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Shabbadag schaut in die Ferne

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Oberbürger Tittus Doppeldee stellte dem Expeditionsteam die oberste Etage des Oberstübchens zur Verfügung. Die Räume dienten ihnen als Hauptquartier. Für Bequemlichkeit war bestens gesorgt. Die Annehmlichkeiten ließen nichts zu wünschen übrig. Es gab einfach alles. Sogar eine mit schönen Möbeln ausgestattete Dachterrasse.

Shabbadag genoss den Anblick seiner Heimatstadt Terrarium im Morgenlicht. Er sah durch ein am Geländer der Dachterrasse montiertes Fernguck. Terrarium ist auf acht Hügeln erbaut. Auf sieben davon stehen in bunten Reihen kleine Häuser aus Holz. Der achte Hügel, der Griesberg war, ausgenommen vom Oberstübchen, unbebaut. Shabbadag suchte den Rambazambaweg auf dem Goldhügel. Dort wohnte er. Als er mit dem Fernguck das rote Dach der „Engelchen Flieg Grundschule“ entdeckte, musste er ein wenig nach links schwenken, dann fand er sein kleines Blaues Haus mit dem gelben Dach. Im Tal darunter befinden sich Firmen und Geschäfte. Die beliebte Einkaufsmeile, die Hastemalnemarkeystraße, zieht sich schnurgerade lang und breit durch das Tal. Es reiht sich Laden an Laden. Shabbadag erkannte KALINKA – Das Schuhhaus für Rechtsfüßer. Das Geschäft läuft seit seiner Eröffnung eher hinkend. Mit einem Bein steht Inhaberin Takko Zalando immer kurz vor dem Konkurs. Sie arbeitet hart für jeden Schniedi, den sie verdient. Frau Zalando hält sich dank einer „Gabe“ finanziell über Wasser. Sie ist eine, über die Stadtgrenze hinaus bekannte, „Seherin“! Sie liest in Schuhen und Handtaschen und sagt leichtgläubigen Damen auf diese Weise die Zukunft voraus. So erwirtschaftet Takko Zalando einen einträglichen Nebenverdienst.

Neben KALINKA befindet sich das WATTGUCKSTE Programmkino. Leicht zu erkennen wegen seiner markanten Leuchtreklame, die zu Werbezwecken an der Fassade montiert ist. Shabbadag wusste, dass in diesem Monat „A. Gent“ Filme auf dem Programm standen. Den musikalischen Spion mit der Lizenz zum Flöten, spielt Fischfried Otter. Rechts vom Kino findet man das Büro der „Gesellschaft zur Rettung Fischsüchtiger (GzRF)“. Dort kümmern sich Fachkräfte um Esssüchtige mit maritimer Störung. Die Lage des GzRF hielt Shabbadag für unglücklich, da es ans Fischgeschäft von Kalli Maris grenzt. Dann folgt der Schönheitssalon HUPENMACHER. Der ist auf dem ganzen Planeten bekannt für ästhetische Brustvergrößerungen und von Meisterhand gefertigte Dessous für Übergrößen. Der Inhaber, Heiner Hütte, kommt ursprünglich aus der Stahlbranche. Er ist gelernter Schmied und arbeitete jahrelang als Härter in einer Nippel Fabrik. Vom Nippelhärter zum Hupenmacher ist es nur ein kleiner Schritt und durch Fernstudium leicht zu erlernen.

Rechts vom HUPENMACHER reihen sich eine Briefkastenfirma, eine Scheinfirma und die Adonis Schickermann Abendschule für Nähen und Bastelkram, in den bunten Reigen der Handel treibenden. Nebenan die Redaktion der „SCHICKIMICKIMAUS“, das Modemagazin Nr. 1 auf Terra. Gefolgt vom Ladenlokal „Der letzte Schrei“. Dieses Modelabel gehört Strausselbert Eng. Ein Haus weiter befindet sich „Der Naturfreund“. Inhaber ist ebenfalls Strausselbert Eng. Von „Kanonenfutter“, der beliebten Marke für selbst kochendes Fertigessen, bis zum Energiegetränk „Zielwasser“, finden Wanderer und Camper dort, was zum Aufenthalt in der Natur benötigt wird. Das Geschäft liegt voll im Trend und läuft dementsprechend wie geschmiert. Es ist eine kleine Revolution, das Terraner Camping mögen, denn bis vor nicht allzu langer Zeit galt selbst simples Spazieren gehen auf Terra als obszön. Durch eine Jugendbewegung, die „Wandalismus“ genannt wurde, änderte sich vieles. Selbst das Dealen mit Spazierstöcken legalisierte man inzwischen.

