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Aschenputtel in Voorburg

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Corrie spielte gerne draußen. Man konnte sie jeden Tag mit einem Springseil oder beim Gummitwist auf der Straße sehen, oder sie hüpfte von einem Mäuerchen zum nächsten vorbei an den zahlreichen Vorgärten in Voorburg. Auf Bäume klettern war nicht einfach in Kleidchen und Röckchen, weshalb sie sich fragte, warum Jungs Hosen tragen durften und Mädchen nicht? In einer Hose konnte man besser Roller fahren, mehr Stichlinge im Wassergraben in der Nähe ihres Hauses fangen. Und baden ging Corrie auch so gerne. Wenn das Wasser sechzehn Grad hatte, verbot ihre Mutter ihr zu baden, aber sie tat es heimlich trotzdem, obwohl sie noch keine Schwimmabzeichen hatte. Im Winter konnte sie Schlittschuh laufen, bis sie weinend vor Kälte nach Hause gehen musste.

Auch abends im Dunkeln konnte man sie draußen sehen. Corrie machte allerhand Streiche, vor allem in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Manchmal gelang es einer Freundin, die Taschenlampe ihres Vaters mit nach draußen zu schmuggeln, mit der sie dann im Park knutschenden Pärchen auflauerten, um sie mit dem Licht zu erschrecken. Das machte Corrie und ihrer Freundin einen Heidenspaß.

Obwohl Voorburg in den Dreißigerjahren bereits viel von seinem ländlichen Charme eingebüßt hatte, waren die kleinen Wäldchen, die ruhigen Straßen und der zu einem Streichelzoo umgebaute Bauernhof ein herrlicher Spielplatz für Corrie den Held, geboren am 14. November 1924. Trotz der Straßenbahn, die seit ihrem Geburtsjahr wie der Vorbote eines neuen Zeitalters durch das alte Dörfchen fuhr, konnte sich ein Kind, das gerne draußen war, herrlich austoben. Wegen der Nähe des nationalen Regierungszentrums kannte Voorburg eine Reihe von Landgütern für wichtige und gut betuchte Beamte aus Den Haag. Es gab Lustschlösschen aus dem siebzehnten Jahrhundert, und wenn man sich Mühe gab, war es fast, als würden Prinzessinnen von Oranien unter den hohen Bäumen des Parks in ihren Kutschen vorbeifahren.

Dort lernte Corrie zu überleben und sich nicht unterkriegen zu lassen.

Als Kind, das liebend gerne draußen spielte, wäre Corrie natürlich furchtbar gerne mit auf Klassenfahrt gefahren. Sie hätte sich wochenlang darauf gefreut, denn abgesehen von den Sachen, die sie sich selbst ausdachte, gab es nicht viel zu erleben. Doch Klassenfahrten hatte es für sie nie gegeben. Ihre Mutter erlaubte ihr nicht, mitzufahren. „Es ist zu anstrengend für dich“, hieß es dann für Corrie. „Du bist so ein zartes Kind.“

Also ging sie, wenn ihre Klassenkameraden sich auf den Weg machten zu ihrem jährlichen Schulausflug, auch zur Schule, als hätte ihre Mutter ihre Meinung im letzten Augenblick doch noch geändert und würde sie mitfahren lassen. Zusammen mit den Eltern ihrer Freundinnen wünschte sie ihnen dann viel Spaß, sagte, sie sollten gesund wiederkommen, winkte dem Bus nach und hüpfte alleine zurück zur Schellinglaan mit den Bürgersteigen und den Mäuerchen und den Bäumen. Corrie amüsierte sich auch allein, denn schließlich gab es genug Frösche in den Wiesen, die das Dorf umgaben.

