Читать книгу Sie liebte einen Kriegsverbrecher - Auke Kok - Страница 3
Einleitung
ОглавлениеMit dem Kopf voller Fragen folge ich ihr ins Wohnzimmer. Corrie den Held ist inzwischen Mitte achtzig, hat aber immer noch eine mädchenhafte Ausstrahlung und ist Zeitzeugin einer der bizarrsten Episoden des Zweiten Weltkrieges. Als Ex-Frau des berüchtigten Landesverräters Anton van der Waals kann sie der Geschichtsschreibung ein Kapitel hinzufügen. Keiner hat diesen Mann so hautnah erlebt wie sie. Zwischen 1943 und 1947 hat sie schaurige Abenteuer mit ihm zusammen erlebt, bis er gefasst, vor Gericht gestellt und – als einer der letzten Kriegsverbrecher – hingerichtet wurde. Sie mag eine Kriegsvergangenheit haben, die an Horror grenzt. Der Mensch, von dem sie sich hatte umgarnen lassen, wurde später bekannt als raffiniertester Doppelspion im Dienste Deutschlands. Eine Chamäleon-ähnliche Figur, die es verstand, das Vertrauen der Widerstandsleute zu gewinnen, um sie dann gnadenlos in die Hände des Sicherheitsdienstes zu treiben.
Daher die Fragen. Was hatte ihr so gefallen an diesem Intriganten, und warum blieb sie ihm treu? Wie gab er sich, wenn er nicht gerade dabei war, Leute vom Widerstand zu täuschen und den Besatzern auszuliefern? Empfand sie Groll? Hass? Kummer?
Zum ersten Mal seit dem Tod von Anton van der Waals in 1950 ist sie nun bereit zu sprechen. Zahllose Journalisten hatte sie abgewiesen, nicht einmal mit ihrem Mann und ihren Kindern hatte sie wirklich darüber reden können. Sie fand das alles zu deprimierend, zu kompliziert und zu komplex. Auch mich hatte sie Anfang der Neunzigerjahre zunächst nicht empfangen wollen, als ich über die Gemeinde ihres Wohnortes wegen meines Buches De verrader – Leven en dood van Anton van der Waals (Der Verräter – Leben und Tod von Anton van der Waals) Kontakt mit ihr aufnehmen wollte. Ich verstand diese reservierte Haltung sehr gut, denn es ist schließlich kein angenehmer Gedanke, Erinnerungen an Liebesjahre mit einem Mann aufleben zu lassen, der im Krieg auf der falschen Seite gestanden hatte. Nach dem Krieg war Van der Waals zum Inbegriff des Bösen geworden, und das dürfte sie noch lange beschäftigt haben. Deshalb musste ich mich seinerzeit beschränken auf ihre ausführlichen Erklärungen im Rahmen der Kriegsrechtsprechung und auf das, was andere mir über sie sagen konnten.
Das Widersprüchliche ist, dass Corrie den Held mich gerade aufgrund meines Buches aus 1995 jetzt schon empfangen möchte. Ich fand ihre Spur rein zufällig und hatte ihr geschrieben. Als ich sie eine Woche darauf anrief, meinte sie trocken: „Ich stehe dem positiv gegenüber.“ Um einige Wochen später in ihrem Wohnzimmer hinzuzufügen: „Sie verstehen das. Sie kennen die Umstände.“ Jetzt, da viele Angehörige und der Vater ihrer Kinder nicht mehr leben, spürt sie erst die Freiheit, alles zu erzählen. Und das tut sie mit einer Offenheit, zu der sie nicht verpflichtet ist, und mit einer Aufrichtigkeit, die mir bisweilen den Atem raubt. Ich meine, sie könnte mir einfach weismachen, dass Van der Waals sie zu all dem gezwungen hat. Ich würde es so notieren, und jeder würde es glauben. Es wäre eine schlüssige Geschichte: Durchtriebener Kriegsverbrecher verführt achtzehnjähriges Mädchen mit Geld und schönen Worten. Er stellt sich ihr als Widerstandskämpfer aus adeligem Hause vor, und als ihr klar wird, was wirklich vor sich geht, tut er alles, um sie bei sich zu halten. Zitternd vor Angst rennt sie zur Tür, aber weil er droht, ihre Familie umzubringen, bleibt sie als Geisel bei ihm. Es wäre ein altbekanntes Thema, und die Leute würden es ohne Weiteres glauben.