Shabbadag schwenkte das Fernguck ein Haus weiter und sah die großen Schaufenster von IDEALL Reisen. Der alteingesessene Familienbetrieb ist Shabbadags Arbeitgeber. Das Reisebüro in der Hastemalnemarkeystraße ist das Hauptgeschäft. Im Gebäude befinden sich Büros und Personalräume sowie das firmeneigene Museum mit Restaurant. In der obersten Etage ist der Wartebereich für Reisende. Von dort betreten die Gäste die FLUGS Raumgleiter, die vom Dach starten. IDEALL ist der terranische Marktführer für Reisen aller Art ins Weltall und das Paralleluniversum. Ob Firmengründer Furzbold Schnodderig das ahnte, als er mit einem zweisitzigen Taxi - Pedalflieger anfing?

Ein weiterer alteingesessener Familienbetrieb, geführt in der dritten Generation, findet sich im nächsten Haus. Üller Utz betreibt in den Räumlichkeiten seinen Handel mit traditionellen, terranischen Waffen. Darunter eine sehenswerte Abteilung antiker Jagdwaffen. Die wird von Fachleuten und interessierten Laien sehr geschätzt. Üller Utz ist fachkundiger Sachverständiger, Gutachter und Meister. Seine filigrane Feinarbeit in eigener Werkstatt wird weithin gerühmt. Üller richtet verbeulte Blasrohre, spitzt stumpfe Pfeile und biegt so manchen geraden Bogen krumm. Als einer der letzten seiner Zunft beherrscht er das Handwerk des Büchsenmachers. Er stellt die Büchsen her, befüllt sie mit Fisch und drückt diesen die Augen zu, bevor die Büchse geschlossen wird. Ihm ist niemals ein Fisch ausgebüchst. Darauf ist Üller Utz sehr stolz. Neben seiner Arbeit ist Üller Utz als Trommler bekannt. Er haut in einer beliebten Band auf die Pauke. Die Gruppe heißt GUTEN – A – BAND.

Neben Üllers Geschäft finden Interessierte den Eingang zur Vertretung des Planeten HIOB. Dort sitzt der Hiobische Handelsbeauftragte Bobi Kar. Der Volksmund nennt sein Büro Hiobs Botschaft. Es folgt in der Häuserreihe das Museum für moderne Kunscht mit der Horst Emscher Dauerausstellung im 7. Stock. Sehenswert wegen der ausgestellten original RÜBENHAUBE und der ausdrucksstarken Installation - Brot-Auf-Strich-. Empfehlenswert sind profunde Führungen durch die Ausstellung mit Professor Dr. Joghurt Lööf, Dozent für „Irgendwas mit Kunscht“ an der Kackda Janethin Unität.

Shabbadag schwenkte das Fernguck an den Häusern entlang. Er sah Restaurants, Boutiquen, Blumenläden, Bäckereien, Eisdielen, Gaststätten, Kabaretts, Theater, und das Wichsfigurenkabinett der Madame Tussi. Die Hastemalnemarkeystraße endet auf dem „Großen Platz“. Der Große Platz wird vom Einkaufszentrum „Peters kleine Bretterbude“ eingerahmt. Das Einkaufszentrum erhielt seinen Namen zum Andenken an den ursprünglich hier ansässigen Zeitungsverkäufer Peter Klabottnik. Peter ging seinen bescheidenen Geschäften in einem ausrangierten hölzernen Gartenhäuschen nach. Aus diesen einfachen Anfängen wuchs der heutige Gesamtkomplex. Eigentümer ist Tai Kouhn, der seinen Besitz der Tatsache verdankt, das Peter Klabottnik ihm den Einstieg ins Geschäftsleben ermöglichte. Diesen Fakt würdigte Tai durch die Namensgebung.

