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43 – Elektra hielt es nicht …

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… mehr aus. Sie sprang auf. »Bitte, Silvana, lass uns noch ein paar Schritte gehen. Ich kann hier nicht mehr sitzen.«

Silvana nickte und war ebenfalls gleich auf den Beinen. Sekunden später waren sie zurück auf der Straße. Dunkel und leer war es in der Stadt geworden.

»Wollen wir zum Hafen? Vielleicht noch eine Kleinigkeit essen?«

Wieder nickte Silvana nur.

»Oder möchtest du nicht doch lieber gehen?«

Nein, bestimmt nicht, dachte Silvana. Sie fühlte in der Zwischenzeit eine merkwürdige Verantwortung für diese Frau, die vielleicht das erste Mal in ihrem Leben so offen über sich sprach. Und als Antwort hakte sie sich bei Elektra ein. Merkwürdig, wie leicht mir all das fällt.

Und schweigend gingen sie los.

Lange hallte nur das Klackern ihrer Absätze von den Wänden der Häuser wider. Ein junges Pärchen huschte an ihnen vorbei und verschwand küssend und beglückt in einer dunklen Seitengasse. Irgendwo bellte ein Hund und weit vor ihnen fuhr ein Auto hupend los.

Bald schon saßen sie dann in einem Bistro am Hafen und aßen Fingerfoods. Und Elektra erzählte schließlich weiter. Vom zweiten Oktober.

»Bella war einen Tag in L. A. gewesen. Irgendwas erledigen, hatte sie gesagt. ›Nichts Wichtiges‹, wie sie schwor, was nicht wirklich richtig, aber auch nicht falsch war.

Als sie wieder zurück war, ich hatte sie vom Flughafen abgeholt, da war sie völlig verändert. Sie schien innerlich tot zu sein. Und wie sich dann sogleich herausstellte, schien es nicht nur so. Ich hatte furchtbare Angst um sie.«

Nachdenklich blickte Elektra auf ein Sardellen-Oliven-Häppchen, und leise fuhr sie fort: »Sie war bei einem Frauenarzt gewesen, wollte sich erkundigen, wie das mit einer künstlichen Befruchtung so vor sich geht. Aber bei einer Routine-Untersuchung, die gleich mitgemacht wurde, ergab sich dann, dass ihre Frage für sie keine Antwort nötig hatte.« Wieder stockte Elektra, atmete tief durch und fuhr dann leise fort: »›Ich werde keine Kinder bekommen können. Ich bin fünfundzwanzig und kann keine Kinder bekommen‹, hatte sie mir heulend ins Ohr geflüstert und war schon am Flughafen direkt in meine Arme gefallen.

Ich hatte versucht, sie zu beruhigen. Doch das war nicht möglich. Und am Ende des Tages kam es dann zu einem entsetzlichen Streit, der, und das glaube ich heute noch, leider wohl noch immer nicht gänzlich beigelegt ist.« Elektra schloss die Augen und ergänzte leise: »Um ihr meine Liebe zu beweisen, wollte sie … sollte ich ein, nein, … sollte ich unser Kind bekommen. Unser Kind! Das … das war mir zu absonderlich. Verstehst du das, Silvana?«

Silvana nickte. Also so war das: Bella wollte das Kind! Und sie sagte: »Und deshalb diese verrückte Sache mit Raymond? Entschuldige bitte meine Direktheit.«

»Er hat es dir erzählt?«

»Ja.«

Verlegen sah Elektra Silvana an, und sie lenkte kurz ab. »Dann seid ihr wohl tatsächlich sehr eng miteinander, oder?«

Eng miteinander! Was für eine eigentümliche Beschreibung für eine Liebesbeziehung, dachte Silvana. Und sie sagte nur: »Ja, das sind wir.«

Aber wie dieses »Engsein« genau aussah, davon wollte sie heute nichts erzählen. Elektra und ihre Bella standen hier im Mittelpunkt … nichts anderes.

»Ja, und deshalb diese verrückte Sache mit Raymond«, wiederholte Elektra nachdenklich leise Silvanas Frage als Antwort.

»Und deshalb ist Bella jetzt weg?«, fragte Silvana kaum vernehmbar.

»Nein, nein. Eigentlich haben wir uns längst versöhnt, hatte ich geglaubt. Jetzt ist sie in New York, weil sie ihre Zelte dort endgültig abbrechen wollte und dann … Spätestens übermorgen wollte sie zurück sein. Nun fliegt sie aber morgen nach Miami. Eine erste kleine Rolle. Sie ist Schauspielerin.