An den Mittwochnachmittagen musste sie sich immer eine Stunde hinlegen, denn das hatte der Arzt so verordnet. Auch der Arzt hielt sie für zu zart. Corrie glaubte dem Doktor und ihrer Mutter. Sie war recht klein, sah jünger aus als sie war, und ihre Haut war sehr hell, fast durchscheinend. Das Merkwürdige aber war, dass sie trotz ihres blassen Gesichts kaum jemals krank war und sehr gut turnen konnte. Mehr noch, klettern und Bockspringen konnte sie wie kein anderer. Sie war so schnell, dass nicht einmal die Turnlehrerin sie beim Völkerball erwischte. „Komm her, du Wildfang“, rief die Lehrerin dann, wenn Corrie mal wieder mit rasender Geschwindigkeit unter einem Bock hindurchgesaust war. „Kommst du wohl her!“ Aber Corrie war schon längst woanders.

Ein Kind, das gerne draußen ist und gut ist im Turnen, kann gut mit auf Klassenfahrt, würde man meinen. Aber gerade da lag das Problem, denn es wurde nicht darüber gesprochen, zumindest nicht mehr als notwendig. Corrie bat auch nie um Süßigkeiten oder um etwas anderes, vielleicht eine Umarmung, kurz auf Mutters Schoß, eine Geste der Zuneigung, ein kleines Lob. Corrie bat nicht darum und bekam es auch nicht, nie, denn sowas gab es einfach nicht. Die Wärme ihrer Mutter war ebenso unerreichbar wie ein eigener Platz im Haus. Ihre Schwestern Kitty und Willy, zwölf und zehn Jahre älter als sie, und ihr sechs Jahre älterer Bruder Jimmy hatten alle ein eigenes Zimmer, aber Nachzüglerin Corrie nicht. Sie schlief bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr im Bett ihrer Mutter. Das Zimmer, das eventuell ihres hätte sein können, wurde vermietet. So versuchte ihre verwitwete Mutter in dem wohlhabenden Dorf Voorburg mit seinen reichen Bewohnern durchzukommen. Das Badezimmer im ersten Stock wurde von den Mietern als Küche benutzt. Die Familie Den Held wusch sich unten am Spülstein. Der Außenwelt blieb das verborgen, und wenn man vor dem Haus stand, konnte man davon auch nichts sehen, das war angenehm.

Die Häuser in der Schellinglaan waren neu. Mit den weißen Wänden und roten Dachziegeln erfüllten sie die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit der prosperierenden Mittelklasse aus der sich immer weiter ausbreitenden Stadt Den Haag. Auch die Familie Den Held stammte aus Den Haag, wo sie in der Dintelstraatnach dem Tod von Corries Vater auch Zimmer vermietet hatte. Es gehörte sich für Mütter nicht, arbeiten zu gehen, schon gar nicht in den Kreisen, zu denen Corries Mutter gerne gehören wollte. Sie selbst war eher bescheidener Herkunft. Ihr Vater war Schreiner im Rotterdamer Hafen gewesen, bis seine Arbeit, die aus der Herstellung von Flaschenzügen und anderen Schiffsutensilien bestand, von Maschinen übernommen worden war. Ihre tausend Gulden Witwengeld hatte sie nach dem Tod ihres Mannes in das Haus in der Schellinglaangesteckt, weshalb die Familie nun inmitten von Notaren und spezialisierten Ärzten lebte.

Corries Mutter kämpfte um die Wahrung ihres Gesichts, um die Fassade gepflegter Kleidung, um ein standesgemäßes Haus. Der Rest schien ihr Nebensache, als müsste der Aufstieg ihres jung verstorbenen Ehemannes mit aller Macht gefestigt werden. Es war sowohl für sie als für Arie den Held ein Schritt ins Ungewisse gewesen, aus der rauen Hafenstadt Rotterdam nach Den Haag mit den Büros und mit so etwas wie Zukunft zu ziehen. Ein Schritt aus einem Umfeld geschulter Handwerker in das von Beamten und Juristen. Obwohl auch Rotterdam am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts rasch wuchs, entwickelte sich Den Haag mit den internationalen Gerichtshöfen und Regierungsinstanzen ganz anders, war vor allem aber vornehmer.

