Читать книгу Altsein ist auch nur ein Teil vom Ganzen - Axel Bethke - Страница 7
ОглавлениеBeobachtungen bringen Gedanken,
Gedanken schenken Bilder
und Bilder zeigen Ereignisse, die mal waren,
also Erinnerungen.
Berta
Unerwartet lag sie in der Scheune. Presste sich ins Heu. Zeigte die Zähne. Das stumpfe, graue Fell war oberhalb der Schwanzwurzel dunkel, fast schwarz und verkrustet. Das war angetrocknetes Blut, wie ich später feststellte. Ich ging langsam und ruhig redend auf sie zu. Ihre Nackenhaare sträubten sich, sie zog die Oberlippe noch höher, ließ leises, nachdrückliches Knurren vernehmen. Warum sie gerade in meiner Scheune lag, wer sie hier hineingeworfen oder gescheucht hatte, war mir egal. Sie lag hier und das war gut.
Ich ging zum Haus, holte Wasser und etwas Futter, stellte es in ihre Nähe. Als ich ein paar Stunden später nach ihr sah, waren die Schüsseln leer. Ich setzte mich auf einen Holzklotz und wusste nichts zu sagen. Wenn man immer alleine ist, verliert das Reden an Bedeutung. Also sang ich dem Hund etwas vor. Das sollte beruhigend wirken.
Berta, wie ich sie taufte, schien tolerant zu sein. Zumindest hatte sich ihre Angst durch meinen Gesang nicht vergrößert. Ich füllte nochmals ihre Schüsseln und ging ins Haus.
Sie wurde von niemandem vermisst, aber dass sie ein böser Hund sei, wussten alle. Jousas, mein Nachbar sagte: »Der Hund ist gefährlich, geh mit ihm zum Förster. Lass ihn erschießen.« Ich antwortete: »Ja, mein Geld ist bald zu Ende, dann muss ich vielleicht hier weg, hab kein Zuhause mehr. Gehst du dann mit mir zum Förster und lässt mich erschießen?« Er lachte mit einem Gesicht, als müsse er Magensäure runterschlucken. Abends schlief ich mit dem Gedanken ein: Hoffentlich ist Berta morgen noch da.
Sie war da und die nächsten zehn Jahre blieben wir unzertrennlich. Fuhren tausende Kilometer mit dem Auto. War ich irgendwo eingeladen und durfte Berta nicht mitbringen, fiel der Besuch aus. Sie war immer bei mir, hat mir in der Einsamkeit gezeigt, dass ich nicht allein bin. Was Beständigkeit, Treue und Zuverlässigkeit ohne Bedingungen ist, zeige sie täglich. Doch ob ihr Verhalten so ganz bedingungslos war? Wahrscheinlich erfüllte ich ihre Bedingungen genauso wie sie meine. Das bedurfte keiner Worte.
Ich hatte wenig Zukunftspläne, aber wenn einmal einer auftauchte, kam Berta immer darin vor. Drückte das Jetzt beängstigende Dunkelheit in Kopf und Bauch, konnte Berta Gefühle lesen. Sie schob ihren schlanken, grauen Kopf unter meine Hand, das half.
Ich glaube nicht, dass ich sie vermenschlicht habe, eher hat sie mich »verhundlicht«. Sie traf Entscheidungen, schlichtete Streit auf ihre Art, verhielt sich manchmal aggressiv, bedrohlich, und ich erkannte meist erst später die Sinnhaftigkeit. Besonders ablehnend verhielt sie sich gegenüber den Auswirkungen des Alkohols. Das kam mir als abstinent lebender Alkoholiker sehr entgegen. Denn was bindet stärker als ein gemeinsamer Feind? Selbst heute, nach so vielen Jahren, wenn ich intensiv an sie denke, zieht sich zuweilen Wasser in den Augenwinkeln zusammen.
Berta hatte fünf Tage nicht gefressen. Die vielen Spritzen der Tierärztin erschienen im Nachhinein nur die Rechtfertigung für das stolze Honorar zu sein. »Der Hund hat Gelbsucht«, sagte sie. Am letzten Nachmittag saß Berta, während ich die anderen Tiere versorgte, an den Zaun gelehnt und blickte zum Wald. Dann kam sie sehr langsam, fast schleppend mit ins Haus. Sie legte sich neben mich aufs Sofa. Meine Hand lag auf ihrem Kopf. Ich spürte die krankhafte Hitze an den Lefzen.
Es war dunkel geworden. Eine sternlose Nacht. Berta stand auf, trank, ging zur Tür. Sie sah mich an. Ihr Blick sagte: Du warst mir genau so wichtig wie ich dir! Dann sah sie auf die Türklinke. Ich öffnete. Berta ging in die Nacht, sie wollte beim Sterben allein sein.
Ich erinnere mich an so viele Fahrten, Ausflüge und Ereignisse mit Berta. Eigenartig ist allerdings, dass mir nur Besonderheiten – Bertas Verhalten in besonderen Situationen oder das Verhalten fremder Menschen auf ihr Erscheinen – im Gedächtnis geblieben sind. Dazugehörige Alltäglichkeiten sind völlig gelöscht, als wären sie gar nicht passiert.
Vielleicht liegt das daran, dass Berta und ich im Alltag unzertrennlich waren, eine Einheit. Uns konnte niemand etwas vom Anderen wegnehmen. Wir waren uns gegenseitig sicher. Deshalb reduziert sich die Erinnerung aufs Wesentliche, auf echtes Erleben. Unwichtige Normalität ist Oberfläche, die muss der Kopf nur zurate ziehen, wenn’s innerlich nicht stimmen würde.
Aber zwischen uns war alles klar. Der Tag war verlässlich und gefahrlos, wenn wir zusammen waren, die ganzen zehn Jahre lang.
Einer schlechten Erinnerung kann ich durch Betrachten und Bedenken das Grauen nehmen. Eine schöne Erinnerung kann ich, wenn ich sie betrachte, am Leben erhalten.