Sie sagt, dass sie zurückkommt, aber ich … Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll.«

Elektra erzählte ihr nun noch, dass Bella schon beinahe zwei Wochen weg war. »Und erst in zwei Wochen wird sie wieder bei mir sein. Das ist entsetzlich. Ich bin so … so unsagbar hilflos. Und ich habe Angst. Vielleicht kommt sie ja nie zurück.

Verstehst du mich jetzt?«

Silvana nickte wieder nur.

Und kaum hörbar, wobei sie verstohlen auf ihren Teller blickte, sagte Elektra: »Ich weiß nicht warum, aber ich musste dir das alles erzählen. Obwohl … Noch nie hab ich so mit einem Menschen gesprochen. Über mich. Über meine tiefsten Ängste. Auch kann ich mir nicht vorstellen, je mit einem anderen Menschen all das …« Sie hob den Kopf und sah Silvana nun flehend an: »Und bitte, lach nicht. Ich weiß, das, was ich dir jetzt noch sagen möchte, klingt vielleicht entsetzlich eigenartig, aber das ist es nicht … zumindest nicht für mich.

Du, und nur du, bist mir, meiner Seele unsagbar nah.« Sie zuckte unsicher und verschämt die Achseln. »Das klingt doch wirklich verrückt, oder?

Ich liebe Bella. Nur sie. Und du … du bist mir dennoch bald näher, als ich es mir selbst bin. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken sollte. Verrückt, oder?«

Noch einmal stockte sie, doch ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Und jetzt sag, bitte, und ehrlich, wie ist das gerade für dich? Wie … wie fühlst du dich? Vielleicht … benutzt?«

Benutzt? Um Gottes willen. »Nein, bestimmt nicht. Auch möchte ich, dass du weißt: Nie werde ich mit irgendjemandem über all das hier sprechen. Nie!«

Ihr würde sowieso kein Mensch glauben. Eine solche Seelenbeichte – diese offenen Worte kamen wohl einer solchen Beichte sehr nahe –, wie sie sie eben erlebt und gehört hatte, war selbst zwischen sehr vertrauten Menschen kaum möglich. Selbst mit Mel hatte sie nie so offen gesprochen, zumindest konnte sie sich spontan nicht daran erinnern. Und Mel war ihre beste Freundin gewesen.

Doch wie kam es hier dazu? Lag es an ihr? Gab es etwas an ihr, in ihr, das diese Offenheit anderer Menschen heraufbeschwor?

All die Menschen auf dem Gutshof, die sie Heiligsprechen lassen wollten, würden Ja sagen. Und merkwürdig war, dass Silvana heute selbst nicht mehr bereit war, grundsätzlich Nein dazu zu sagen. Warum und was es aber genau war, das sie an sich hatte, das wusste sie leider noch immer nicht. Doch war das wohl jetzt auch nicht wichtig.

»Ich danke dir, Silvana«, unterbrach Elektra Silvanas Gedanken. Voller Angst hielt sie ihren Blick auf Silvana gerichtet. »Und … was sagst du?«

Was ich sage? Diese Frage traf Silvana ziemlich unvermittelt. Ich weiß nicht! Was soll ich sagen? Was will sie hören?

Einen langen Moment überlegte Silvana, trank einen Schluck Pinot Grigio und spürte, dass Elektra wohl auf mehr als nur ein paar tröstende Worte von ihr wartete. Es fühlte sich beinahe so an, als würde sie auf einen Ratschlag, mehr noch, auf ein »Lebensrezept« warten. Sie hatte gebeichtet und nun sollte der »Sündenerlass« erfolgen. Durch sie, durch Silvana.

Aber stand ihr ein solcher »Sündenerlass« überhaupt zu? Waren sie in diesen letzten zwei, drei Stunden tatsächlich zu zwei Menschen geworden, die einander so sehr vertrauten, dass sogar ein »Sündenerlass« möglich sein könnte? Wäre das nicht eher anmaßend?

Für sie, für Silvana, war seit ein paar Monaten vieles möglich, das für normale Menschen unmöglich erschien.

Aber galt das hier auch?

»Warum fliegst du nicht zu ihr, zu deiner Bella?«, fragte Silvana schließlich sehr unverfänglich. Fraglos kein »Sündenerlass«, eher ein sinnfälliger Rat, auf den die Frau vor ihr sicher schon selbst gekommen war. Aber egal. Irgendwo musste Silvana einen Anfang setzen, auch um zu sehen, ob ein »Sündenerlass« tatsächlich gewünscht war.