Als der erhoffte gesellschaftliche Aufstieg durch den frühen Tod von Corries Vater schon bald endete, blieb ihrer Mutter wenig anderes übrig als den schönen Schein weiterhin aufrechtzuerhalten. Und wenn neue Bekanntschaften möglicherweise Schamgefühle hätten hervorrufen können, weil den gängigen Normen in Voorburg nicht entsprochen werden konnte, war die Isolation eine sichere Variante. Corries Mutter gab sich daher auch nicht sonderlich viel Mühe, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Eigentlich kam so gut wie niemand bei ihnen zu Besuch. Dies zum Bedauern von Corrie, die Gesellschaft so sehr mochte. Mit den Nachbarn wurde kein Kontakt geknüpft, und Freunde gab es kaum. Manchmal brachten Corries ältere Schwestern und ihr Bruder Freunde oder Freundinnen mit nach Hause, und glücklicherweise besuchten Tante Marie, eine Schwester ihrer Mutter, und ihr Mann Herman sie immer an den Geburtstagen. Wenn sie klingelten, hatte der Spaß für Corrie schon begonnen, denn sie mochte Besuch sehr gerne. Ein Onkel und eine Tante im Wohnzimmer, jemand, der sich nach ihr erkundigte, das baute sie auf.

Ansonsten hatte es die Familie den Held nicht so mit Geburtstagen. Mit Geschenken übrigens auch nicht. Vielleicht sang man ein Lied, wenn jemand Geburtstag hatte, aber viel dürfte es nicht gewesen sein. Zumindest zu wenig, als dass Corrie sich später noch daran erinnert hätte. Ihre Mutter hielt nichts von Singen. Sie tat es selbst auch nie. Doch, ein einziges Mal. Corrie würde nie vergessen, dass sie eines Tages aus der Schule kam und dachte: „Was ist das? Mama singt?“ Diese Ausnahme der Regel hatte Eindruck auf sie hinterlassen.

Corrie hingegen sang ständig, und deshalb war es für sie auch keine Strafe, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Die Familie besuchte die reformierte Kirche an der Parkweg mit ihrem spitzem Turm und dem Schiff mit schlanken hohen Fenstern, weiß bemalten Holzlaibungen, eine freundliche Kirche mit einem menschlichen Gesicht. Und vor allem wurde gesungen. Noch mehr Spaß hatte Corrie in der Sonntagsschule. Sie wurde geleitet von einer Frau, die wie ihre Mutter alleinerziehend war und die sie vom Zigarrenladen kannte. Sie konnte toll Geschichten aus der Bibel und von dem Vater erzählen, der seine Kinder alle liebte. Dieser Vater war überall, und er sah und verstand alles. Solche Geschichten machten Corrie glücklich. „Siehst du“, dachte sie dann auf dem Weg nach Hause, „ich habe nämlich doch einen Vater.“

Ihr eigener Vater, Arie den Held, war zwei Monate vor ihrer Geburt gestorben. An ihrem zehnten Geburtstag kehrte er kurz zurück. Vor dem Schlafengehen machte sie das Licht aus, und im selben Moment sah sie eine schwarze Melone. Vor lauter Schreck traute sie sich nicht, das Licht wieder einzuschalten. Sie schlief ein, und am nächsten Morgen sagte ihre Mutter: „Dein Vater trug immer eine Melone. Er hat dich besucht.“

Es war schwer herauszufinden, wie er gewesen war. Ihre Mutter sagte nahezu niemals etwas anderes, das persönlicher gewesen wäre als ‚sprich mit zwei Wörtern‘ oder ‚zieh dir Handschuhe an‘, also erst recht nichts über ihren früh verstorbenen Ehemann. Das einzige, was Corrie von ihrem Vater wusste, war sein Beruf, oder nicht einmal den. Die Information erschöpfte sich darin, dass er irgendwo im Büro gearbeitet hatte. Seinen Eltern war Corrie nie begegnet, da sie bereits vor ihrer Geburt gestorben waren.

