe, obwohl er leichter den Leib als sich selbst beherrscht. Die Lust jedoch, von der wir hier sprechen, ist eben deshalb um so beschämender, weil ihr gegenüber der Geist weder sich selbst so wirksam beherrscht, daß sie sich überhaupt nicht einstellte, noch auch den Leib so vollkommen, daß statt der Lust der Wille die Schamglieder erregte; wäre dem so, dann wären sie ja nicht Gegenstand der Scham. So aber schämt sich der Geist, daß sich ihm der Leib widersetzt, der ihm doch ob seines tiefer stehenden Wesens unterworfen ist. Wenn bei anderen Leidenschaften der Geist in Widerspruch tritt mit sich, schämt er sich deshalb weniger, weil er da höchstens sich selbst unterliegt; denn wenn eine solche Niederlage auch wider die Ordnung und sündhaft ist, weil sie dem Geiste beigebracht wird von den Teilen, die sich der Vernunft unterwerfen sollten, so wird sie ihm doch von seinen eigenen Teilen und demnach, wie gesagt, von sich selbst bereitet. Bleibt nämlich der Geist ordnungsgemäß Sieger, in der Weise, daß sich die unvernünftigen Regungen dem Geist und der Vernunft unterordnen, so ist das preiswert und tugendhaft, wofern freilich Geist und Vernunft Gott untergeordnet sind. Aber wenn der Geist in seinen fehlerhaften Teilen gegen sich selbst ungehorsam ist, so schämt er sich doch eben nicht so sehr, als wenn seinem Willen und Befehl der Leib sich nicht fügt, der von ihm verschieden ist und unter ihm steht und dessen Natur aus ihm ihr Leben hat.

Behauptet indes der Wille die Herrschaft über jene anderen Glieder, deren Beihilfe die gegen den Willen durch die Lust gereizten Glieder in Anspruch nehmen müssen, um ihr Verlangen stillen zu können, so wird die Schamhaftigkeit bewahrt, ohne daß darüber freilich der Reiz der Sünde sich verlöre, der eben nur nicht verstattet wird. Ohne Zweifel, im Paradies, wäre nicht über die Schuld des Ungehorsams die Strafe des Ungehorsams verhängt worden, hätte das Beilager diese Widersetzlichkeit, diesen Widerspruch, diesen Kampf zwischen dem Willen und der Lust, um nur überhaupt den Willen durchzusetzen und die Lust auf sich selbst zu beschränken, nicht gekannt, vielmehr wären dort alle Glieder ohne Ausnahme dem Willen dienstbar gewesen. Es würde das Zeugungsgefilde[150] von dem hierzu erschaffenen Glied so angesäet worden sein, wie jetzt der Acker von der Hand des Säenden; und wenn jetzt die Scham sich mir widersetzt, da ich tiefer in diesen Gegenstand eindringen wollte, und mich nötigt, bei züchtigen Ohren durch ein vorausgeschicktes „mit Achtung zu sagen“ um Nachsicht zu bitten, so wäre dazu alsdann kein Grund vorhanden, vielmehr könnte sich die Rede frei und ohne alle Furcht vor Anstößigkeit über alles verbreiten, worauf das Nachdenken über diese Glieder führen würde, ja es gäbe überhaupt keine Wörter, die man anstößig hieße, sondern man könnte über diese Dinge sagen, was man wollte, es wäre immer so anständig, als wenn wir von anderen Körperteilen reden. Wer also an diese unsere Ausführungen mit unzüchtiger Gesinnung herantritt, der möge seine Schuld, nicht aber die Natur verabscheuen, die Wirkungen seiner Schamlosigkeit brandmarken und nicht die Worte, die wir nicht umgehen können. Der züchtige und gottselige Leser oder Hörer wird mir darin leicht Nachsicht gewähren, solange bis ich den Unglauben zurückgewiesen habe, der eben dem Gebiete der Sinneserfahrung seine Beweise entnimmt, nicht dem Glauben an übersinnliche Dinge. Denn wer sich nicht über den Apostel entsetzt, welcher entsetzliche Schandtaten von Weibern rügt[151] , die „den natürlichen Gebrauch vertauschten mit dem, der wider die Natur ist“, der liest auch unsere Darlegungen ohne Ärgernis, zumal da wir hier nicht in Erwähnung und Rügung verwerflicher Unzucht dem Apostel folgen, wohl aber darin, daß wir bei Darlegung von Begleitumständen des menschlichen Zeugungsvorgangs gleich ihm unzüchtige Worte vermeiden.