Elektra atmete schwer. »Das geht nicht. Aber das jetzt zu erklären, wäre zu … Glaube mir, es geht einfach nicht. Ich darf nicht.«

Ich darf nicht? Wie merkwürdig. Ich darf nicht klang beinahe wie eine plumpe Ausrede, die irgendwie nicht zu den letzten Stunden und zu der Beichte dieser erwachsenen Frau passen wollte. Aber Silvana wollte nicht insistieren.

Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, stieg ein entsetzlicher Argwohn in ihr auf. War Elektra etwa gekommen, um …? Wollte sie sich bei Raymond am Ende nicht nur entschuldigen? Ging es noch immer um das Kind? … für Bellas Seelenfrieden?

Nein, der Gedanke schien, nach allem, was in den letzten Stunden zwischen Elektra und ihr entstanden war, zu absurd. Dennoch … Die »gehässige Elektra« saß noch immer in Silvana.

Aber vielleicht, wenn sie vorsichtig …?

»Elektra, entschuldige bitte mein etwas merkwürdiges Ansinnen«, begann sie dann auch äußerst bedachtsam, zumindest glaubte sie, ihre Worte mit Bedacht gewählt zu haben, »das mir eben durch den Kopf geht, aber ich muss dich das jetzt fragen: Wenn all das Schreckliche, nicht das vor langer Zeit Erlebte, sondern das, was dich wohl gerade umtreibt, eigentlich nur mit Bella zu tun hat, warum bist du dann hier? In Konstanz? Wohnst du jetzt hier irgendwo in der Nähe? Oder willst du dich nur ablenken und dich bei der Gelegenheit bei Raymond entschuldigen?«

Ihre Worte waren dann wohl doch etwas zu hart gewählt, vielleicht auch zu unbeholfen, und sie waren damit auch gewiss von einem »Sündenerlass« weit entfernt.

Elektra hob den Blick und sah Silvana lange in die Augen, schließlich zuckte sie die Achseln, und sie sagte: »Ich weiß, das alles klingt sehr merkwürdig. Aber ja, ich wollte und will mich bei ihm nur entschuldigen. Ich möchte nach allem, was ich hier verursacht habe, nicht erneut einfach so verschwinden … nach Zürich. Dort lebe ich jetzt.

Ich möchte wiederkommen dürfen, ohne mich dann schämen zu müssen. Ich möchte auch keine mit Schuld bepackten Albträume bekommen, wie damals, die dann wieder nur zögerlich verschwinden. All das möchte ich nicht noch einmal erleben, schlimmer noch … nicht noch einmal durchleben.

Ich weiß, das klingt jetzt bestimmt wieder furchtbar theatralisch, aber so fühle ich mich.

Vielleicht wäre ein Gespräch mit Raymond vor Stunden noch anders verlaufen, nein, sicher wäre es das. Aber das ist vorbei.«

Ein kleinmütiges Lächeln huschte Elektra über das Gesicht, während sie erneut die Achseln zuckte.

»Und außerdem …«, fuhr sie fort, griff in ihre Handtasche und zog ein paar Papiere hervor.

Ein Klingelton, den Silvana bestimmt schon zwei-, drei- oder gar viermal vernommen hatte, lenkte sie kurz ab. Denn dieses Klingeln – es war der Klingelton eines Smartphones – kam aus Elektras Handtasche. Elektra, die es bestimmt auch hörte, schien es nicht zu stören.

»Hier«, sagte sie nur und schloss rasch ihre Tasche. »Das sind die Urkunden für die zwei Obstbaumwiesen. Die Wiesen gehören jetzt Raymond. Die Urkunden wollte ich ihm morgen geben. Oder irgendwann per Post schicken. Aber vielleicht, wenn du mir diesen Gefallen erweisen würdest …?

Ich bin mir ziemlich sicher, Raymond hat kein großes Interesse, mich noch einmal zu sehen. Ich könnte es ihm nicht einmal verübeln.

Doch er soll wissen, dass mir alles sehr, sehr leidtut. Wenn du ihm das ausrichten würdest. Und er möge mir all das, was ich hier und … egal … was ich verursacht habe, nicht mehr nachtragen. Würdest du das für mich tun?«

Ja, natürlich würde Silvana das. Keine Sekunde musste sie darüber nachdenken. Auch war sie sich ziemlich sicher, dass das wohl im Moment der richtige Weg sein würde.

