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Die Geburt Samaels: 1,1-83

1Der schmerzerfüllte Schrei eines Kindes riss Samael aus dem Schlaf. Es folgte ein lautes Klatschen wie von einer Ohrfeige und schließlich Stille. Totenstille. So ging das jeden Morgen, seit Samael vor ein paar Jahren in diese Gegend gezogen war. Und auch der Morgen vor Heiligabend machte da keine Ausnahme.

Kraftlos tastete Samael auf dem Nachttisch herum, während das unerträgliche Pochen in seinem Kopf immer stärker wurde. Mühsam versuchte er sich zu erinnern, was am gestrigen Tag geschehen war. Sein Bett roch nach Alkohol und Schweiß. Blind fanden seine Finger, wonach sie gesucht hatten, und Samael setzte sich auf. Mit dem letzten Schluck abgestandenen Whiskys aus einer Pulle neben seinem Bett spülte er die Schmerztabletten hinunter. Benommen blinzelte er. Überall in seinem Appartement lagen schmutzige Klamotten und leere Flaschen herum. Die Wände waren unverputzt und kahl. Dasselbe Drecksloch wie immer.

Stöhnend warf Samael einen Blick auf die verstaubte Uhr, die auf seinem Nachttisch stand. Es war 6:00 Uhr morgens. Daneben lag der silberne Revolver, den er für seine Aufträge benötigte. Mit schwerfälligen Bewegungen griff er nach ihm und ließ die Munitionstrommel aufschnappen. Eine der Kugeln fehlte. Krampfhaft versuchte sich Samael zu erinnern, was mit ihr geschehen war. Es durchzuckte ihn wie ein Blitz. Hektisch riss er die Schublade seines Nachttisches auf und spähte hinein. In einem blutverschmierten Knäuel aus Zeitungspapier fand er, was er gesucht hatte. Erschöpft ließ er sich zurück auf seine Matratze fallen. Lichtblitze tanzten vor seinen Augen herum wie nach einem schlechten Trip.

Einige Minuten vergingen, bevor sich Samael erneut aus seinem Bett stemmte, um mühsam durch den verwahrlosten Raum zu wanken. Vom Boden schnappte er sich ein abgewetztes Sweatshirt und eine löchrige Hose, mit denen er im angrenzenden Bad verschwand. Die Neonröhre an der Decke flackerte und ließ den kleinen Raum noch kälter und beklemmender wirken, als er ohnehin schon war. Ihr schwacher Schein beleuchtete die dreckigen Fliesen an den Wänden und offenbarte so die geronnenen Spuren längst vergangener Heimarbeit. Die verrosteten Wasserrohre an der Decke ließen das Ganze wie eine Kulisse aus der Saw-Reihe wirken. Aus dem ersten Teil, wohlgemerkt, nicht aus einer der mittelmäßigen Fortsetzungen.

Ein flüchtiger Blick in den zerbrochenen Spiegel über dem rissigen Waschbecken konfrontierte Samael mit den Folgen des vergangenen Abends. Überall in seinem Gesicht waren feine Blutspritzer verteilt, die auf eine heftige Auseinandersetzung hindeuteten. Natürlich nur, bis er sie mit einem schnellen Schuss beendet hatte. Doch auch ansonsten wirkte Samael für seine 23 Jahre nicht gerade vertrauenerweckend. Er hatte kühle, stahlblaue Augen und aschblondes, ungepflegtes Haar, das ihm wild ins Gesicht hing. Sein muskulöser Oberkörper war über und über mit Tattoos versehen, für jedes seiner Opfer eins. Nicht dass er sich um sie scherte, doch eine kleine Erinnerung an die wenigen Erfolge in seinem Leben brauchte selbst er. Und auch heute Mittag würde er wieder im Tattoostudio seines Vertrauens vorbeischauen müssen.

Gleichgültig trat Samael unter die schimmlige Dusche und drehte den Wasserhahn auf. Wenn er heute noch aus dem Haus wollte, musste er zumindest das Blut loswerden. Das eiskalte Wasser lief seinen narbigen Nacken hinab, während er wie so oft über sein Leben nachdachte. Vor 15 Jahren hatte es eine elende Wendung genommen und schuld daran war zweifelsohne das Auftauchen dieses Fremden gewesen. Damals war Samaels Vater noch ein berühmter Arzt gewesen, doch mit jenem Tag hatte ihr sozialer Abstieg begonnen. Der Fremde hatte Samaels Vater in kriminelle Machenschaften hineingezogen, woraufhin dieser seine Zulassung verloren hatte und die familieneigene Klinik bankrottgegangen war. Samaels Vater hatte untertauchen müssen – hatte ihre Familie im Stich gelassen – und hatte damit das Schicksal von Samaels Mutter besiegelt. Wenige Monate nach seinem Verschwinden war sie am Broken-Heart-Syndrom gestorben. Den damals achtjährigen Samael hatte man in ein Waisenhaus gesteckt, während sein Vater dem Suff, der Kriminalität und der Gleichgültigkeit zum Opfer gefallen war. Seitdem war kein Tag mehr vergangen, an dem Samael dem unheilbringenden Fremden nicht den Tod gewünscht hatte. Samael suchte nach ihm, um ihn für das, was er getan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Er wollte ihn dazu bringen, all das rückgängig zu machen. Doch bisher hatte Samael keinen Hinweis auf den Verbleib dieses Scheusals entdecken können.