24. Wären die Menschen schuldlos und zum Lohn für geleisteten Gehorsam im Paradiese verblieben, so würden sie sich der Zeugungsglieder in derselben Weise bedient haben zur Gewinnung von Nachkommenschaft wie der übrigen Glieder, nämlich nach dem Machtspruch des Willens.

Es würde also der Mann Nachkommenschaft zeugen, das Weib sie aufnehmen, mit Zeugungsgliedern, die durch den Willen, wann und soviel es nötig wäre, in Bewegung gesetzt, nicht durch Lust zur Erregung gebracht würden. Wir bewegen ja nicht bloß solche Glieder nach Belieben, deren Teile aus festen Knochen bestehen, wie die Hände und Füße und Finger, sondern ebenso vermögen wir auch die Glieder, die aus weichen Muskeln und Sehnen bestehen und daher schlaff sind, nach unserm Willen hin und her zu bewegen, auszudehnen und zu strecken, zu drehen und zu wenden, zusammenziehend zu verhärten, wie denn der Wille z. B. die Mund- und Gesichtsmuskeln bewegt, so gut er kann. Selbst auch die Lungen, nächst dem Mark die weichsten Eingeweide und deshalb in der Brusthöhle geborgen, sind wie Blasebälge der Schmiedstätten oder der Orgeln dem Willen dienstbar zum Ein- und Ausatmen, zum Sprechen, Schreien, Singen. Und manchen Tieren ist es, wie ich im Vorbeigehen erwähnen möchte, von Natur aus gegeben, ihre den ganzen Körper bedeckende Haut nur an der Stelle zu bewegen, wo sie etwas zu Verscheuchendes verspüren, und durch solch zitternde Bewegung der Haut nicht nur Mücken, sondern selbst darin steckende Speere abzuschütteln. Der Mensch kann das nicht, aber deshalb stand es doch im Belieben des Schöpfers, solche Fähigkeit anderen Lebewesen zu verleihen nach seinem Gutdünken. Ebenso nun konnte sich auch der Mensch seinerseits des Gehorsams auch niedrigerer Glieder erfreuen, dessen er dann durch eigenen Ungehorsam verlustig ging. Denn es war nicht schwer für Gott, den Menschen so zu erschaffen, daß in seinem Fleische auch das, was jetzt nur durch die Lust bewegt wird, nur durch seinen Willen bewegt worden wäre.