Wenn sie ihre älteren Geschwister nach dem Wesen ihres Vaters fragte, wurde ihr ein Bild skizziert von einem sehr netten Menschen, der stundenlang mit ihnen spielen konnte. So gutgläubig Corrie auch sein mochte, das nahm sie ihnen nun wirklich nicht ab. Die Gesprächsfetzen, die sie von den Unterhaltungen zwischen ihrer Mutter und ihrer ältesten Schwester aufschnappte, enthielten Wörter wie ‚Alkohol‘, ‚aufbrausend‘ und ‚Streit‘. Das verstärkte noch das Mitleid mit ihrer Mutter, die so viel durchgemacht hatte. Unterdessen aber wusste sie immer noch nicht, wie sie über ihren Vater denken sollte. Und daran hat sich auch nie etwas geändert.

Die einzige Geschichte, die ihre Mutter ihr über ihren Vater erzählt hatte, war eine, die sie vielleicht lieber für sich behalten hätte. Es war der Sommer 1924. Corries Vater war buchstäblich todkrank, ihre Mutter etwa im fünften Monat schwanger. Sie waren am Strand von Scheveningen, und Corries Vater, der aufgrund seines Alkoholmissbrauchs ein ernstes Magenleiden hatte, schlug ihrer Mutter vor, mit weit gespreizten Beinen ins Meer zu gehen. Das Salzwasser würde den Fötus schon austreiben, meinte er, das sei für alle das Beste. Nach seinem Tod würde sie es mit drei Kindern schon schwer genug haben. Außerdem sei sie mit ihren 38 Jahren, drei Jahre älter als er, auch nicht mehr die Jüngste.

Die Geschichte endete damit, dass Corries Mutter tat, was Arie vorgeschlagen hatte, um ihn nicht zu verärgern, und zwar nur deshalb. Einen Mann mit dem Tod vor Augen hatte sie nicht verärgern wollen.

Das Meerwasser hatte seine Wirkung verfehlt, und der Fötus war herangewachsen zu einer Tochter, die für wirklich alles Verständnis hatte. Man konnte ihr jede Ungerechtigkeit angedeihen lassen, doch sie verstand es und lernte, es zu akzeptieren als etwas, das nun mal dazugehörte. Und vor allem passte Corrie immer sehr gut auf. Sie war ein Mädchen, das alles an ihrer Mutter sah, die Fältchen, ein besorgter Mund, ein verträumter Blick aus dem Fenster, der vielleicht den großen und bösen Gedanken verbarg, dass ein viertes Kind eben doch zu viel war. Sollte solch ein Geheimnis herauskommen, was würde dann mir ihr passieren? Corrie wagte nicht, daran zu denken, aber sie dachte ohnehin nicht viel nach, zumindest so wenig wie möglich. Umso mehr verdrängte sie alles, denn so kam sie besser zurecht.

Kurz gesagt bewunderte sie ihre Mutter sehr dafür, dass sie alleine vier Kinder großbrachte, ohne einen Mann, ohne Arbeit und nahezu ohne elektrische Geräte. Andere Leute hatten keine Ahnung, was für eine Leistung das war. Corrie sah den Schatten, den ständigen Schatten im Gesicht ihrer Mutter, das niemals lachen zu können schien. Auf Strandbildern sah ihre Mutter niedergeschlagen aus, und sogar auf ihrem eigenen Hochzeitsfoto konnte man ihren Gesichtsausdruck kaum ein Lächeln nennen, eher das zur Seite Schieben beider Mundwinkel nach der Bitte des Fotografen. Ihre Mutter mit dunklen, hochgesteckten Haaren und einem runden Gesicht, musste gar nicht sagen, wie schwer das Leben für sie war. Das konnte Corrie auch so sehen. Sie war empfindlich für die Verletzlichkeit ihrer Mutter, mehr als alle anderen.