Und das erste Mal konnte Silvana verstehen, dass Raymond dieser Frau einmal sehr nahegestanden hatte. Diese Seite an ihr, diese erschöpfende Empathie, die sie jetzt zeigte, war wahrlich liebenswert.

»Und noch etwas, wenn ich schon dabei bin. Ich möchte mich auch bei dir endlich in aller Form entschuldigen. Für alles. Für meine Frechheiten, für all die Beschimpfungen und besonders für das Chaos, das man vor Wochen in deiner Wohnung verursacht hat. Ich … All das tut mir heute schrecklich leid.«

Silvana nickte nur. Dieser merkwürdige Vorfall hatte sie damals schon nicht sonderlich in Panik versetzt, auch hatte sie jetzt nur noch das Entsetzen ihrer Mutter vor Augen, die damals ihren Trost nötiger als sie selbst gehabt hatte. Alles andere war längst vergessen.

Sie wollte kein Wort mehr darüber verlieren, etwas anderes war jetzt viel wichtiger: »Sag, was hast du nun vor, bis deine Bella zurück ist?« Vielleicht war ein Blick nach vorn der beste, der einzig wirkliche »Rat«, den Silvana Elektra jetzt geben konnte.

»Nichts!«, antwortete Elektra, ohne lange zu überlegen, zuckte dabei die Achseln und ließ ihren Blick stumm auf den Tisch fallen.

Nichts? Nur ein Wort! Silvana wollte es kaum glauben. Was für ein vernichtendes Urteil über sich selbst.

»Was hast du denn in den letzten Tagen gemacht, seit Bella weg ist?«

»Auch nichts. Gewartet.«

Silvana schüttelte innerlich den Kopf. Mit so viel … ja, was war es? Angst? Selbstmitleid? Selbstverachtung? Lebensverneinung? … hatte sie nicht gerechnet.

Vor ihr saß eine wunderschöne Frau, intelligent, eloquent, die die Blicke nur so auf sich zog, die zudem wohl auch noch unsagbar reich war, die aber dennoch scheinbar mit ihrem Leben nichts anfangen konnte? Sicherlich, sie hatte viel Entsetzliches erlebt, aber auch viel Schönes. Dennoch schien das Entsetzliche, das Albtraumhafte sie zu bestimmen.

Wie traurig, bedrückend und düster das doch war.

Und plötzlich kam Silvana ein anderer Gedanke: War sie, war Elektra am Ende einer dieser Schatten, der auf sie wartete?

Konnte das sein?

Einen kurzen Moment sah sie sie etwas genauer an. Nein, sie konnte keinen Schatten entdecken.

O mein Gott, wie töricht sie doch manchmal war, etwas sehen zu wollen, was sie längst schon wahrgenommen hätte.

Und sie lächelte abfällig. Über sich. Über ihre Naivität.

»Was ist? Was hast du?«, fragte Elektra unsicher, mit einem nach Hilfe suchenden Blick, der versuchte, dieses Lächeln zu verstehen.

»Nichts weiter«, sagte Silvana nur, denn etwas anderes ging ihr plötzlich durch den Kopf, etwas, das vielleicht tatsächlich eine Hilfe sein könnte, und sie fuhr fort: »Was würdest du tun, wenn deine Bella jetzt hier wäre?«

Sekundenschnell veränderte sich Elektras Miene. Sie strahlte plötzlich.

»Ich … Wir … wir würden unser Leben genießen. In unserem gemeinsamen Zuhause. Und wir würden umherfliegen. Mal hierhin, mal dorthin. Wir würden uns Städte ansehen. Immer für ein, zwei Tage. Und anfangen würden wir mit Istanbul. Dort soll es wunderschön sein, hat man mir erzählt. Istanbul, die Stadt am Bosporus, an der Trennlinie vom Orient zum Okzident«, sprudelte es aus ihr heraus. Und mit verklärtem Blick ergänzte sie: »Ja, das würde ich, das würden wir tun. Zusammen.«

Was für eine Antwort. Was für Träume, so einfach, so schnell erfüllbar, zumindest für die Frau hier vor ihr. Warum also … wartete sie nur?