Tai Kouhn erkannte bereits als Jugendlicher, dass mit der Reisefreudigkeit der Terraner Geld zu verdienen ist. Er baute einen Tisch vor Peters kleiner Bretterbude auf. Peter Klabottnik, der mehr breite als lange Gemütsmensch, gestattete ihm, einen Teil seines Grundstücks zu nutzen. Tai bot Waren feil, die Reisende für Ausflüge zur Erde benötigten. Die Reisenden konnten wählen, ob sie die Gegenstände erwerben oder mieten wollten. Anfangs spezialisierte sich Tai auf Asienreisen mit einem Schlitzaugenverleih. Später verlieh er Kimonos an Japanreisende. Führte die Reise in kalte Gebiete Japans, fanden die Damen in seinem Sortiment die traditionelle Kleidung sogar mit Heizung! Tai nannte sie Eskimonos. Das Geschäft lief gut, Tai Kouhn konnte eines Tages Peter Klabottnik die kleine Bretterbude abkaufen. Tai vergrößerte das Sortiment, sein Geschäft wuchs. Er baute an, gründete weitere Geschäftszweige. Schließlich wurde aus dem Straßenhändler der Kaufhauskönig von Terrarium. „Peters kleine Bretterbude“ ist inzwischen die wichtigste Adresse für terranische Reisende. Die Geschäfte boomen, da das Reisen immer beliebter wird. Davon profitiert gleichermaßen das Alfons von Quak Wellnesscenter. Das „Alfons“ ist im Schwuppdiwupp Weg Nr. 10 zu finden. Shabbadag schwenkte das Fernguck in die ungefähre Richtung. Das „Alfons“ liegt am Ende des nördlichen Bereichs des 40000 qm großen Außengeländes vom größten Hort im Ort. Die wilde Grünlandschaft ist kaum zu übersehen. Nach kurzem Suchen hatte Shabbadag das „Alfons“ im Visier.

Von der Dachterrasse des Oberstübchens ist der Ausblick auf Terrarium exzellent. Alles ist sehr gut zu sehen. Der Griesberg, auf dessen Hochplateau das Oberstübchen steht, ist der höchste Berg Terrariums. Die Stadt liegt einem hier zu Füßen. Fast jede Straße hat einen kleinen, von den Bewohnern selbst gestalteten gepflegten Park. Von hier oben betrachtet, sieht es bereits sehr einladend aus, doch wenn man erst einmal die Gemütlichkeit dieser kleinen Oasen aus der Nähe kennengelernt hat, will man nicht mehr woanders sein. Die Pflanzen der Parks setzen grüne Punkte zwischen die Gebäude. Man merkt kaum, das über 300000 Terraner in dieser Stadt leben.

Shabbadag schwenkte das Fernguck in Richtung Hafen. Einige Kutter lagen vor Anker. Die Eigner verdienen ihr Geld mit Fischfang. Der Fluss ist mit vielen unterschiedlichen schmackhaften Fischen gesegnet. Der Fischreichtum gewährt ganzjähriges Einkommen. Das meiste Geld im Terraner Hafen wird jedoch in der Werft verdient. Die Kräne und Gebäude von „Kahntrude & Bootgard“ dominieren die Hafenanlage. Der große Fluss Terramisu schlängelt sich Silber schimmernd, mal schmal, mal breit, zwischen den Häusern hindurch. Sein Wasser schmeckt nach Schokolade. Auf dem ruhigen Gewässer kann man herrliche Ausflugsfahrten mit dem Raddampfer „Rumtreiber“ unternehmen. An seiner breitesten Stelle teilt eine Insel den Terramisu. In grauer Vorzeit existierte in dieser Gegend ein menschenleeres stinkendes Moor, das man unter dem Namen Transpiranien kannte. Ebendieses Moor gehörte zum ehemaligen Königreich Kosmetika. Einst lebte im Morast von Transpiranien eine bemerkenswerte Amphibie namens Knallfrosch. Bedauerlicherweise ist die Art ausgestorben. Es muss faszinierend gewesen sein, diese Tiere während der Paarungszeit zu beobachten. Nach vollzogenem Akt küsste das Weibchen seinen Froschmann mit Zungenschlag und blies ihn dabei auf bis er platzte. Vermutlich gingen auf diese Weise die Männchen aus, so dass der Knallfrosch aus der Fauna des Planeten verschwand. Traurig. Im Austausch dafür siedelte sich der äußerst exzentrische „Ritter von der Burg“ in Transpiranien an. Der erwies sich als guter Ersatz für den Knallfrosch. Der Rittersmann hatte nämlich einen mächtigen Knall! Wenn nicht sogar einen gewaltigen Sockenschuss! Er ließ einen großen Teil des Moors trockenlegen, um eine Ritterburg errichten zu lassen. Im Laufe der Jahrhunderte machte das Moor von Transpiranien eine interessante Entwicklung durch. Immer mehr Gräben und Gewässer legte man trocken. Auf diesem Wege gewann man Land hinzu und machte es urbar. Die Umgebung veränderte sich beständig, das Moor verschwand. Einzig die Insel behielt ihr ursprüngliches Aussehen. Man gab ihr den Namen Eiland. Auf Eiland befindet sich noch heute die robuste Ritterburg. In der Burg ist seit vielen Jahren die Frauenhaftanstalt „Zur schönen Aussicht“ untergebracht. Im Grunde ist das alte Gebäude mehr Museum als Gefängnis. Es beherbergt lediglich eine einzige Gefangene namens Elke Pone. Sie vollendet in ein paar Wochen ihre Ausbildung zur „Beschallerin von Fußgängerzonen“. Besteht sie die Gesellinnenprüfung, wird Frau Pone aus der Haft entlassen und fortan in der Hastemalnemarkeystraße die Terraner mit Musik und Gesang unterhalten. Sobald die letzte Insassin in Freiheit ist, wird das Gefängnis endgültig Museum und in Gänze für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Leiterin der Haftanstalt, Frau Elke Tress, bereitet sich und das Personal seit Monaten auf den Ansturm der bildungshungrigen Bürger vor. Seit Jahrzehnten hat niemand aus der Bevölkerung das alte Gemäuer betreten. Daran besteht nun reges Interesse. Die Ritterburg hat einen gruseligen Ruf! Sie ist mysteriös, rätselhaft, sagenumwoben, geheimnisumwittert.

