Читать книгу die gekachelte Sonne - B. Born - Страница 4

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Zurück in seiner Wohnung schüttete Peter eine Büchse Rindfleisch in einen dampfenden Nudelhaufen, rührte alles mit Ketchup bei schwacher Hitze um, streute Parmesankäse darüber, nahm den Topf mit ins Zimmer, setzte sich auf die Kante seiner Matratze, stellte den Topf auf ein Brettchen neben sich, aß und sah eine Serie. Bald wechselte er zu den Nachrichten, indem er den Knopf mit dem Zeh drückte.

Hinterher kochte er Wasser im Kochendwassergerät in der Küche, goss damitTee auf, drückte Zitronensaft hinein, ließ den Rest des Wassers in das emaillierte Blechwaschbecken ein, mischte kaltes hinzu, spülte seinen Teller und den Topf, befreite die Spiegelkachel vom Kondenswasser und rasierte sich nass.

Wütend darüber, dass der Tag schon wieder vorbei war, legte er ‚Evol‘ von ‚Sonic Youth‘ auf, drehte die Lautstärke hoch, las Parmenides in deutscher Übersetzung und ärgerte sich noch mehr, weil er kein Altgriechisch gelernt hatte.

Er las, ohne das Gelesene in den Kopf zu bekommen, zündete ein Räucherstäbchen an, fing noch einmal an und erwischte sich dabei, wie seine Gedanken wieder abgeschweift waren.

Die Plattenseite war zu Ende und er öffnete ein Bier. Nun ging es etwas besser. Eine gute Stunde las er und machte Notizen, bis Schmerzen seine Halswirbelsäule hinaufwanderten und sich im Hinterkopf einnisteten. Um neun spähte er aus dem Fenster, ob bei Beate Licht brannte. Sie war tatsächlich zu Hause, aber er zwang sich nicht anzurufen, sondern weiterzumachen.

Bald gab er auf und ging zum ‚Passagenkino‘.

„Hi. Ich hab‘ jetzt grad‘ zu tun. Hier ist ne Karte für die Spätvorstellung“, sagte Padmann und stellte Peter auch ein Bier hin.

Der Film war so albern, dass Peter es fast nicht bis zum Ende ausgehalten hätte.

Hinterher gab ihm Padberg ein neues Bier und Peter wartete, bis er die Abrechnung für den Abend gemacht hatte.

„Du, ich muss jetzt los. Ich will noch zum Ku'damm ins Kasino“, sagte er.

„Hä? Spielst du Roulette oder was?“

„Getroffen.“

„Und? Gewinnst du etwa?“ fragte Peter ungläubig lachend.

„Oft. Aber nicht wie in Australien, wo ich mal an einem Abend 30 000 Dollar gewonnen habe. Aber ich brauche unbedingt Geld. Spätestens nächsten Herbst muss ich hier raus, sonst raste ich echt aus.“

„Lassen die dich denn so ins Kasino?“ fragte Peter auf seine Jeansjacke deutend.

„Nee, du brauchst ne Krawatte. Ich zieh‘ mich im Taxi um. Ich hab‘ alles dabei.“ Er hob einen Rucksack hoch. „Komm doch mit!“

Peter wollte nicht.

An seinem Erledigungstag presste er in einem Supermarkt auf der Sonnenallee einen Einkaufswagen durch enge mit Oma-Bremsklötzen gesäumte Gänge. Hektisch sammelte er zusammen, was er die nächsten zwei Wochen brauchen würde, Blumenkohl, Zitronen, fünf Packungen Fischstäbchen der hauseigenen Billigmarke, Orangensaft auch die Ohne-Namen-Variante, fünf Dosen Spagetti gleich mit Tomatensoße darin, nur noch aufzuwärmen, vier Flaschen Cava – Sekt, Chips, Erdnusslocken, drei Dosen Rindfleisch aus Bundeswehrbeständen. Nur eine Kasse hatte offen. Es wurde über das Wetter geplaudert, über einen geplanten Skiurlaub im Schwarzwald und über das Alles-wird-teurer-Thema.