Sie ging gerne für sie einkaufen. Dann nahm sie ihren Roller und fuhr durch die Schellinglaan , vorbei an dem vornehmen Park mit den hohen Bäumen und den üppigen Villen, dem Teehaus, wo sie sich in acht nehmen musste vor dem großen Schäferhund, und dann um die Ecke zu den Geschäften an der Parkweg . Diese Kurve kannte sie allzu gut, denn sie hatte hier von ihrem vierten bis zum siebten Lebensjahr gelebt. Im ersten Stock hatte sie Stunden um Stunden am Fenster gesessen und geduldig gewartet, bis ein Auto vorbeifuhr. Um 1900 war ein Automobil eine Sehenswürdigkeit, etwas vollkommen Neues, eine Art Magie. Gewissenhaft notierte Corrie die Nummernschilder der vorbeifahrenden Fords und Citroens in ihrem Heft, und dann war sie das bravste Kind der Welt. Das war für sie und ihre Mutter am besten.

Für das Aufschreiben der Autokennzeichen hatte Corrie übrigens sehr viel Zeit, denn sie hatte nie einen Kindergarten besucht. Ihre Mutter sah den Sinn eines Kindergartens nicht ein. Als ehemalige Kindergärtnerin würde sie ihrer jüngsten Tochter schon alles beibringen. Deshalb blieb Corrie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr zu Hause. Nicht, dass irgendwann mal ein Spiel gespielt oder etwas gebastelt oder einfach nur herumgetobt worden wäre. Corrie nahm ihre Mutter wahr, ihre Mutter sie aber nicht, so sah das Verhältnis im Grunde genommen aus. Kann man eine Jugend mit so einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter als positiv bezeichnen? Das geht, wenn man Corrie den Held heißt. Dann blickt man zurück in die Vergangenheit und sagt: „Ich hatte eine schöne Jugend.“

Dass Corries beide älteren Schwestern und ihr Bruder mitfahren durften auf Klassenfahrt und sie nicht, war kein Grund, sich zu beschweren. Corrie redete sich diese Benachteiligung wieder gut, so wie sie ihren Zustand immer wieder rosa einfärben zu wollen schien. Ihrer Mutter böse zu sein, war ihr nicht möglich, sie war ihr nie böse. „Mama sagt, dass ich nicht mitfahren darf, weil ich zu zart bin“, dachte Corrie, „es muss aber noch einen anderen Grund geben. Vielleicht reicht das Geld nicht, und sie möchte das nicht sagen.“

Geld war wichtig. So gab es mal einen kleinen Hund. Corrie war etwa zehn Jahre alt, als der Schäferwelpe in ihr Leben kam. Sie liebte das Tier innig. An Sommertagen lag er immer vor der Tür, wenn sie aus der Schule kam. Dieser Hund, der ihr schwanzwedelnd entgegenkam, war jeden Tag eine schöne Voraussicht. So wenig Liebe sie von den Menschen im Haus bekam, so viel bekam sie von diesem Hund. Doch als sie eines Tages nach Hause kam, war der Hund nicht mehr da. Es stellte sich heraus, dass ihre Mutter das Tier verkauft hatte an einen Mann mit einem Bollerwagen. Der Hund sollte diesen Karren von jetzt an ziehen. Wie immer zeigte die Mutter keinerlei Mitleid mit ihrer Tochter, und Corrie fraß ihren Kummer in sich hinein. Weinende Töchter können ihre Mütter unglücklich machen, und das war das Letzte, was Corrie auf dem Gewissen haben wollte.