Der „Rumtreiber“ ist bereits auf Monate im Voraus für Fahrten nach Eiland ausgebucht. Die Eigner überlegen, ob sie ein weiteres Fahrgastschiff bei „Kahntrude & Bootgard“ zum Bau in Auftrag geben.

Shabbadag schwenkte erneut das Fernguck. Ganz rechts in der Ferne, nahe dem Horizont, ist der Harteberg zu sehen. Der Bildungshügel. Das gesamte Hochplateau des Hartebergs belegen die Gebäude der „Kackda Janethin Unität“. Ihre farbenfrohen Türme schimmern in der Sonne. Der höchste davon trägt eine kugelrunde silberfarben glänzende Kuppel. Darin ist die „Hans Guck in die Luft“ Sternwarte untergebracht.

„Tuten Gag, Shabbadag. Schöne Aussicht, nicht wahr?“ Froni war neben ihn getreten. Ihr langes blondes Haar wehte leicht im warmen Sommerwind. Sie trug ein vielfarbiges terranisches Gewand. „Dir ebenfalls einen Tuten Gag, Froni!“, wünschte Shabbadag und sagte ein wenig verträumt: „Ja, schöne Aussicht! Sehr schön sogar!“ Dass er nicht bloß die schöne Aussicht auf Terrarium meinte, sagte er nicht. Ein verschmitztes Grinsen huschte durch Fronis Gesicht. Scheinbar dachte sie sich ihren Teil.


Das erste Treffen

„Können wir anfangen? Auch wenn´s schwer fällt an einem so schönen Tag?“, rief Strausselbert lachend aus einem Fenster des Arbeitszimmers zu ihnen hinaus. „Ja, sofort!“, antwortete Froni gut gelaunt, griff nach Shabbadags linker Hand, schaute ihm tief in die Augen und fragte: „Kommst du?“ Dann drehte sie sich um und zog den überrumpelten Piloten einfach hinter sich her. Im Arbeitszimmer warteten Strausselbert Eng, Sigrid Sörvis, Professor Verwagen und Kurt Sichtig auf Shabbadag und Froni. Sie saßen an einen runden Konferenztisch. Die Beiden setzten sich dazu. Shabbadags Gesicht leuchtete knallrot. Er wirkte etwas abwesend und verwirrt. Froni strahlte über das ganze Gesicht und konnte die Augen kaum von Shabbadag abwenden. Sigrid Sörvis, die den beiden gegenübersaß, musste grinsen. Damit es niemandem auffiel, hielt sie sich eine Mappe vors Gesicht und tat, als würde sie lesen. Sie wusste genau, was mit den Beiden los war. Und das freute sie wirklich sehr. Professor Verwagen und Kurt Sichtig bekamen von der Liebelei nichts mit. Sie bereiteten Vorträge vor, denen ihre ganze Aufmerksamkeit galt. Shabbadag, der bis jetzt nicht in großem Umfang über Details der Expedition informiert war, sollte auf den derzeitigen Planungsstand gebracht werden. Als sie ihn persönlich ansprachen, musste er sich mächtig zusammenreißen, um sich auf das Thema zu konzentrieren.