Peter tagträumte einen Schwatz mit der Kassiererin: „Hach, einkaufen ist doch eine echt miese Tätigkeit, schlimmer als putzen. Finden Sie nicht? Und Kleidung kaufen ist am Abscheulichsten von allem. Nicht auf dem Flohmarkt, das mein ich nicht, da ist es ja ein Teil eines Spaziergangs, aber Klamottenabteilungen in Kaufhäusern oder Boutiquen, die verursachen mir einen echten Brechreiz. Da lungern Verkäuferzombies rum, die einem unbedingt etwas andrehen wollen und hinter getönten Scheiben lauern Aufpasser. Wohltuende Gerüche werden versprüht und das Kunstlicht retuschiert alles....“

Als er an der Reihe war, knöpfte die Kassiererin den obersten Knopf an ihrem Kittel zu, befingerte einen ihrer Ohrringe: eine orange Feder an einem Silberring, und starrte eine Weile ins Leere, bis sie endlich anfing, die Waren über den Laserstrahl des Piepsgeräts zu schieben.

„Jeeht das och schneller! Mach doch mal die anderen Kassen uff“ schrie ein Mann von hinten.

„Hälst es keene fünf Minuten ohne deenen Stoff aus wat?“ fauchte die Kassiererin zurück und „Macht 70.65“ zu Peter.

Er gab widerwillig einen Hundertmarkschein hin und verstaute alles in seine mitgebrachten Tragetaschen.

Vor dem Laden hängte er sie an den Lenker seines Fahrrads. Da an jeder Seite vier Taschen hingen, wurde selbst das Schieben zu einem Balanceakt. Das Gewimmel von einkaufswütigen Menschen machte es nicht leichter. Hunde, hinterher oder vor sich her bewegte Einkaufsroller und Kinderwägen. Die Neuköllnerinnen griesgrämig schnalzend, voller Abszesse, die türkischen Frauen fett, mit Kopftüchern und pausenlos plappernd. Männer öffneten Kofferräume oder Motorhauben, parkten ein oder gurkten scheinbar ziellos herum.

Im Treppenhaus lehnte er das Fahrrad an die Wand, schleppte die Hälfte der Taschen hoch und hetzte besorgt wieder hinunter, denn letzten Monat war ihm der zweite Teil seines Einkaufs gestohlen worden. Dabei hatte er vorher die Haustür zugedrückt, weshalb er annahm, dass es jemand aus dem Haus gewesen sein musste.

Als alles eingeräumt war, nahm er Stiefel, die er beim Schuhmacher neu besohlen lassen wollte und eilte wieder los.

Eine Fußgängerampel hatte rot, aber er ging trotzdem hinüber. Auf der anderen Seite stand ein Polizist mit einer Ledertasche, der ihn anranzte:

„Sie wissen, dass das verboten ist!“

„Ja, tschuldigung“, beeilte sich Peter zu sagen.

„Macht also 50 Mark“, sagte der Polizist trocken, „geben Sie mal Ihren Ausweis her.“

„Was! Ist doch gar nichts passiert! Ich mach‘s auch nie wieder!“ erwiderte Peter.

„Das ist mir wurscht, werden Se nich‘ patzig, sonst wird‘s teurer. Den Ausweis, also.“

„Den hab‘ ich jetzt grad‘ nicht dabei“, sagte Peter und im nächsten Augenblick rannte er los über die Kreuzung, Autos hupten, in die nächste Seitenstraße, am Gardinengeschäft vorbei und nach rechts in die Vorhalle des Rathaus Neuköllns. Der Polizist hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihm zu folgen.

An einer Steinsäule schnappte er nach Luft. „Mist!“ fluchte er. Jeder Schritt hallte und er drehte sich zittrig eine Zigarette. Eine Hochzeitsgesellschaft kam durch die Drehtür herein. Die Braut in Rosa kicherte hysterisch und Peter bahnte sich einen Weg ins Freie.

Auf der Straße prallte er fast mit Beate zusammen.

„Hi“, sagte sie und machte einen Augenaufschlag aus der Rubrik ‚geheimnisvoll‘.

‚Damit beißt du auf Granit‘, dachte Peter und sagte: „Na, wie steht‘s! Poh, mir ist da grad‘ was passiert...“ und er erzählte die Geschichte mit dem Polizisten.