Doch die Geschichte von Corrie den Held ist nicht einfach. Für sie selbst am allerwenigsten. Sie erzählt etwas ganz anderes. Sie hat ihn geliebt, aufrichtig geliebt. Sie sagt es oft. Natürlich hätte sie sich nicht auf ihn eingelassen, wenn sie gewusst hätte, dass er für den Sicherheitsdienst arbeitete und Verbrechen beging. Unbescholtene, wohlerzogene junge Mädchen aus Wassenaar gaben sich nicht mit dem Feind oder mit Kriminellen ab. Sie verliebte sich in einen Menschen, der im Widerstand war, der ihr alles gab, wonach sie sich sehnte: Aufmerksamkeit und Zuneigung. Und auch als ihr klar wurde, dass die Dinge anders lagen und allmählich Deutsche in ihr Leben kamen, liebte sie ihn weiterhin. Corrie den Held war jemandem von Herzen zugetan, der jeden betrog, der stahl und der schließlich auch mordete. Doch es gelang ihr, die Augen davor zu verschließen und mit ihm schöne Zeiten zu erleben. Unfassbar, aber so war es.
Wochenlang reden wir über den genauen Verlauf. Aber wir sprechen auch über das Warum. Warum eine kultivierte junge Frau immer wieder die Geborgenheit eines Menschen suchte, der die unkultiviertesten Dinge tat. Er sorgte gut für sie, das steht fest. Nichts entbehren zu müssen in Zeiten der Knappheit hatte seine Vorteile. Sie wusste bei Weitem nicht alles über seine Verräterpraktiken. Er liebte sie, und auch darüber spricht Corrie offen. „Denn das wollen Sie natürlich auch wissen“, sagt sie dann von sich aus, wenn es ihrem Empfinden nach zu lange dauert, bis ich es anspreche.
Die von Corrie den Held immer wieder beschriebene Zärtlichkeit und Fürsorge werfen ein neues Licht auf die düstere, historisch jedoch ebenso wichtige Gestalt Anton van der Waals. In Corries Erinnerungen – während des Interviews fragt sie, ob wir uns duzen können – zeigt er sich als jemand, der durchaus selbstlose Züge hatte. Es schien sein aufrichtiger Wunsch zu sein, dass es ihr an nichts fehlte, und dafür hatte er einiges übrig. Noch immer ist Corrie davon überzeugt, dass Henk, wie sie ihn immer noch nennt, sie liebte. Während unserer Gespräche schienen ihre Augen manchmal zu leuchten, wenn sie von ihm sprach. Dann war sie in Gedanken wieder an jenem Ort, an dem sie mit ihm glücklich war, und sei es nur einen Nachmittag lang, und verliert ganz kurz das große Ganze aus den Augen.
Abgesehen von der Täuschung, von der auch die junge Corrie ein Opfer war, verhielt er sich wie ein zuverlässiger Ehemann. Sofern man natürlich einen Mann, der seine Frau über seine Hintergründe belügt, zuverlässig nennen kann. Trotz allem konnte sie sich auf ihn verlassen, und ansonsten hatte er Charme, eine angenehme Stimme, sorgte für Gemütlichkeit und bot ihr ein aufregendes, abwechslungsreiches Leben voller Glamour. Angstvolle Stunden gab es auch, jedoch anders als ich immer angenommen hatte.
Corrie bezeichnet ihn oft als einen Mann mit einem einnehmenden Wesen. Er konnte nicht nur sie, sondern auch andere um den Finger wickeln. Noch überzeugender als in der vorhandenen Literatur wird aus ihren Erzählungen klar, wie leicht er Anschluss fand. Es muss in seiner Anwesenheit angenehm gewesen sein. Corrie war gerne mit ihm zusammen, und obwohl manch anderer sich dazu nie bekannt hat, war sie gewiss nicht die einzige. Das Bild eines überführten Kriegsverbrechers als Bösewicht, Widerling oder kalten Phantasten ist nun mal eingängiger als das eines begeisternden Menschen mit schönen Initiativen. Ersteres wird in nahezu allen Zeugnissen aus der Nachkriegszeit betont, Letzteres kaum, eigentlich erst jetzt. Der kultivierte Eindruck, den Van der Waals ab ihrer ersten Begegnung auf Corrie machte, zeigt etwas von der Geschwindigkeit, mit der er sich von seinem einfachen Rotterdamer Umfeld gelöst hatte. Bis Mai 1940 hatte Van der Waals mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt. Nicht im Entferntesten war er der Erfinder geworden, der er gerne gewesen wäre. Sogar die Widerstandsbewegung hatte ihn abgelehnt. Doch in der deutschen Armee klappte plötzlich alles wie am Schnürchen, und im Sommer 1943, in seinem Zenit, begegnet er Corrie und gab sich reich, zuvorkommend und selbstsicher. Ein charmanter Kunst- und Weinkenner, eine angenehme und spannende Vaterfigur für ein vaterloses Mädchen, dem nie etwas geschenkt worden war.