»Und warum machst du das nicht dann schon einmal … allein?«

»Allein? Wozu?«

»Für dich.«

»Allein. Für mich? Das ist Unsinn. Nein, das wäre kein … kein Vergnügen. Das geht auch gar nicht. Auch würde mich zu viel an mein früheres ›Umherirren‹ erinnern.«

Ja, damit hatte sie wohl recht. »Dann mach es nicht allein. Gibt es denn sonst niemanden in deiner Umgebung, der dich …?«

»Nein. Doch. Natürlich …«

Silvana schrak zurück, vor ihrer Frage, die ihr plötzlich einen haarsträubenden Gedanken mitten in den Kopf setzte. Bitte, sag jetzt nicht, dass ich das bin.

»Da gibt es zwei Hausmädchen, meinen Fahrer und dann noch Maria, meine …« Elektra lächelte verschmitzt. »… meine mütterliche Privatsekretärin.

Wenn sie das jetzt gehört hätte, hätte sie sicherlich wieder schweigsam und verschämt den Blick fallen gelassen.

Sie liebt mich. Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin die Tochter, die sie nie bekommen hat. Und hörst du …?« Wieder war dieses Klingeln aus ihrer Tasche vernehmbar. »Das ist sie. Wir sind … na ja, ich war nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Beleidigt hatte sie sich zurückgezogen. Ich bin dann augenblicklich verschwunden. Das war Donnerstag. Und jetzt macht sie sich Sorgen. Sie hat seitdem bestimmt schon mehr als zwanzigmal versucht, mich zu erreichen.«

Diese Worte machten Silvana traurig. Irgendwie wollten sie nicht mehr zu der Frau passen, die sie in den letzten Stunden kennengelernt hatte. Dennoch gab es sie, wird es sie wohl immer geben, diese andere Elektra – mit all der Unbeständigkeit ihrer Gefühle. Menschen sind so, hörte sie eine Stimme in sich. Ja, die Menschen waren so.

»Was hast du, Silvana?«

»Ach, nichts.«

»Doch bitte, sag es mir.«

»Na gut: Warum tust du das?«

»Was? Was tue ich?«

»Menschen, die dir wohlgesonnen sind, die dich vielleicht sogar aus tiefster Seele lieben, vor den Kopf stoßen?«

Elektra senkte den Blick. Und sie schluckte trocken. Silvanas Worte hatten sie offensichtlich tief im Herzen getroffen.

»Es tut mir leid.«

»Sag das nicht mir, sag es ihr, deiner Maria.« Noch vor Stunden hätte es diese Worte nicht gegeben.

Beinahe wie bestellt, klingelte es wieder in Elektras Tasche.

Elektra nickte Silvana zu – dann werde ich das jetzt machen, sollte das wohl heißen – und zog ihr Smartphone hervor. Und im Moment, als sie das Gespräch annehmen wollte, blickte sie noch einmal kurz auf das Display, und sie erschrak.

»Es ist nicht … Es ist Bella!«

Und sie sprang auf.

»Bella, schön dass du …« – »Zehnmal schon?« – »Nein, ich hab nichts gehört. Du weinst ja! Was ist passiert?«

Und dann hörte Elektra einen langen Moment nur zu. Der Mund, die Augen, alles eben noch angespannt, begann sich zu lösen.

Silvana begriff nun, wie sehr Elektra ihre Bella wohl liebte. Ja, es war Liebe.

Minuten später, kurz nachdem Elektra ein weiteres Telefonat geführt hatte, sich bei Maria tatsächlich entschuldigt und sie bei der Gelegenheit auch noch mit ein paar »Aufträgen« betraut hatte, verließen sie das Bistro.

Elektra schien zu schweben.

»Bella kommt zurück. Jetzt. Direkt aus New York. Maria kümmert sich gerade um alles.«

»Und was ist mit Miami?«

»Das hat sich zerschlagen«, sagte Elektra mit einem beiläufigen Lächeln in der Stimme.

Zerschlagen. Was für eine unscheinbare Bemerkung. Bellas Traum hatte sich für heute zerschlagen. Am Telefon hatte sie wohl darüber geweint. Und hier …? Hier sah Silvana ein Lächeln über dieses albtraumhafte Unglück, das es für die Frau in New York sicherlich gegeben hatte.

War das Liebe?

Silvana schwieg. Auch innerlich.

Zehn Minuten später waren sie wieder vor Elektras Hotel.

»Ich danke dir, Silvana. Ohne dich … Nein, Worte können kaum ausdrücken, was ich empfinde und was du für mich getan hast, zumindest keine Worte, die mir jetzt einfallen würden.