„Irre“, sagte Beate nicht sehr aufmerksam. „Hast du grad‘ was vor?“

„Na ja, ich wollt‘ zum Schuhmacher, zur Post und ...“.

„Ich will in den Pornoladen da drüben“, unterbrach Beate ihn und zeigte auf das Geschäft, das direkt gegenüber vom Standesamt neulich aufgemacht hatte. Im Fenster stand eine Frauenpuppe in Dessous und Strapsen vor einem dunkelroten Vorhang.

„Das ist nicht dein Ernst“, schmunzelte Peter.

„In letzter Zeit habe ich viel nachgedacht“, fuhr Beate fort, „und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ein seelischer Krüppel bin und frigide dazu.“ Peter sah sie erwartungsvoll an.

„Was ist nun?“, sagte sie wirsch, „ich hab‘ etwas Schiss da allein reinzugehen!“

„Okay, okay“, willigte Peter ein.

Die Ladentür klingelte freundlich beim Eintreten. Auf Auslagebrettern, akkurat nebeneinander ausgerichtet, lagen Pornomagazine. Weiter unten gab es Sachen wie Dildos und Gleitcremes. Die Frau hinter der Kasse am Eingang beäugte sie feindselig. Ihre Schminke war verkrustet und ihre hochgestützten Mammutbrüste stellten sich auf wie bei einer Oktoberfest-Zeltbedienung. Beate schlenderte betont lässig umher, während Peter mitten im Laden stehen blieb, seine Tasche mit den Stiefeln über die Schulter hängte und sein bestes Ichhabdamitnichtszutun-Gesicht machte.

„Ich suche was, was Frauen antörnt. Dies hier scheint mir alles mehr für Männer zu sein“, sagte Beate an die Verkäuferin gewandt. Die schlug ihre aufgeklebten Wimpern zu. Peter spürte, wie er rot wurde.

„Da inner Ecke Schätzchen sind Hefte speziell för die Dame. Jipt‘s och Komplett-Pakete“, sagte sie mit piepsiger Stimme.

Aus den hinteren Räumen erschien ein Goldkettchen-Muskelprotz. Er verschränkte seine Arme, sein T-Shirt spannte, sein Blick heftete sich an Peter und ruhte dort. Peter tat so, als würde er den Vorhang am Fenster ungemein interessant finden, bis ihm Beate ein ‚Komplett-Paket‘: ein Dildo, zwei Metallkugeln an einem Band und drei Pornohefte, unter die Nase hielt. „Viele Schwänze!“ stand mit großen Lettern auf einem Etikett. Peter fragte sich sofort, ob die Verkäuferin oder der Mann abends in der guten Stube Pornos nach Frauentauglichkeit durchblätterte und mit einem Plastikeinschweißgerät eintütete.

„Wofür sind wohl die Kugeln?“ fragte Beate und als Peter die Achseln zuckte, fragte sie die Kassiererin. Die erklärte in breitem Berlinerisch, dass sie aus China kämen und wie gut es wäre, wenn man sie ‚drinnen‘ hätte und zum Beispiel ‚einkoofen‘ ginge. Ohne länger zu zögern, zückte Beate die ausgepreisten 35 Mark aus ihrem kleinen Strickbeutelchen und legte sie, dabei ein zweites mal sorgfältig durchzählend, auf den Tresen.

„Ciao Kleene“, rief die Frau, als sie durch die Klingeltür, das Geschäft verließen.

„Kommst du noch mit zu mir?“ fragte sie als nächstes. Ängstlich blickte Peter in eine Seitenstraße, ob der Polizist noch irgendwo lauerte.

„Aber nur ganz kurz“, antwortete er und schon bereute er es.

„Kannst du das einpacken?“ fragte Beate und überreichte Peter die Pornotüte. Er stopfte sie zu den abgelatschten Stiefeln.

Die ganze Straße duftete nach türkischen Backwaren und sie kauften einige der klebrigen, mit grünen und weißen Raspeln bestreuten Teilchen.