Die glückliche Anfangszeit des sogenannten Widerstandskämpfers und seiner Liebsten war kein Einzelfall. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie zwischen richtig und falsch, die nicht überall klar ersichtlich war, entwickelten sich viele Liebesbeziehungen. Sowohl Kollaborateure als auch Menschen im Widerstand genossen in vielen Fällen das freie Leben, das ihnen der Krieg bot. Mit Decknamen und geheimen Adressen taten sie Dinge, von denen niemand erfahren durfte. Die andere Seite nicht, aber auch nicht die Ehefrau. So gesehen hatte Anton van der Waals mehr mit den Widerstandskämpfern gemein als man aufgrund der offiziellen Geschichtsschreibung erwarten würde. Sein Pendant auf der vaterlandsliebenden Seite, der Künstler Gerrit Jan van de Veen, betrog seine Frau mit gleich mehreren Freundinnen. Auch der Gründer der Zeitschrift Vrij Nederland , Henk van Randwijk, hatte in dieser Grauzone eine Mätresse, wie auch der Widerstandskämpfer Koos Vorrink, ein einflussreicher Sozialdemokrat, der vehement auf Moral in guten und in schlechten Zeiten pochte. Wim Sanders vom Nachrichtendienst würde sich nach dem Krieg nie mehr so frei fühlen wie in der Zeit zwischen 1940 und 1946. Die Rückkehr in die gesellschaftlichen Schranken fiel ihm schwer, und vielleicht dachte er hin und wieder zurück an seine außereheliche Beziehung mit – was für ein Klischee – einer Kurierin.
Vor dem Sommer 1943 war Van der Waals bereits dreimal verheiratet gewesen und unter anderem wegen seiner Zügellosigkeit auch wieder geschieden. Er lebte das aufregende Leben eines Playboys, was einerseits aufgrund der Geheimhaltung möglich war, die auf beiden Seiten der Trennlinie notwendig war, um gut funktionieren zu können, und andererseits durch den Charme, von dem Van der Waals, wie sich herausgestellt hat, reichlich besaß. Die Kriegszeit hatte befreiende Aspekte für ihn, für Corrie und für unerschrockene Helden auf der richtigen Seite der Linie, die das Abenteuer suchten. Ehemalige Widerstandskämpfer sprachen im Nachhinein manchmal vor einer Indianerwelt, in der sie gelebt hätten. Wie Cowboys hatten sie sich aufgeführt, ohne Terminkalender und Versammlungen, nahezu ohne jegliche Struktur, und schon gar nicht unter gesellschaftlichem Zwang, wie manche von ihnen das empfanden.
Wenn ich eine Stunde keine unangenehmen Themen angeschnitten hatte, nannte Corrie ihr Leben während des Krieges spannend und abwechslungsreich. Diese Worte, die zunächst unpassend, doch angesichts der Umstände umso menschlicher klangen, bezogen sich auf beide Enden des Spektrums.
Was ihren Hintergrund anbelangt, ist Corrie während der Interviews besonders offen und mutig. In leisem, mildem Ton kommen die abscheulichen Geschichten über ihre Jugend zur Sprache. Geschichten von stillem Leid, die unzensiert im Aufnahmegerät verschwinden. Eine sehr merkwürdige Mutter hatte sie an der kurzen Leine gehalten, manchmal sogar erniedrigt. Für diese Mutter, Witwe, Tochter eines Handwerkers im Rotterdamer Hafen, schien alles zurückstehen zu müssen für ein Haus in Voorburg. Zu Hause drehte sich alles um den schönen Schein, und Corrie hatte das Nachsehen. Aber es war gerade jene Corrie, die den Ehrgeiz ihrer Mutter verstand, wie ein Aschenputtel in Kriegszeiten. Sie verließ das Elternhaus für einen reichen Baron mit internationalen Beziehungen, woraufhin ein Märchen seinen Anfang nahm, um in einem Albtraum zu enden.