Die Fenster wurden verdunkelt. Professor Verwagen begann seinen Vortrag und betätigte zuerst einen Schalter des Computers. Ein Film über die Erde begann. Der Professor sprach dazu. „Seit Jahrhunderten besuchen wir Terraner die Erde in unserem Paralleluniversum. Anfangs taten wir dies, um uns über die Erde aus botanischer und geologischer Sicht zu informieren und die Entwicklung der irdischen Menschen zu studieren. Später schlossen sich weitere wissenschaftliche Disziplinen an.“ Der Professor trank einen Schluck Perlenwasser, dann erklärte er: „Kontakt zu Menschen der Erde vermieden wir bewusst. Außerdem unterließen wir es, uns in irgendwelche Belange der Erde einzumischen. Stattdessen blieben wir heimliche Beobachter. Wir studierten das Verhalten und die Entwicklung der irdischen Menschen und ihres Planeten und mischten uns nicht ein. Selbst dann nicht, wenn wussten, wie sie in ihr eigenes Unglück rannten. Etwa durch Krieg und Umweltzerstörung. Ihr wisst, dass es aufgrund unserer technischen Überlegenheit ein Leichtes wäre, Probleme der Erde zu korrigieren. Ich denke als Beispiel an Naturkatastrophen. Doch fragen wir Wissenschaftler uns seit jeher: Dürfen wir das? Sollen wir in die Entwicklung der Erde eingreifen? Solche Fragen diskutieren unsere Gelehrten seit vielen Jahren. Und immer wieder kamen sie zur gleichen Antwort. Nein! Keine terranische Einmischung in irdische Angelegenheiten.“ Professor Verwagen unterbrach für einen Moment seine Ansprache, um noch einen Schluck zu trinken. Dann fuhr er fort: „Kontakt zwischen Menschen von Erde und Terra gab es im Lauf der Zeit in einigen Fällen. Eine Entwicklung die ich und nicht wenige meiner Kollegen, für ausgesprochen bedenklich hielten. Vom moralischen Defizit der Angelegenheiten mal ganz abgesehen. Ich spreche von den sogenannten „Künschtlern“, die die Naivität von Erdlingen ausnutzten, um sie zu verulken, und mit solchen Scherzen im Teleguck bessere Quoten zu erzielen.“

Shabbadag musste unweigerlich an Horst Emscher denken, der beim Absturz in Ostfriesland dabei war und einer dieser „Künschtler“ ist, die der Professor soeben kritisierte. Horst manipulierte mittels einer von ihm entwickelten „Rübenhaube“ Menschen auf der Erde. Shabbadag amüsierte sich prächtig darüber, als er die Sendungen im Teleguck verfolgte. An ein moralisch grenzwertiges Verhalten dachte er in dem Zusammenhang gar nicht. Er fand es lustig.

„Aber ich schweife ab!“, sinnierte der Professor und setzte den Vortrag fort. „Seit einigen Jahren ist es reisenden Terranern gestattet, die Erde zu betreten. Unter strengsten Auflagen selbstredend und nur für maximal eine Stunde an einem Ort. Die Aufhebung des Kontaktverbots machten erst einige Erfindungen möglich, ich will stellvertretend dafür Quasseline nennen. Durch den Absturz in Ostfriesland lernten wir, dass es möglich ist sich länger als eine Stunde unter Erdlingen zu bewegen, ohne als Mensch eines anderen Planeten erkannt zu werden. Das hat Wissenschaftler zum Nachdenken angeregt. Wir stellen uns jetzt die Frage: Wie lange ist es Terranern möglich, unauffällig unter Erde Menschen zu leben? Das wollen wir wissen. Wenn wir die Frage positiv beantworten, bauen wir den Tourismus zur Erde schrittweise aus.“ Der Professor trank wieder einen Schluck, bevor er weitersprach. „Wir wollen mehr entdecken. Wir wollen Erkenntnisse sammeln. Wir wollen Erfahrungen machen. Erfahrungen die man erlebt, fühlt, schmeckt, riecht, hört, anfasst, mit allen Sinnen wahrnimmt! Welche Erfahrungen eignen sich besser, als die Erfahrungen, die man selbst macht?“ Er schaute sich im Raum um und erwartete scheinbar eine Antwort. Shabbadag versuchte sein Glück und antwortete: „Keine!“ „Richtig!“, rief der Professor begeistert.