In dem Eckhaus, in dem sie wohnten, Peter auf der einen Seite und Beate auf der anderen, war unten ein Möbelgeschäft. Sie feixten über die altmodischen und ultrahässlichen Sessel, Lampen, Zeitungsständer, Fußpucks und Regale. Der einzige Verkäufer in einem braunen Anzug zog eine Grimasse. Beate streckte ihre Zunge raus und Peter versuchte ihr den Mund zuzuhalten, was in einen neckischen Ringkampf ausartete.

Beate setzte den Wasserkessel auf und Peter knipste die Schreibtischlampe an - zweimal, da er erst dachte, sie sei kaputt, aber das Licht der Birne war so schwach, dass er es nicht wahrgenommen hatte. Er sank in einen Sessel, der in Hannover ihm gehört hatte. Rechts war er ein Klappaschenbecher befestigt, den er auf einer Interrail-Reise in einem griechischen Zug abgeschraubt hatte. Der Kater sprang auf seinen Schoß und Peter, der an einem Honiggebäck knabberte, sah in seinem Kopf Bilder von Thessaloniki nach dem Erdbeben. Das war im Juli 1978 gewesen. Der Bahnhof hatte einen Monat nach dem Beben soweit wieder funktioniert, dass Züge hielten. Der Rest der Stadt war aber in Trümmern gewesen. Es hatte wie nach einer Bombe ausgesehen. Er war mit Tobias und zwei anderen Freunden dort gewesen und man hatte sie daran gehindert, das Bahnhofsgelände zu verlassen. Der Kater schnurrte, streckte sich, tat so, als wolle er sich einrollen, bis er neurotisch seine Zähne in Peters Arm hackte. Aber die Jacke war zu dick für ihn und so schüttelte Peter ihn ab.

„Mal sehen, wie die Kugeln funktionieren“, sagte Beate, riss die Folie auf, nahm die Kugeln heraus und schlurfte in löchrigen Plüschpantoffeln zum Badezimmer.

Als sie wiederkam, hatte sie ein verkniffenes Gesicht.

„Und?“ fragte Peter amüsiert.

„Hm. Kalt und tut etwas weh. Muss man mehr damit rumlaufen?“

„Woher soll ich das wissen“, antwortete er.

„Sei nicht so gemein, schließlich mache ich das für dich“, sagte Beate.

„Für mich! Du spinnst wohl! Wieso für mich?“

„Damit ich einen hoch kriege und wir eine normale Beziehung haben können“, sagte Beate verlegen.

„Ich dachte, unsere Beziehung ist vorbei. Ein-für-alle-mal!“

Schluchzend warf sie sich hin. Peter eilte in die Küche, da der Kessel zu pfeifen angefangen hatte. Mit Tee kehrte er zurück. Da sie unverändert wimmerte, setzte er sich auf einen Stuhl und starrte den Tisch an. Der hatte eine Messingkante und runde Ecken. Das Glas der Platte war von unten schwarz lackiert und hatte feine Ziselierungen. Mit dem Finger drehte er Kreise und schielte in eine Telefonrechnung. Er zündete einige Kerzen an und knibbelte am Wachs. Da sie einfach nicht aufhörte zu heulen, gab er irgendwann widerwillig nach. Er setzte sich zu ihr hinunter und legte tröstend einen Arm um sie.

„Ich bin krank und keiner kann mir helfen“, wimmerte sie, das Gesicht nass mit von Schminke schwarzen Tränen.

„Du nimmst das alles zu ernst“, beruhigte er sie. „Irgendwann kommt der Richtige und alles ist in Butter.“

„Aber vielleicht bist du ja doch der Richtige“, erwiderte sie.

„Lass uns nicht wieder damit anfangen“, sagte er, „du weißt, es klappt nicht zwischen uns. Jedes Mal wenn wir dachten, wir probieren es noch einmal, ist der Traum in Nullkommanichts wieder zerplatzt. Ich hasse dieses ewige Trennen.“

Beate umklammerte ihn fester und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Draußen war es dunkel geworden und von den Kerzen brannte nur noch eine.

Als Peter die Nähe nicht länger aushielt, sprang er auf und sagte: „Lass mich schnell rüberhechten, ich hab‘ Sekt gekauft, den hol‘ ich.“

Beate trocknete mit dem Ärmel ihrer burgunderroten, Samtbluse ihr Gesicht und sah ihn fest an.