Ich bin dir von ganzem Herzen und aus tiefster Seele dankbar. Und hier«, sie reichte Silvana ein Kärtchen. »Dort findest du meine private Mobilnummer. Für den Fall, dass du einmal meine Hilfe brauchen solltest. Und nicht nur dafür. Ich würde mich freuen, wenn du dich bei mir melden würdest. Ich weiß noch so gar nichts von dir. Doch wüsste ich gern viel mehr, auch würde ich dich gern wahrhaftig kennenlernen. Aber vielleicht … Ja, ich denke, Raymond würde das vielleicht nicht gefallen.

O mein Gott, wie kompliziert das alles doch ist. Obwohl … Ganz unschuldig daran bin ich wohl leider nicht. Es tut mir schrecklich leid.« Traurig sah sie Silvana an, doch der Blick änderte sich sogleich, wurde leutselig und mit fester Stimme sagte sie: »Am besten gibst du die Nummer direkt bei dir ein und rufst mich eben an. Dann kann ich dich gleich richtig abspeichern.«

Silvana tat Elektra den Gefallen, wusste aber nicht … wobei Elektra ihr je behilflich sein könnte.

Aber augenblicklich sollte dieser kleine Anflug von Überheblichkeit eine niederdrückende Antwort bekommen.

»Wenn es mit Raymond wirklich ernst werden sollte, dann wirst du seine Familie auch kennenlernen. Ich meine richtig. Und glaube mir, sie werden dich … Du wirst mehr als einmal weinen. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Erschrocken sah Silvana Elektra an. Sogar sie, die Gräfin, hatte Probleme gehabt?

Wie richtig war dann erst ihre Entscheidung gewesen. Und wie sehr musste Mel ihn wirklich … Und bei ihrem nächsten Gedanken, abstrus und hässlich, lief ihr sogleich ein entsetzlicher Schauer über den Rücken, und ihr wurde kalt, fürchterlich kalt, alles Leben verkroch sich einen Moment weit weg von ihr, irgendwo in einem leeren Nichts: War Mel, war ihre Mel am Ende sogar froh über ihr Schicksal gewesen? Hatte sie ihr diesen schrecklichen Traum von ihrem Ableben am Ende voll Freude, voll erlösender Freude geschickt?

Nein! Dieser Gedanke, diese Ahnung, es könnte sich tatsächlich so … nein, das durfte nicht sein.

Silvana schloss die Augen. Sie musste weg, nach Hause, diesen unheilvollen Gedanken hier in der Dunkelheit zurücklassen.

»Was ist mit dir, Silvana? Geht es dir nicht gut? Was hast du? Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Nein, nein. Es ist nur …«

Elektra schien zu spüren, was in Silvana vor sich ging. Und sie trat den einen Schritt, der sie trennte, auf Silvana zu und nahm sie in den Arm.

»Wenn irgendetwas ist, meine Freundin«, sagte sie eindringlich und mit fester Stimme, die keinen Zweifel an ihren Worten zuließ, »egal was, dann zögere nicht. Glaube mir, und das sage ich nicht nur so, auch wenn es erneut schrecklich überhöht klingen mag, du bist mir eine Freundin geworden, die ich … die ich so noch nie hatte. Und die ich nie mehr verlieren möchte. Also … wenn es irgendetwas gibt, wobei ich dir helfen kann, dann zögere nicht«, wiederholte sie ihre Bereitschaft, Silvana eine Freundin sein zu wollen. »Auch wenn dein und mein Leben sehr unterschiedliche Wege beschreiten werden«, fuhr sie ruhig fort, wobei sie Silvana noch immer liebevoll im Arm hielt, »und wir vielleicht auch länger nichts voneinander hören, trotzdem … Ich bin dir für die letzten Stunden unsagbar dankbar. Und all das, was da eben passiert ist, ist für mich noch immer unfassbar und … auch schön. Und befreiend. Trotzdem wird es wohl noch eine lange Zeit brauchen, bis ich verstanden habe, was da alles wirklich passiert ist. Noch einmal danke ich dir, Silvana. Von ganzem Herzen. Du … du bist ein so wertvoller Mensch.

Und bitte … ich möchte es auch noch einmal deutlich betonen, und da wiederhole ich mich gern: Ich bin für dich da, Silvana. Immer. Egal wann, egal wo. Zögere nicht. Nie!

Versprich mir das. Alles andere würde mich traurig machen.«

Silvana verharrte einen Moment, schließlich nickte sie. Unmerklich. Sie hatte Tränen in den Augen.

Nie hätte sie geglaubt, sich in den Armen dieser Frau, dieser Freundin, einmal tatsächlich wohlfühlen zu können.

SeelenFee - Buch Vier

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