Den zweiten Vortrag hielt Kurt Sichtig. Kurt ist ein kleiner drahtiger Typ. Trotz seines Alters von bestimmt 75 Jahren wirkt er gesund und stark. In seiner Jugend war er ständig in der Natur unterwegs. Das entsprach zu damaliger Zeit in keiner Weise den Gepflogenheiten der terranischen Gesellschaft. Man beäugte sein Waldläufertum äußerst kritisch. Nicht wenige Stimmen forderten, dass diesem Unfug ein Ende bereitet würde. Man glaubt es heutzutage kaum, doch damals waren Aktivitäten in der Natur vollkommen verpönt. Sie galten als unschicklich. Konservative Kreise gingen sogar soweit, dem Naturburschen Unsittlichkeit zu unterstellen. Besorgte Bürger befürchteten, Kurt verderbe durch sein schlechtes Beispiel die Jugend! Kurt Sichtig verfasste in jenen Tagen mehrere Artikel über das Leben in der Wildnis. Er wünschte, sie zu veröffentlichen und sprach bei Verlagen vor. Anfangs fanden sich keine Verleger für diesen „heiklen Stoff“. Bis schließlich ein Monatsmagazin für die Jugend, den Mut fand, Artikel zu drucken. Bravo, riefen die Konservativen. Jetzt bekommt der Verderber der Jugend auch noch ein Forum, um seine kruden Theorien zu verbreiten. Na, das ist ja toll! Gut, dass sich der Chefredakteur der Zeitschrift „APPLAUS“ nicht in sein Geschäft hineinreden ließ. Er veröffentlichte die Naturbeschreibungen und Geschichten gegen alle Widerstände. Dennoch brauchte es ein paar Jahre bis sich in Folge der „Wandalismus Bewegung“, einiges änderte. Inzwischen ist der Aufenthalt in der Natur auf Terra gesellschaftsfähig. Manch älterer Mitbürger fragt sich inzwischen, warum er überhaupt einmal dagegen war.

Das Waldläufertum seiner Jugend führte Kurt Sichtig beruflich weiter. Er wurde Forscher. Man sah ihm seinen Beruf an, wie er so dastand. Braungebrannt. Sportliche Figur. Khakifarbene Allzweckhose. Dunkelgrünes Hemd, Ärmel hochgekrempelt. Darüber eine Tarnweste mit verwirrend vielen Taschen, Schnallen, Reißverschlüssen. Seine Füße stecken in stabilen Schuhen mit groben Sohlen. Mit den Tretern hätte er leicht bei der Bekämpfung von Flächenbränden helfen können. Shabbadag musste grinsen. Der Kerl hat riesige Füße! Solche mega Latschen sah Shabbadag noch nie! Von der Seite betrachtet, schaute der Mann aus wie der Buchstabe „L“! Im Teleguck fiel das nicht auf. Shabbadag schaute die Sendungen von Kurt Sichtig regelmäßig. Sie waren spannend, lehrreich und interessant. Herrn Sichtigs überdimensionierte Latschen bemerkte er in keiner Sendung. Die hielt der Kameramann geschickt aus dem Bild. Eine ziemlich meisterliche Leistung von ihm, kicherte Shabbadag in Gedanken vor sich hin. Dann fiel ihm der labberige feuchtkalte Händedruck ein, den er im Büro des Oberbürgers von Kurt Sichtig erhielt. Die großen Galoschen und diese gummiartige Pranke wirkten seltsam. Ansonsten hielt er Kurt Sichtig durchaus für sympathisch. Für den Rest kann er ja nichts, dachte Shabbadag und hatte das Thema eigentlich abgehakt. Doch im Schneckentempo kroch eine fiese Erinnerung aus der hintersten Ecke seines Gehirns. Tastete sich lautlos aus ihrem dunklen Versteck. Eigentlich mausetot und begraben, stieg sie wie ein Zombie aus ihrem feuchten Grab und kam Shabbadag von Neuem in den Sinn. Diese böse Erinnerung! Vor Langem gab es doch mal einen Skandal wegen Kurt Sichtig? Worum ging es da gleich? Blitzartig schossen Shabbadag Gedanken durch den Kopf, deren er sich nicht erwehren konnte. Eine längst vergessen geglaubte Kindheitserinnerung krabbelte spinnenartig durch sein Gedächtnis. Die Erinnerung ließ ihn erschaudern und rieselte seinen Rücken hinab. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Plötzlich fiel ihm alles ein.

Shabbadag war erst fünf Jahre alt, als schlimme Nachrichten im Teleguck verkündet wurden. Seine Eltern weilten an diesem Abend nicht zu Hause. Sie feierten bei einem Nachbarn dessen Geburtstag. Mama und Papa brachten ihn zu Bett und sagten: „Wenn etwas ist, dann rufst du an.“ Was sollte schon sein? Sie feierten im Nebenhaus, sozusagen in Rufweite. Er und Angst? Im Gegenteil! Shabbadag freute sich, denn das die Eltern weg waren, wollte er ausnutzen. Kaum hörte er die Haustüre ins Schloss fallen, sprang er behände aus seinem Bett und schaltete unerlaubt das Teleguck ein. Eigentlich durfte er nur im Beisein seiner Eltern Tele gucken. Darum fand er es umso spannender, es heimlich zu tun.

