Читать книгу Altsein ist auch nur ein Teil vom Ganzen - Axel Bethke - Страница 13
ОглавлениеWahrscheinlich hätte ich mir
dieses Leben nicht ausgesucht,
wenn nicht etwas in mir gewusst hätte,
dass ich’s so hinkriege.
Plato
»Er soll furchteinflößend aussehen, liebenswürdig sein und sich natürlich gut mit meiner Hündin Berta verstehen«, sagte ich zum Tierheimleiter. Berta und ich waren in Deutschland und suchten einen neuen Mitbewohner für unseren Waldbauernhof in Litauen. Ich lebte mit den Tieren allein dort. Weit weg von Menschen. In den letzten Monaten waren immer mal wieder Typen erschienen, die Schnaps, Zigaretten, Geld wollten. Berta konnte zwar laut und wütend bellen, das beeindruckte die Kerle aber nicht.
Wir gingen die Zwingerreihen ab. Und da war er: ein Tierheim-Ladenhüter, eine Kreuzung zwischen Rottweiler und Berner-Sennenhund mit der Masse eines ausgewachsenen Freilandschweines, neun Jahre alt, kampfvernarbtes Gesicht, hängende Unterlippe. Er lief langsam, Gelenke und Gewicht hatten etwas gegeneinander. Plato kam aus dem Zwinger, ich hockte mich nieder, der Hund setzte sich vor mich. Berta, interessiert und entspannt, kam dazu. Es war ein Kennenlernen mit unausgesprochener, dreifacher Sympathie.
Ich konnte ihn nicht gleich mitnehmen. Der Leiter rief: »Plato, komm.« Plato blieb bei uns. Berta und ich gingen in den Zwinger. Plato folgte. Ich sagte: »Das ist er! Ich hole ihn morgen ab.« Der Tierheimleiter meinte: »Für ihn brauchen Sie nichts zu bezahlen. Der ist zu alt. Sie werden aber sicher noch einige Monate Freude an ihm haben.« Am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Tiertransport, bestehend aus Plato, Berta, elf Chabo-Hühnchen plus Hahn zurück in unsere Waldidylle. Aus den prophezeiten »einigen Monaten« wurden dreieinhalb Jahre.
Platos Freundlichkeit und Geduld machten ihn zu einem Weisen auf dem Hof. Ohne Bellen schaffte er es, Konflikte gewaltfrei zu entschärfen. Nur sein Erscheinen, sein vernarbter, dicker Kopf brachten Streitende zur Ruhe. Es gab nur eine einzige Unstimmigkeit zwischen uns, gleich zu Anfang, nachdem er bei mir war, und die lief folgendermaßen ab: Ich sah, wie Plato mit gesenktem Kopf, irgendwie schuldbeladen, über die Wiese schlich. Etwas an seinem Gesicht war anders. Es schien, als hätte er die Backen aufgeblasen. Ich schrie (der Hund hörte etwas schwer): »Plato, aus!« Der Hund senkte den Kopf noch tiefer, öffnete widerwillig das Maul. Da fielen drei (!) Zwerghuhn-Eier heraus, sie gingen nicht mal im Gras kaputt. Ein konsequenter Erzieher sollte in solchen Situationen nicht lachen, ich weuß. Aber Konsequenz macht auch nicht immer Spaß.
Einige Tage später standen wieder die aufdringlichen Typen vor dem Tor, die nicht begreifen konnten, dass es männliche Menschen gibt, die keinen Schnaps trinken. Normalerweise wären die Kerle unaufgefordert aufs Grundstück gekommen. Aber Plato wurde sichtbar. Sein Brummen hörte sich wie ein Knurren an. Ich griff demonstrativ ins Halsband, rief »Stopp!« und tat, als müsse ich Plato vom Tor wegziehen. So verlief der letzte Versuch, Schnaps, Zigaretten oder Geld zu schnorren. Obwohl der Große etwas auf Diät sein sollte, bekam er an diesem Abend eine reichliche Portion.
Plato entwickelte sich zu einer regelrechten Plaudertasche. Er hat circa zwanzigmal in den dreieinhalb Jahren gebellt. Aber wir verstanden uns auch so, weil Kommunikation mehr als Quatschen ist. Sein Gehör wurde mit der Zeit schlechter. Ich brauchte nur auf den Oberschenkel zu schlagen, das hieß »Komm!« und er folgte.
Er überlebte Berta, half mir sehr über diesen Verlust hinweg. Schließlich kam der Tag, als der große Kerl gar nicht mehr aufstehen konnte. Mühte sich, knickte ein, jammerte. Die Ärztin sagte: »Er hat doch viel mehr gehabt, als er erwarten konnte.« Dann gab sie ihm die Spritze. Sein großer Kopf lag auf meinem Schoß und sog die Tränen auf.
Ohne diese außergewöhnlichen Ereignisse und Erfahrungen wäre mein Leben geradlinig und langweilig gewesen und ich müsste ihnen noch heute nachjagen.