Wir wissen ja, daß sich bei manchen Menschen natürliche Beschaffenheiten finden, die von den regelmäßigen weit abweichen und wegen ihres seltenen Vorkommens angestaunt werden; ich denke da an Menschen, die an ihrem Leibe allerlei nach Belieben vornehmen, was andere nicht können und auf bloßes Erzählen hin kaum glauben wollen. So gibt es Leute, die die Ohren bewegen können, jedes für sich oder beide zumal. Oder Leute, die die ganze Kopfhaut, soweit die Haare reichen, an die Stirne vorschieben und wieder zurückziehen nach Belieben, ohne den Kopf zu bewegen. Andere wieder holen von einer Unmasse der verschiedensten Dinge, die sie verschlungen haben, beliebige Gegenstände unversehrt wie aus einem Geldbeutel hervor und drücken dabei nur ein wenig das Zwerchfell. Manche ahmen die Stimmen von Vögeln oder von Haustieren oder von Mitmenschen, wer es auch sei, so täuschend nach, daß man es unmöglich unterscheiden kann, wenn man sie nicht sieht. Andere geben aus ihrem Inneren ohne allen Gestank nach Belieben Laute in so großer Zahl von sich, daß man meinen könnte, sie sängen auch von dieser Seite her. Ich selbst habe einen Menschen beobachtet, der in Schweiß zu geraten pflegte, wenn er wollte. Bekannt ist, daß manche weinen, wenn sie wollen, und sogar reichlich Tränen vergießen. Weit seltsamer aber ist etwas anderes, was viele Brüder in jüngster Zeit sich zutragen sahen. Im Sprengel der Kirche von Calama[152] lebte ein Priester namens Restitutus. Der vermochte sich, wenn es ihm beliebte [es geschah auf Bitten solcher, die Augenzeugen des merkwürdigen Vorgangs zu sein wünschten], auf nachgeahmtes Wehklagen hin in einen Zustand der Empfindungslosigkeit zu versetzen und lag dann da wie ein Toter, so daß er nicht nur keinen Kniff und Stich spürte, sondern sich mitunter selbst von Feuer brennen ließ ohne jegliches Schmerzgefühl, nur daß nachher die Wunde schmerzte. Und dabei war sein Leib nicht etwa aus Standhaftigkeit bewegungslos, sondern aus Empfindungslosigkeit, wie sich daran zeigte, daß wie an einem toten Leibe kein Atem festgestellt werden konnte; jedoch vernahm er die menschliche Stimme, wenn man ziemlich laut sprach, wie aus der Ferne, so versicherte er nach dem Erwachen. Wenn also selbst gegenwärtig der Leib mancher Menschen, die auch im vergänglichen Fleische ihr mühseliges Leben hienieden hinbringen, auf solch merkwürdige Weise außerhalb der gewöhnlichen Art der Natur sich dienstbar erweist in mannigfachen Bewegungen und Zuständen, warum sollten wir nicht glauben, daß vor der Sünde des Ungehorsams und der Strafe der Verderbtheit die Glieder des Menschen dem Willen des Menschen zur Erzeugung von Nachkommenschaft ohne jede geschlechtliche Lust hätten dienstbar sein können? Es wurde also der Mensch, da er Gott aus Wohlgefallen an sich selber verlassen hatte, sich auch selber überlassen, und, ungehorsam gegen Gott, war er nun auch nicht mehr imstande, sich selbst zu gehorchen. Der Mensch lebt also nicht, wie er will, und dadurch ist das Elend handgreiflich geworden. Denn würde er leben, wie er will, so würde er sich für glücklich halten, was er freilich auch so nicht wäre, wenn er schmählich lebte.

25. Wahre Glückseligkeit wird dem Menschen im irdischen Leben nicht zuteil.

Wenn wir indes genauer zusehen, lebt nur der Glückselige, wie er will, und ist nur der Gerechte glückselig. Jedoch auch der Gerechte wird erst leben, wie er will, wenn er dorthin gelangt ist, wo er überhaupt nicht sterben, sich irren und zu Schaden kommen kann und überdies die Gewißheit hat, daß es immer so bleibt. Dies verlangt die Natur, und nur die Stillung dieses Verlangens kann sie ganz und vollkommen glückselig machen. Aber wer könnte hienieden leben, wie er will, da doch niemand auch nur zu leben in seiner Gewalt hat? Leben will jeder, und jeder muß sterben. Wie kann da die Rede sein von leben, wie man will, wenn man nicht lebt, solang man will? Und wenn einer sterben will, so kann erst recht nicht von leben, wie man will, die Rede sein; ein solcher will ja überhaupt nicht leben. Sollte er aber nicht aus Überdruß am Leben sterben wollen, sondern aus Sehnsucht nach einem besseren Leben jenseits des Todes, so lebt er also jetzt noch nicht so, wie er will, sondern erst dann, wenn er durch Sterben zu dem gelangt ist, was er will. Aber gut, es lebe einer so, wie er will, nachdem er es über sich gebracht und sich streng auferlegt hat, nicht zu wollen, was er nicht kann, und nur das zu wollen, was er kann[153] sagt: „Da doch nicht geschehen kann, was du willst, so wolle, was du kannst“, so ist ein solcher deshalb noch nicht glückselig, weil er in Geduld unglücklich ist. Ein glückseliges Leben hat man ja nur, wenn man es auch liebt. Liebt man es aber und hat man es, so muß man es mehr als alles andere lieben, weil um seinetwillen alles, was man sonst liebt, liebenswert ist. Liebt man es nun nach Verdienst [und glückselig ist nur, wer das glückselige Leben auch nach Verdienst liebt], so schließt das von selbst das Verlangen in sich, es möge ewig sein. Nur dann also wird es ein glückseliges Leben sein, wenn es ein ewiges sein wird.