Just in diesem Moment wurde ihm schlagartig klar, wie recht seine Eltern damals mit dieser Verbotsregel hatten. Jetzt, als Erwachsener verstand er, wie sehr das Ereignis sein kindliches Unterbewusstsein beeinflusste. Denn wie sich gerade herausstellte, wirkte das, was er sah und hörte, bis heute nach. Tief lag es verborgen. Jetzt trat es nach Jahren des Schlummers zum Vorschein.

Der Bericht eignete sich definitiv nicht für ein Kind seines Alters. Verstört bibbernd, schaltete er danach das Gerät aus und verkroch sich in sein Bett. Er zog die Decke über den Kopf und versuchte, das Gesehene und Gehörte zu vergessen. Vergessen! Nur Vergessen! Schluchzend schlief er ein.

Am folgenden Tag war das Erlebnis abgehakt. Wie das häufig so ist bei kleinen Jungs. Aber Shabbadag vergaß das Erlebte nicht, sondern verdrängte es! Die Informationen brannten sich fest in sein Unterbewusstsein, um jetzt erinnert zu werden: Zwei Wissenschaftler waren auf einem Eisplaneten verschollen. Sie unternahmen die Reise dorthin, um Eissorten zu erforschen. Sie versuchten herausfinden, ob das Eis zu Terras Nutzen abgebaut werden konnte. Die Forscher hießen Kurt Sichtig und Doktor Macka Roni.

STRAZZIATELLA, der größte von drei Eisplaneten die um eine erloschene Sonne kreisen, nahm im Laufe der Jahrmillionen die Form einer Eistüte an. Seine beiden Trabanten, RUCKOLA und BROCKOLI, blieben kugelrund. Schaut man durch die weitreichende Optik der „Hans Guck In Die Luft“ Sternwarte, entsteht der Eindruck, eine Eiswaffel mit zwei Kugeln darauf befände sich im All.

Die Forscher flogen zuerst zum Planeten RUCKOLA. Von dort führte die Reise zum BROCKOLI. Einige Tage nach ihrer Landung, ging der Kontakt zu ihnen verloren. Ihre letzte Meldung besagte, dass sie bei der Rückkehr von einer Expedition den FLUGS Raumgleiter wegen heftiger Schneefälle nicht fanden. Sofort schickte man ein Rettungsteam los. Dieses kehrte zwei Wochen später erschöpft erfolglos zurück. Man delegierte ein frisches Team, danach ein weiteres und noch eins. Nach Monaten der Suche verringerte sich die Hoffnung, die Beiden jemals zu entdecken. Dann kam überraschend die nicht mehr für möglich gehaltene Wende! Der letzte ausgesandte Suchtrupp entdeckte einen Forscher lebend: Kurt Sichtig.

Doktor Macka Roni blieb verschwunden. Kurt Sichtig konnte zum Verbleib seines Kollegen (angeblich) keine Angaben machen. Sichtig behauptete, Doktor Macka Roni bei einem Schneegestöber aus den Augen verloren zu haben. Die Gerüchteküche brodelte. Die wilden Spekulationen gipfelten in der Behauptung, Kurt Sichtig habe seinen Partner aufgefressen, um sein eigenes Überleben zu sichern! Eine ungeheuerliche Behauptung! Objektiv besehen, erschien diese Theorie jedoch nicht ganz abwegig. Dafür sprach die Tatsache, dass Kurt Sichtig, trotz seines monatelangen, kräftezehrenden Aufenthalts auf dem Eisplaneten, nicht ein einziges Gramm Gewicht verlor. Im Gegenteil. Er legte zu! Wie konnte das sein? Sichtig argumentierte zu seiner Verteidigung so: „Macka Roni und ich tauschten täglich die Schlitten. Jeder zog einen Tag den leichten, am anderen Tag den schweren Schlitten. Der leichte Schlitten beförderte Nahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Schlafsäcke sowie das beheizbare Zelt. Der zweite Schlitten trug das schwere technische Equipment und Werkzeug. Am Unglückstag, als Macka Roni sich im Schneesturm verirrte, zog ich den leichten Schlitten. Mir standen alle Nahrungsmittel und das beheizbare Zelt zur Verfügung. Das sicherte mein Überleben!“ Ob dies der Wahrheit entsprach, wusste allein Kurt Sichtig. Doktor Macka Roni blieb verschollen.

Monate nach seiner Rettung, befeuerte Kurt Sichtig nochmals die bereits erloschene Flamme der Empörung. Er veröffentlichte ein Buch über die Eisplanetenexpedition. Kurt Sichtig gab dem Buch den zweideutigen Titel „Der Forscher in mir!“

All das ging Shabbadag in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Er schaute auf seinen rechten Arm. Alle Haare hatten sich aufgestellt.