Ihre Memoiren hat sie nie geschrieben. Sie war nicht in Therapie, um ihre Kriegsvergangenheit zu verarbeiten. Es wartet also keine fertige Erzählung auf mich. Es ist, als würde Corrie den Held mir die Erlaubnis erteilen, eine geheime Schublade zu öffnen und darin Erinnerungen zu finden, die sie schon seit Jahren nicht mehr zugelassen hat. Zusammen suchen wir nach einem roten Faden, der irgendwo sein muss, und meistens finden wir ihn auch, allerdings nicht immer. Sie hat unterschiedliche, nicht immer gleichlautende Erklärungen für ihr Verhalten. Das eine Mal hatte sie Angst wegzulaufen, und das andere Mal wollte sie einfach nur bei ihrem Mann bleiben. Er beschützte sie, er kümmerte sich um sie, sorgte für ihr Wohlergehen. Er nahm sie mit in die Welt der großen Leute. Aber sie war auch naiv und wusste nicht genau, was er alles tat. Sie war von ihm abhängig und sieht sich selbst rückblickend gerne als Spielball auf den Wellen. Die Mächte, von denen sie umgeben war, waren größer und stärker als sie. Dann nicke ich und denke: „Ja, so kann es gewesen sein.“
Während unserer Gespräche wundert es sie fast genauso wie mich, dass sie innerhalb so kurzer Zeit so vieles erlebt und durchgemacht hat, hohe Gipfel und tiefe Abgründe, Luxus und Vergnügen, bittere Armut und Einsamkeit, sogar Hunger. In solchen Augenblicken lässt sie ihre Hände im Schoß ruhen und seufzt. Eine Uhr tickt, ein Boot fährt vorbei. Dann: „Unglaublich, oder?“
Und später, wenn sie mich nach der Lektüre eines Kapitels anruft, folgt wieder so ein Moment des stillen Gleichmuts. „Ja, aber so war es!“ Mit einer fast verzweifelten Betonung auf das Wörtchen ‚war‘, als ob sie sich entschuldigen möchte. Sie selbst kann auch nichts dafür. Manche Passagen würde sie gerne anders sehen, doch ihr ist klar, dass es kein Entrinnen gibt. Zehn Kapitel, zehn Mal dieselben Worte: So war es wirklich. Gefolgt von der Frage, wann das nächste Kapitel fertig sein wird, denn das konnte sie immer kaum erwarten. Jeden Morgen ging sie in der Hoffnung auf einen großen weißen Umschlag zum Briefkasten, um dann meistens enttäuscht zurückzugehen ins Wohnzimmer, wenn keiner da war. Sie will da durch. Sie ist der Meinung, dass sie da nochmal durch muss, als ob sie als Überlebende eines Höllenritts alle Kurven nochmal genau in Augenschein nehmen möchte. Und dann das Kopfschütteln darüber, dass sie diese Kurven tatsächlich genommen hat, mit genau der Geschwindigkeit und genau den Risiken…
Wir reisen durch die Niederlande und besuchen die Orte, an denen sie mit Van der Waals alias ‚Henk‘ gelebt hat. Wir klingeln bei einer Freundin aus jener Zeit und trinken Tee. Beim Abschied sagt Corrie zu ihr: „Dennoch bereue ich nichts.“ Die Augen ihrer früheren Freundin sagen etwas anderes.
Corrie hat allem und jedem verziehen, auch sich selbst. Die Dinge sind geschehen, und jetzt soll es auch Schwarz auf Weiß erscheinen. Denn, und das sagte sie schon während unseres ersten Gesprächs, sie wisse nur zu genau: „Ich habe in einem Film gelebt.“ Die Frage, ob viele Menschen das Buch zur Kenntnis nehmen werden, beschäftigt sie nicht. Es war nie ihre Absicht, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Niemand braucht zu wissen, wo sie wohnt, wie sie jetzt heißt oder wie sie aussieht. Wiedererkennung auf der Straße könnte unerwartete Fragen aufwerfen, und die möchte sie auch nach zehn Kapiteln, in denen ihre Vergangenheit einigermaßen geordnet ist, am liebsten vermeiden. Eine Handvoll Leser wäre schön. Ihr ist aber wichtiger, dass ihre Töchter Peggy, Joyce und Lucy endlich verstehen, was sie durchgemacht hat.