26. Der Glückszustand des paradiesischen Daseins hätte es verstattet, den Zeugungsakt ohne beschämendes Verlangen vorzunehmen.

Es lebte also der Mensch im Paradiese so, wie er wollte, solang er wollte, was Gott befohlen hatte; er lebte im Genusse Gottes, und aus diesem Gute floß seine eigene Gutheit; er lebte ohne allen Mangel und hatte es dadurch in seiner Gewalt, immer zu leben. Da gab es Speise, damit ihn nicht hungere, und Getränk, damit ihn nicht dürste, und einen Baum des Lebens, damit ihn nicht das Alter aufreibe. Nichts von Vergänglichkeit in seinem Leibe oder von seinem Leibe ausgehend bereitete irgendwelche Beschwer irgendeinem seiner Sinne. Keine innerliche Krankheit, keinen Angriff von außen hatte man zu befürchten. Das Fleisch erfreute sich höchster Gesundheit, der Geist vollster Ruhe. Wie es im Paradiese weder Hitze gab noch Kälte, so erfuhr im Paradiesesbewohner der gute Wille keine Gefährdung weder von Seiten der Begehrlichkeit noch von Seiten der Furcht. Alles Traurige war völlig ausgeschlossen, aus der Fröhlichkeit alles Nichtige verbannt. Wahre Freude strömte ununterbrochen zu aus Gott, gegen den „die Liebe“ entbrannte „aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben“[154] , und die Genossenschaft zwischen den Gatten war treu aus reiner Liebe, die Sorgfalt für Geist und Leib einträchtig, die Beobachtung des Gebotes mühelos. Keine Ermüdung verdarb die Feiertagsstimmung, kein Schlaf drängte sich auf wider Willen. So günstig war die ganze Lage, so glücklich der Mensch selbst, daß wir nicht wähnen dürfen, es hätte nur unter dem Fieber der Lust Nachkommenschaft gezeugt werden können; vielmehr würden sich dazu die Zeugungsglieder auf den Wink des Willens angeschickt haben wie die übrigen Glieder zu ihren Verrichtungen, und ohne den verführerischen Anreiz der Begier, mit voller Ruhe des Geistes und des Leibes, ohne Verletzung der Unversehrtheit, hätte sich der Gatte in den Schoß der Gemahlin ergossen[155] . Läßt es sich auch nicht durch Erfahrung beweisen, so ist doch anzunehmen, daß, da ja nicht ungestüme Hitze diese Körperteile regiert, sondern frei herrschender Wille sie in Dienst genommen hätte, wie es nötig gewesen, der männliche Same sich in den Schoß der Gattin damals so gut unbeschadet der leiblichen Unversehrtheit hätte ergießen können, wie jetzt ebenfalls unbeschadet dieser Unversehrtheit aus dem Schoße der Jungfrau der monatliche Fluß sich ergießen kann. Auf demselben Wege hätte ja der eine eingebracht werden können, auf dem der andere