„Aber beeil‘ dich“, flüsterte sie.

Sie tranken und rauchten, bis die Wohnung nebelig geworden war. Beschwipst kochte Beate Spagetti und wärmte eine Büchse Erbsen und Möhren auf. Peter heizte den Kachelofen neu an und öffnete mit einem Zisch eine Dose Billigbier, die er gefunden hatte, als er stolz die Tamponbestände in ihrer Speisekammer kontrolliert hatte.

„Bitte bleib' heute Nacht bei mir“, flehte Beate nach dem Essen, „du kannst auch mit mir machen, was du willst.“ Sie zog ihre T-Shirts aus. Peter grübelte nach einer Ausrede, aber es fiel ihm keine geeignete ein. Nackt rannte sie ins Schlafzimmer und schlüpfte in ihr Bett. Zögernd zog er sich auch aus und folgte ihr. Sie blätterten zusammen in den Pornoheften. Er bemühte sich, bei den eigentlich ganz und gar abstoßenden Fotos, keine Erektion zu bekommen. Beate zog die Metallkugeln aus sich heraus und forderte Peter auf, den Dildo mit den beigelegten Batterien zu füllen. Das vibrierende Gerät machte ein ätzendes Motorengeräusch und sie verkrampfte sich. Peter nahm ihr die Maschine ab und streichelte ihr über den Rücken.

„Warum erregen dich solche Fotos bloß?“ fragte sie und warf zornig eins der Hefte an die Wand. Sie heulte los und er tröstete sie. Dabei entdeckte er frische wulstige Narben, die von Schnitten stammen mussten, die sie sich in den letzten Wochen, zugefügt haben musste. Aggressiv riss sie den Arm weg, als wolle sie nicht, dass er sich das ansah. Aber nach einer langen Tröstphase wollte sie sogar, dass er die Narben küsste. Angeekelt legte er seinen Mund darauf. Sie steigerten sich in ein Vorspiel, bis sie flüsterte: „Du tust mir weh“ und sich wegdrehte. Enttäuscht knetete Peter ihre Brust. Als auch noch der Kater fauchte, war er den Tränen nahe. Er richtete sich auf und wollte sich aus dem Zimmer schleichen, als Beate rief: „Nimm bloß deine Hefte mit!“

Er überquerte den Hof. In seiner Wohnung schaltete er den Fernseher an, öffnete ein Bier und onanierte zu allem Weiblichen, was die Pornos hergaben.


Sabrina und Gogo zogen um. Peter hatte überhaupt keine Lust zu helfen, denn sie beabsichtigten ihre Ledersofagarnitur mitzunehmen.

Er kam absichtlich viel zu spät. Um abgehetzt zu wirken, nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Als er eintrat, hockten jedoch, zu seinem blanken Entsetzen, alle noch auf dem Küchenboden, tranken gemütlich Tee und verzehrten Marmeladenbrote. Was ihn aber richtig aufbrachte, war die Tatsache, dass Beate auch da war. Sie warf ihm einen abschätzigen Blick zu und er ihr einen strafenden zurück.

„Ah hi“, grüßte er eingeschnappt die Runde. Ramona saß neben Beate und neben ihr saß Lise, alle drei im Schneidersitz. Lise war wie Ramona eine Exfreundin von Gogo, noch aus Schulzeiten. Sie erwiderte rotzig: „Mann endlich, wird aber auch Zeit, dass du kommst.“ Ihr rotes Haar glühte.

‚Was für eine Klickenwirtschaft‘ dachte Peter, lehnte sich salopp an den Herd und stammelte, dass er eine schwere Nacht gehabt hätte und um schlechte Laune zu verbreiten, berichtete er von seinem Erlebnis in der U-Bahn: „Da lag eine Drogenfrau in der Station am Kotti. Sie wirkte ohnmächtig oder tot und hatte eine Spritze zwischen ihren Beinen hängen. Konnte man sehen, weil ihr Minirock hochgerutscht war. Dann kamen Wachdienstleute und plötzlich hat sie einem von ihnen voll die Spritze ins Bein gerammt.“ Gogo lachte sarkastisch.