„Ich habe Informationen zum Zielgebiet!“, begann Kurt Sichtig seinen Vortrag mit knarzender Stimme. Er startete den Computer. Auf dem Bildschirm erschien die Luftaufnahme einer irdischen Stadt. Die Häuser standen dicht beisammen. Um die Stadt herum gab es enorm viel Wald. Shabbadag erkannte den Ort auf den ersten Blick. Die Stadt Siegen. Dorthin flog er häufig mit Gästen von IDEALL Reisen. Er kannte sich im Siegerland bestens aus. Schließlich handelte es sich um eines seiner Fachgebiete in seiner Eigenschaft als Reiseführer. In Siegen zeigte er den Reisenden die beiden Schlösser, die „Unteres Schloss“ und „Oberes Schloss“ heißen. Er überflog gerne das Wahrzeichen der Stadt, „Das Krönchen“, eine vergoldete Krone auf der Kirchturmspitze der Nikolaikirche. Siegen ist bei Terranern ein sehr beliebtes Ziel. Die Stadt ähnelt topographisch auf verblüffende Weise Terras Hauptstadt Terrarium. Interessanterweise gleichen sich sogar Namen. So ist die Universität der Stadt Siegen auf einem Berg ansässig, der Haardter Berg genannt wird. Die „Kackda Janethin Unität“ in Terrarium steht auf dem Harteberg. Statt eines Griesbergs wie in Terrarium, gibt es in Siegen einen Giersberg. Aber ohne Oberstübchen. Gravierende Unterschiede zwischen den Städten gibt es allerdings gleichermaßen. Während Terrarium ganzjährig ein angenehmes mediterranes Klima hat, ist das Wetter Siegens das glatte Gegenteil. Eingerahmt von Westerwald, Sauerland und am Rande des Rothaargebirges gelegen, regnet es häufig und im langen Winter schneit es oft ausgiebig.

„Das Siegerland, ist euer Ziel!“, sagte Kurt Sichtig kurz und knapp und zeigte einige Fotos. „Wir haben uns unter anderem für das Siegerland entschieden, weil Shabbadag sich dort sehr gut auskennt. Wir möchten speziell in Siegen einige Dinge näher kennenlernen. Ihr werdet Schäden durch Spätfolgen des Bergbaus erforschen und wegen der Probleme die wir mit dem Bumskopf haben, im Siegerland vergleichende Studien in der dortigen Wisent Welt vornehmen. Zu allem erfahrt ihr in den kommenden Tagen mehr.“ Militärisch knapp und ebenso deutlich umriss Kurt Sichtig die Ziele der Expedition. Jetzt machte er mit Details weiter. Es folgten Beschreibungen der Siegerländer Landschaft, die für Shabbadag nicht neu waren. Darum hörte er bloß mit halber Aufmerksamkeit zu. Stattdessen widmete er sich Angenehmerem. Froni! Er schaute sie an. Sie bemerkte seine schmachtenden Blicke nicht, weil ihre Konzentration dem Vortrag galt. Für Froni war alles aufregend und neu. Shabbadag fiel ein, dass er überhaupt nicht exakt wusste, warum Froni zum Expeditionsteam gehört! Sie ist die Nichte des Oberbürgers, doch das reicht, bei aller Sympathie, die er für sie hegt, nicht als Qualifikation für eine solche Unternehmung! Bisher richtete er seine volle Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre wunderschöne Erscheinung, die ihn seit ihrer ersten Begegnung in ihren Bann zog. Allein dieses Stimulans trug Schuld daran, warum er bis jetzt nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendete, welche Rolle sie eigentlich bei der Expedition spielte. Aus welchem Grund sollte sie Mitglied des Expeditionsteams sein? Was qualifizierte diese junge Frau dazu? Shabbadag nahm sich vor, es baldmöglichst in Erfahrung zu bringen. Bis dahin schaute er sie weiter an und nahm mit klopfendem Herzen ihr Bild in sich auf.

Shabbadag langweilte sich fürchterlich beim Vortrag von Kurt Sichtig. Darum widmete er sich seinem Hobby, dem Dennissport. Heimlich aktivierte er unter dem Tisch seinen brandneuen Klapphirn Minicomputer und suchte die Dennisergebnisse vom Wochenende. Dazu kam er bis dato nicht. Die Dennissaison näherte sich dem Ende. Sein Lieblingsverein, Dennisclub Zweitracht Prügel, besaß gute Chancen, die Meisterschaft zu gewinnen. Vorausgesetzt die Neureichen von RB Spreiztsich machten ihnen nicht einen Strich durch die Rechnung.

Die Expedition

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