abgeht. Denn wie zum Gebären nicht die Geburtswehen den Mutterschoß geöffnet hätten, sondern der Antrieb der Reife, so würde zur Befruchtung und Empfängnis nicht das Begehren der Lust, sondern frei gewollte Ausübung die beiden Naturen verbunden haben. Wir sprechen da von Dingen, die jetzt Gegenstand der Scham sind, und deshalb müssen wir uns, obwohl unser Versuch deren mögliche Beschaffenheit, ehe sie das noch waren, ins Auge faßt, doch aus Schamgefühl Grenzen setzen, um so mehr, als wir von der Rede, über die wir ohnehin nur in unzureichendem Maße verfügen, keine weitere Förderung zu erwarten haben. Denn was hier zur Behandlung steht, sind die, die es hätten inne werden können, selbst nicht inne geworden [die Sünde kam ihnen zuvor, und sie zogen sich die Vertreibung aus dem Paradiese zu, ehe sie sich noch zu dem Werke der Erzeugung von Nachkommenschaft in ruhigem Willensentscheide zusammentaten]; und so steht jetzt erst recht den menschlichen Sinnen, wenn von diesen Dingen die Rede ist, lediglich die Erfahrung stürmischer Lust zu Gebote, nicht aber die Vorstellung gelassenen Wollens. Daher kommt es, daß Scham die Rede hemmt, selbst wenn es dem Nachsinnenden an Gedanken nicht gebräche. Aber dem allmächtigen Gott, dem höchsten und höchst guten Schöpfer aller Naturen, der den guten Willen unterstützt und belohnt, den bösen verläßt und verdammt und den einen wie den andern einzuordnen weiß, gebrach es selbstverständlich nicht an Rat, die festbegrenzte und in seiner Weisheit vorherbestimmte Zahl der Bürger des Gottesstaates aus dem Menschengeschlecht vollzumachen auch nach der Verdammung, indem er diese Bürger nun nicht mehr nach ihrem Verdienst — die gesamte Masse ist ja verdammt worden als in der sündhaften Wurzel enthalten —, sondern durch Gnade auswählt und den Erlösten nicht nur an sich selber, sondern auch an den Nichterlösten vor Augen führt, was er ihnen Großes spendet. Denn aus freier, nicht aus geschuldeter Güte fühlt und bekennt sich jeder den Übeln entrissen, wenn er herausgenommen wird aus einer Genossenschaft von Menschen, mit denen er von rechtswegen gemeinsame Strafe teilen sollte. Warum also hätte Gott nicht Wesen erschaffen sollen, von denen er sich des Sündigens zum voraus versah, da er doch in und an ihnen zeigen konnte, was deren Schuld nach sich zog und was seine Gnade frei gewährte? Die rechte Ordnung der Dinge würden ja die Sünder durch ihre ungeordnete Verkehrtheit ohnehin nicht stören können, auch ihrerseits abhängig von ihm als dem Schöpfer und Lenker.