„Das ist ja schrecklich“, kommentierte Ramona und nahm die Sache zum Anlass noch eine Zigarette zu drehen. Wie Beate hatte sie an ihrem Handgelenk einen kleinen gestrickten Beutel hängen, der das Geld und den Tabak enthielt.

„Dann wollen wir mal“, kommandierte Sabrina schließlich, „Gogo holt den Pritschenwagen und wir tragen schon mal alles nach unten.“

Sie hievten Bücherkisten, Geschirrkisten, zwei Kommoden, Stühle, Koffer, Tische und ein Bett auf die Straße. Die Ledersessel ließen sie die Treppen hinterrutschen.

Als Gogo mit dem gemieteten Wagen zurückkam, luden Sabrina und die anderen Frauen die Sachen auf und Peter und Gogo wuchteten das Sofa runter. Es passte nur um die Ecken des Hausflurs, wenn man es an einer Seite aufrichtete. Anschließend hieß es auf einmal: der Küchenschrank, ein angebliches Erbstück von Sabrinas Oma, müsse auch noch mit. Peter war vollends bedient.

Sabrina, Ramona und Gogo fuhren mit im Laster in die neue Wohnung, die im Hinterhaus des letzten Hauses in der Selchower Straße in Neukölln lag. Beate, Lise und Peter nahmen die U-Bahn. Lise plauderte über ihr Medizinstudium, das sie wegen des Numerus Clausus, in Italien angefangen hatte. Nach der Zwischenprüfung war sie nach Berlin gekommen. Beate lief vor Eifersucht rot an.

Sie asteten alles in den zweiten Stock. Das Sofa passte nicht durch den Hausflur und musste auf der Straße stehen bleiben.

Sabrina räumte eine Geschirrkiste aus, stellte Bier hin und schmierte Schmalzbrote.

Gogo plusterte sich auf und führte die Frauen herum. Mit einer Hand zwirbelte er seine dunklen Locken, mit der anderen veranschaulichte er tückische Renovierprobleme und wie sie sie gemeistert hätten. Vom schattigen Hof dudelte arabische Musik herauf.

Als Beate mit Ramona tuschelte, fragte Peter Lise, ob sie beim Studium auch mit Leichen hantieren müsse. Sie nickte und ihr schmaler, kirschroter Mund wurde etwas dicker. Sie fragte, warum er sich dafür interessiere.

„Keine Ahnung, als Künstler vielleicht“, antwortete Peter unsicher, „oder weil ich mich gerade mit dem ‚Nichts‘ beschäftige. Ich habe noch nie einen toten Körper gesehen und das finde ich nicht richtig. Der Tod gehört zu unserem Alltag, aber ich fühle mich davon abgeschirmt.“ Lise lachte kratzig auf.

„Komm mich doch mal in der Pathologie besuchen. Ich frag‘ mal, ob Gäste erlaubt sind. Aber ich denke, das ist okay.“ Sie schrieb ihm ihre Telefonnummer auf.

„Ich hab‘ gehört, ihr wollt eine Band aufmachen“, wechselte sie das Thema.

„Dieses Projekt steckt noch in den Kinderschuhen“, sagte Peter.

„Vielleicht kann ich ja bei euch singen. Ich habe leider nicht allzu viel Zeit, aber ab und zu mal, fände ich das toll“, sagte sie. Beate und Ramona unterbrachen ihr Gespräch und starrten sie an, als wäre sie ein Zombie.

„Warum nicht“, sagte Peter belustigt.

„Super. Ich geh‘ dann mal“, rief sie und sprang auf. Gogo brachte sie raus.

„Sie hält es nirgends länger aus als nötig“, sagte er, als er wiederkam und Beate bekräftigte, dass sie auf keinen Fall in der Band singen wolle, wenn Lise auch mitmache. Worauf Peter von der Chance sprach, durch Gastmusiker viel lernen zu können, was Beate vollends auf die Palme brachte. Ramona, die einen Streit verhindern wollte, muckierte sich, dass sie zwar Schlagzeug spielen wolle, aber keins hätte. Die Übungsraumsuche wäre ja wohl bisher auch erfolglos gewesen.

„Es hatt' sich ja auch niemand darum gekümmert“, mischte sich Gogo ein.