Corries Mutter brachte ihren Kindern Manieren bei und betonte in der Erziehung die korrekte niederländische Aussprache, und immer waren Kitty, Willy, Jimmy und Corrie adrett gekleidet. Ansonsten tat sie sich schwer mit der Erziehung. Ihr Sohn, der offiziell Simon Willem hieß, von allen aber Jimmy genannt wurde, konnte sehr ungezogen sein, wie auch Kitty und Willy, die unter dem Namen Catharina Johanna und Wilhelmina getauft waren und zunächst Toosje und Mientje genannt wurden. Wenn sie aufeinander losgingen, mischte sich Corrie ein, denn dann brauchte ihre Mutter das nicht zu tun. Der Nachzügler konnte Streitereien nun mal nicht leiden, sie empfand all den Lärm als Last für ihre Mutter. Sie konnte sie nicht leiden sehen.

Cornelia Johanna den Held-Penters, geboren 1885 als Tochter einer Mutter aus Den Briel, war nach einer schlechten Ehe und dem Tod ihres Mannes eine verbitterte Frau. Nie schien sie Pläne machen zu können oder zu wollen, irgendetwas zu ändern, als wäre das Leben etwas, in dem man sich befand und das von allein vorbeigehen würde, wenn man nur lange genug wartete. Wie Corrie war auch sie früher das jüngste Kind gewesen, hieß ebenfalls Cornelia Johanna, war relativ klein gebaut und hatte ebenfalls zwei ältere Schwestern. Doch abgesehen von diesen Ähnlichkeiten hatte Corrie etwas, das ihr fehlte. Die Freude an der Begegnung. Wenn sie zusammen mit ihrer jüngsten Tochter in der Öffentlichkeit unterwegs war und kurz auf die Toilette musste, konnte sie sicher sein, dass Corrie danach nicht mehr allein war. Dann hatte sich mal wieder jemand angezogen gefühlt von der jungen Dame mit den schönen blauen Augen und dem verschämten und zugleich irgendwie einladenden Lächeln.

Als sie zwölf war, war es Corrie schon mal passiert, dass ein wildfremder Mann in Paris sie gefragt hatte, ob sie mit ihm kommen wolle. Damals, während der einzigen Auslandsreise in ihrer Jugend, hatte sie sich zu Tode erschrocken und nicht gewusst, wie sie sich verhalten soll. Doch so schockierend es war, passierte ihrer älteren Schwester Kitty so etwas nie. Kitty war nicht so hübsch wie Corrie, sie war größer und hatte nicht diese besondere Ausstrahlung. Auf sie hefteten sich keine Blicke, auf Corrie jedoch schon. Für Corrie war der Umgang mit anderen etwas Selbstverständliches.

Aus irgendwelchen Gründen schienen ihre Mutter und ihre älteste Schwester an einem Strang zu ziehen, wenn es darum ging, Corrie an der kurzen Leine zu halten. So rebellisch Kitty auch sein konnte, so widerborstig zu ihrer Mutter, waren sie sich in diesem Punkt offenbar einig. Kitty wurde immer das Beste und das Schönste gewährt. Wenn sie ein Geschenk bekam, war das etwas Schönes. Wenn Corrie etwas geschenkt bekam, konnte ihre Mutter so tun, als sei sie es gar nicht wert, überhaupt ein Geschenk zu bekommen. Die Bemerkungen schienen direkt aus den Märchen der Gebrüder Grimm zu stammen, aus einer Welt voller böser Stiefmütter, die ihren hübschesten Töchtern das neideten, was ihnen versagt worden war.

Auf dem Roller unterwegs zum Metzger überlegte Corrie, dass ihre Mutter sie sehr wohl liebte. Natürlich tat sie das, denn schließlich lieben alle Mütter ihre Kinder. Nur ihre konnte das eben nicht so zeigen.

Ihre zweitälteste Schwester Willy war meistens freundlich zu Corrie, ging aber ihre eigenen Wege. Und Jimmy war ein Junge, der viel Aufmerksamkeit brauchte und andere keineswegs unterstützen konnte. Er war ein ruheloses Kind und musste regelmäßig aus der Schule abgeholt werden, weil man mit ihm in geschlossenen Räumen nicht fertig wurde. Jimmy trieb sich viel auf der Straße herum. Um Corrie kümmerte sich niemand.