27. Die Sünder, ob Engel oder Menschen, vermögen durch ihre Verkehrtheit die Vorsehung nicht zu beirren.

Demnach vermögen die Sünder, Engel wie Menschen, mit ihrem Treiben nicht zu behindern „die großen Werke des Herrn, die er sich aussucht ganz nach seinem Willen“[156] ; denn er, der mit vorsehender Weisheit und allmächtigem Willen jedem das Seine zuteilt, weiß sich nicht nur der Guten, sondern auch der Bösen zum Guten zu bedienen[157] . Und indem er sich also des bösen Engels, der wegen des Mißverdienstes des ersten bösen Willens in einer Weise mit Verhärtung bestraft wurde, daß er ferner überhaupt keinen guten Willen mehr hatte, zum Guten bedient, konnte er recht wohl zulassen, daß von ihm der erste Mensch versucht wurde, der aufrecht, d. i. als ein Wesen von gutem Willen erschaffen war. War er doch so eingerichtet, daß er den bösen Engel hätte überwinden können, wenn er als guter Mensch der göttlichen Hilfe vertraute, dagegen freilich überwunden werden sollte, wenn er Gott, seinen Schöpfer und Helfer, in stolzem Selbstgefallen verlassen würde; sein Verdienst sollte bestehen in einem geraden, von Gott unterstützten Willen, sein Mißverdienst in einem verkehrten, von Gott sich abwendenden Willen. Denn ohne Gottes Hilfe hätte er eben jenes Vertrauen auf Gottes Hilfe nicht zuwege gebracht, aber deshalb stand es doch in seiner Gewalt, sich dieser göttlichen Gnadenhilfe durch Wohlgefallen an sich selber zu begeben. Denn wie man es nicht in seiner Gewalt hat, im Fleische hienieden zu leben ohne Zuhilfenahme von Nahrungsmitteln, dagegen es allerdings in seiner Gewalt hat, im Fleische nicht zu leben, wie das Beispiel der Selbstmörder zeigt, so hatte man es auch im Paradiese nicht in seiner Gewalt, gut zu leben ohne Gottes Hilfe, wohl aber hatte man es in seiner Gewalt, schlecht zu leben, wobei dann jedoch die Glückseligkeit nicht andauern, sondern die gerechte Strafe eintreten sollte. Da nun Gott um diesen künftigen Fall des Menschen genau wußte, hätte er ihn deshalb nicht versuchen lassen sollen durch die Bosheit des neidischen Engels? er, der durchaus nicht im Ungewissen darüber war, daß der Mensch besiegt würde, aber ebenso klar vorhersah, daß von dem Samen des Menschen mit Hilfe der göttlichen Gnade derselbe Teufel in den Heiligen um so rühmlicher besiegt werden sollte! Die Sache stand demnach so, daß Gott nichts verborgen war von den kommenden Dingen, daß er aber durch sein Vorherwissen niemand zum Sündigen nötigte und durch die nachfolgende Erfahrung seiner vernunftbegabten Schöpfung in Engel- und Menschenwelt den gewaltigen Unterschied vor Augen führte zwischen vermessener Selbstüberhebung und göttlichem Schutz. Es wäre natürlich in Gottes Macht gelegen gewesen zu bewirken, daß weder Engel noch Mensch gefallen wäre. Aber er zog es vor, das ihrer Macht anheimzustellen und auf diesem Wege zu zeigen, wieviel Schlimmes ihr Hochmut und wieviel Gutes seine Gnade vermöge.

28. Der Unterschied der beiden Staaten, des Weltstaates und des himmlischen Staates.

Zweierlei Liebe also hat die beiden Staaten gegründet, und zwar den Weltstaat die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe, den himmlischen Staat die bis zur Verachtung seiner selbst gehende Gottesliebe. Kurz gesagt: der eine rühmt sich in sich selbst, der andere im Herrn[158] . Der eine sucht Ruhm bei den Menschen, für den andern ist der höchste Ruhm Gott, der Zeuge des Gewissens. Der eine hebt sein Haupt empor in eigenem Ruhm, der andere spricht zu seinem Gott[159] : „Du bist mein Ruhm und hebst mein Haupt empor“. Jenen beherrscht in seinen Fürsten oder in den von ihm unterjochten Völkern die Herrschsucht; in diesem sind sich gegenseitig in Liebe dienstbar die Vorgesetzten durch Fürsorge, die Untergebenen durch Gehorsam. Jener liebt in seinen Mächtigen seine eigene Stärke; dieser spricht zu seinem Gott[160] : „Ich will Dich lieben, Herr, meine Stärke“. In jenem haben daher dessen Weise, nach dem Menschen lebend, die Güter des Leibes oder die ihres Geistes oder die des einen wie des andern angestrebt, oder die unter ihnen, die[161] „Gott erkannt haben, haben ihn doch nicht wie Gott geehrt oder Dank gesagt, sondern sind eitel geworden in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ward verfinstert; sie sagten, sie seien die Weisen“[162] , „und sind zu Toren geworden und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem Gleichnis und Bilde des vergänglichen Menschen, auch der Vögel und vierfüßigen und kriechenden Tiere“ [derlei Götzenbilder anzubeten lehrten sie nämlich das Volk oder schlossen sich ihm darin an] „und erwiesen Verehrung und Dienst dem Geschöpfe vielmehr, denn dem Schöpfer, der da ist der Gepriesene in Ewigkeit“. Im Gottesstaate dagegen gibt es keine andere Weisheit des Menschen als die Frömmigkeit, die in der rechten Weise den wahren Gott verehrt und dabei in der Genossenschaft mit den Heiligen, die sowohl Engel als Menschen umfaßt, als ihren Lohn erhofft, „daß Gott alles in allem sei“[163] .

Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2

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