Beate und Ramona brachen auf. Sabrina kommandierte Gogo in die Küche ab, um weitere Kisten auszuräumen. Peter hatte sich in einen der unendlich tiefen und unendlich unbequemen Sessel fallen lassen, wo er die Arme, um sie auf die Lehne zu bekommen, fast ausrenken musste. Sabrina überraschte ihn mit der Frage, ob er mit ihr ins Kino gehen wolle.

„Hm“, stutzte er, „was für ein Film denn?“

„Was Erotisches!“ sagte sie und zog eine Strickjacke über ihr ärmelloses T-Shirt.

„Nur wir beide?“ fragte er mit faltiger Stirn.

„Was ist schon dabei?“ sagte Sabrina. „Gogo geht doch auch mit anderen Frauen aus. Wir sind da ganz tolerant.“

„Trotzdem komisch, wenn wir zusammen in einen Sexfilm gehen“, sagte er.

„Ach, zier dich nicht. Ich mein ja kein Porno“, erwiderte sie. „Schräge erotische Filme machen mir Spaß. Mein Lieblingsfilm ist ‚Deep Throat‘. Den hab ich schon drei mal gesehen. Ist echt fun. Gogo hat mir erzählt, dass du letzte Woche ‚Im Reich der Sinne‘ warst.“

Es stimmte, er hatte bis spät Thomas von Aquin gelesen und war dann, um abzuschalten, in ein nahe gelegenes Off-Kino gegangen.

Er versprach sich die Sache zu überlegen.

Als der Wecker um halb 8 klingelte, konnte Peter es nicht fassen. Er quälte sich aus dem Bett, machte sich fertig und verfluchte Vorlesungen, die um 9 anfingen.

Im U-Bahnhof Karl-Marx-Straße wurde träges, ja kriechendes, grünliches Licht von gelbgrünen Kacheln reflektiert. Plakatwände zeigten Baumarktwerbung, Zigarettenwerbung, Zahncremewerbung. Er überflog die Schlagzeilen der Zeitungen am Kiosk. Mäuse rannten vor einer einfahrenden Bahn davon. Gedränge. „Zurückbleiben.“ Er las einige Zeilen in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Aber: einer stank bestialisch nach Fäkalien, eine schrie betrunken und zahnlos, ein Kind ließ ihren Keks fallen, kriegte dafür eine gescheuert und schrie wie am Spieß.

Steinert war in eine WG in der Zossener Straße gezogen. In der anderen Wohnung hatte er es keine fünf Monate ausgehalten. Natürlich hatte Peter geholfen. Er hatte davon zwei Tage Muskelkater gehabt, da Massen von Bücherkisten aus dem vierten Stock in den vierten Stock gebracht werden mussten.

An der Station Gneisenaustraße stieg er aus und ging nach vorne raus. Die hohen Altbauhäuser standen weit auseinander und eine weißliche Morgensonne flutete die Straßenmitte. Ganz euphorisch über so viel Licht klingelte er. Als nichts geschah, drückte er noch mal länger den Klingelknopf und überlegte, ob es wohl Sinn mache hochzurufen. Endlich ertönte der Summer - aber zu kurz, er verpasste ihn und musste erneut klingeln. Als wieder der Summer ging, stemmte er sich rechtzeitig gegen die riesige Haustür.

Oben trat er ein. Steinert grinste mit einem Mund voller Zahncreme aus dem Badezimmer.

„Hi“, sagte Peter irritiert und ging in die Küche. In der Spüle stapelte sich dreckiges Geschirr. Ein mit Kippen und Asche überquellender schwerer Porzellan-Aschenbecher mit einem Henkel, den mit roter Schnörkelschrift das Wort ‚Stammtisch‘ zierte, stand mitten auf dem runden Plastiktisch. Peter ließ sich auf einen Klappstuhl plumpsen.

Steinert trug nur eine karierte Boxershorts und strich sich über die kahle Brust.

„Na“, grinste er und zog aus dem Geschirrberg zwei Tassen hervor. Er spülte sie nicht, das wäre ihm auch gar nicht geglückt, ohne vorher den Berg zu verkleinern, und setzte Wasser auf.

die gekachelte Sonne

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