Als sie mit fünfzehn endlich im Zimmer von Kitty statt bei ihrer Mutter schlafen durfte, war ihr Bett lediglich ein altes Sofa mit Beulen und Huckeln. Es war nicht bequem, aber sie konnte schlafen, das war die Hauptsache. Die Unebenheiten ihres Bettes ertrug sie genau so leicht wie die Bemerkungen ihrer Mutter und die Bevorzugungen von Kitty. Auch wenn Corrie mit ihren Heften und Büchern im Wohnzimmer vor den Augen ihrer Mutter ihre Hausaufgaben machte, wurde sie nie abgefragt. Das war auch nicht nötig, denn das erledigte sie allein.

Sie war kein Kind, das meinte, dass es zu kurz kam. Gedanken an Freundinnen, die beim Tee gemütlich mit ihren Müttern plauderten, oder an ihren Vater, der ihr, wenn er noch gelebt hätte, vielleicht einen eigenen Platz im Haus gegönnt hätte, hatte sie nicht. Außerdem gab es genug fröhliche Augenblicke, wie sie fand. Da gab es jeden Tag die Abendmahlzeiten, die für Corrie immer wieder ein Höhepunkt waren. Alle Familienmitglieder am Tisch, das mochte sie, und dann erzählte sie von Erlebnissen in der Schule und mussten alle herzlich lachen. Und Mittags gab es das Radio. In den Dreißigerjahren war ein Radio eine kleine Sensation, und die Familie Den Held war mit der Anschaffung eines Apparates früh dran gewesen. Deshalb rannte Corrie um zwölf Uhr so schnell sie konnte nach Hause. Mit ein wenig Glück konnte sie The Ramblers lauschen, einem Orchester, das ein aus Amerika herübergekommenes Musikgenre spielte, das Jazz genannt wurde und in Corries Ohren sensationell klang. Irgendwo in den aufgeweckten Rhythmen und den schelmischen Trompetenklängen steckte etwas, dass sie kannte. Es war Lebensfreude, die Aufforderung, nach vorne zu blicken, morgen würde alles besser sein als heute. Und wenn sich das nicht bewahrheitete, konnte man seine Hoffnungen wieder auf den nächsten Tag richten.

Im Krieg zog die Familie um von Voorburg nach Wassenaar. Die Folge war, dass Corrie mit sechzehn Jahren die Schule wechseln musste. Die Schule, die sie die drei Jahre zuvor besucht hatte, war mehr als zehn Kilometer entfernt von dem Haus, in dem sie ab jetzt leben würden. Allein ging Corrie zur Schule auf der anderen Seite der Rijksstraatweg im Viertel Den Deyl . „Mein Name ist Corrie den Held“, sagte sie. „Ich möchte mich gerne anmelden.“ Sie hatte ihr Zeugnis dabei, um zu zeigen, dass sie versetzt worden war. So tauschte sie ihre alte Schule auf vertrautem Terrain – De Vliet , das von Weiden gesäumte Wasser zwischen Oude Rijn und daneben der Maas – gegen eine unbekannte Schule in einem anderen Ort. Dafür, dass sie alleine zur Anmeldung fahren musste, konnte ihre Mutter nichts, fand sie, denn die konnte nicht Fahrrad fahren.

Corrie verstand, dass ihre Mutter ihre Wohnung in der Schellinglaan nach der deutschen Invasion loswerden wollte. Am 10. Mai hatten direkt über Voorburg Kampfhandlungen stattgefunden. In den Feldern auf der anderen Seite von De Vliet waren Fallschirmjäger gelandet und an der Schießbahn der Bürgerwache, fünf Gehminuten von ihrem Haus entfernt, war ein englisches Flugzeug brennend abgestürzt. Die Familie Den Held hatte gezittert vor Furcht. „Was ist denn bloß los?“ hatte Corrie gefragt.

„Es ist Krieg“, lautete die Antwort.

Später an jenem Tag schlichen niederländische Soldaten entlang der Mäuerchen, auf denen Corrie so oft herumgehüpft war. Die Flugzeuge kamen immer wieder, und es schien, als würden die Sirenen nie verstummen. Auf der anderen Seite der Stelle, an der das englische Flugzeug als Flammenwolke niedergegangen war, wurde an einem verbarrikadierten Viadukt gekämpft. Und angesichts der Nähe zum Binnenhof mit dem Parlament und der Flugplätze Valkenburg und Ockenburg rechnete Corries Mutter auch nach der Kapitulation am 15. Mai mit Luftangriffen. Ihr Argument: „Eine einzige Bombe auf unser Haus, und wir verlieren alles, was wir haben.“ Das Haus verkaufen, den Erlös auf die Bank zu setzen und eine neue Wohnung zu mieten schien ihr die größere Sicherheit zu bieten.

Das Haus an der Schellinglaan wurde mit Verlust verkauft, aber in Wassenaar gab es ein Haus zu mieten, das groß genug war, um Zimmer untervermieten zu können. Es war großzügig, angenehm und zweckmäßig, und natürlich standesgemäß. Auch das war ein Ort mit anständigen Menschen, in dem der Schein gewahrt werden musste, dass die Familie Den Held dort hingehörte.

Wie die meisten anderen Niederländer rappelte sich die Familie Den Held nach der deutschen Invasion rasch wieder auf und versuchte, ein weitestgehend normales Leben zu führen. Das konnte man der Jüngsten der Familie ruhig überlassen. Der Umzug und die Eingewöhnung in der neuen Schule fielen Corrie recht leicht. Sie schaffte ohne Probleme ihren Realschulabschluss. Das war einerseits kein Zufall, weil Tests in der Grundschule bereits ausgewiesen hatten, dass sie intelligent genug war für eine höhere Schulbildung, die sie jedoch nicht hatte genießen können, weil ihre Mutter der Meinung war, sie sei zu schwach dafür. Und anderseits waren Hausaufgaben für Corrie immer eine Art Ablenkung gewesen. Sie hatte sie immer gerne gemacht.

Nach der Realschule machte sie in den Abendstunden bei den Nonnen im Kloster am Ende der Langstraatin Wassenaar einen Kurs in Stenographie und Schreibmaschine. Zu dieser Zeit wurden Mädchen oft Sekretärinnen, und sie eben auch. Nach einer sehr enttäuschenden Stelle, in der sie für dreißig Gulden im Monat in einem Beratungsbüro in Den Haag Umschläge adressieren musste, fand Corrie einen passenden Arbeitgeber für sich. Beim staatlichen Beschaffungsbüro an der Koninginnegracht wurde sie Stenotypistin, was ihr besser gefiel, denn hier musste sie nicht ständig am Schreibtisch sitzen. Oft musste etwas zur Poststube gebracht werden, durch Gänge, über Treppen, und sie sang währenddessen sehr viel. Zudem verdiente sie jetzt doppelt so viel wie vorher, was ihrem Status zu Hause zu Gute kam. Von ihrem Monatseinkommen von 65 Gulden verschwanden sechzig im Geldbeutel ihrer Mutter. Unnötig zu erwähnen, dass kein Wort des Danks gesprochen wurde und Corrie das auch nichts ausmachte.

Was machte es schon? Sie hatte Spaß an ihrer Arbeit, und ihre Schwestern trugen schließlich finanziell ebenfalls zum Haushalt bei. Darüber wurde nicht gesprochen, so wie auch sonst über nichts gesprochen wurde. „Mama möchte schön wohnen“, dachte Corrie. „Sie kann die Miete kaum bezahlen, schafft es aber trotzdem immer wieder. Und sieh doch, wie einsam sie ist mit all den Kindern. Das ist bewundernswert.“

Sie liebte einen Kriegsverbrecher

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