Nachdenklich stieg Samael aus der Dusche, wobei er aufpassen musste, dass er mit seinen nackten Füßen nicht auf die vereinzelt herumliegenden Scherben des zerbrochenen Spiegels trat. Schon oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, die scharfkantigen Splitter wegzuräumen, aber irgendwie gehörten sie inzwischen genauso zum Inventar wie die weiße Kreidesilhouette unter dem Schlafzimmerfenster, die ihm der Vormieter freundlicherweise hinterlassen hatte. Damals war Samael hierhergezogen, weil es das einzige Drecksloch gewesen war, das er sich nach einem seiner zahlreichen Aufenthalte im Gefängnis hatte leisten können. Inzwischen hatte Samael zwar einen Job, doch seine Schulden überstiegen seine Verdienste um Längen. Wenn er also nicht mit Betonschuhen an den Füßen im Hafenbecken landen wollte, musste er schleunigst etwas Geld verdienen. Müde zog er sich an und schlich zurück zu seinem Nachttisch, aus dessen Schublade er das blutige Knäuel Zeitungspapier fischte. Wenn er Glück hatte, würde er sich damit ein paar weitere Wochen seines schäbigen Lebens erkaufen können.

Die kalte Winterluft rauschte an Samael vorbei, als er mit seiner Harley, die er vor langer Zeit einem Hells Angel gestohlen hatte, die vereisten Straßen entlangjagte. Seine Gedanken klarten auf, doch es waren finstere Gedanken, die ihn für den heutigen Tag nichts Gutes erahnen ließen. Die rote »Weihnachtsbeleuchtung« im örtlichen Bordell erinnerte ihn daran, dass heute der heiligste Abend des Jahres sein würde, und selbst die betrunkenen Penner in den Straßengräben leisteten dieses Jahr einen Beitrag zur weihnachtlichen Atmosphäre, indem sie ihre brennenden Mülltonnen wie Lichterketten entlang der schneebedeckten Bürgersteige aufgestellt hatten. In weiter Ferne war das Geschrei eines neugeborenen Jesuskindes zu hören, das bereits in der nächsten Ausgabe der örtlichen Klatschzeitung für Schlagzeilen sorgen würde. Erfrorenes Baby vor Kirchenpforte gefunden, so in etwa stellte sich Samael die Überschrift vor – gleich hinter dem dreiteiligen Fortsetzungsartikel darüber, zu welchem Anteil Pamela Andersons Brüste aus Silikon bestanden. Natürlich unterlegt mit jeder Menge Bildern, alles in Großformat und in Farbe.

An der nächsten Abzweigung bog Samael auf den Highway ab und überlegte dabei, was der heutige Freudentag in seinem Leben verändern würde. Vermutlich würde er wie jedes Jahr in irgendeiner versifften Kneipe enden und solange Schnapsflaschen leeren, bis er tatsächlich glaubte, sein Leben hätte einen Sinn. Und am nächsten Morgen würde er in seinem eigenen Erbrochenen aufwachen und feststellen, dass er sich geirrt hatte. Niemand würde ihm helfen oder gar fröhliche Weihnachten wünschen. Er würde nur desorientiert daliegen und wissen, dass es niemanden gab, der sich einen Scheiß um ihn kümmerte. Alles, was man von ihm verlangte, war, dass er seinen Job richtig machte. Und deshalb war er jetzt auf dem Weg zu Midas, um ihm ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Samael hatte sich sogar die Mühe gemacht, es in rot verfärbtes Zeitungspapier zu verpacken, welches zuvor einmal der zweite Teil der Reportage über Pamela Andersons Brüste gewesen war.

Ruckartig betätigte Samael die Bremsen. Das Arschloch vor ihm hatte doch tatsächlich die Nerven, ohne erkennbaren Grund das Tempo zu drosseln. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Fahrer des teuren Geländewagens um einen dieser neureichen Schnösel, die sich nur in Begleitung irgendeines Flittchens zeigten, das unter Schminke lebendig begraben und von oben bis unten mit Christbaumschmuck behangen war. Hinter den getönten Scheiben war es bestimmt gerade dabei, ihren Macker auf abenteuerliche Art und Weise zu bescheren. Da konnte man nur hoffen, dass der Lippenstift dieser Schlampe kussecht war. Entnervt überholte Samael den schwarzen Geländewagen und überlegte dabei, ob er dessen Fahrer den ausgestreckten Mittelfinger zeigen sollte. In einem Anflug von Großmut entschied er sich jedoch dagegen und raste davon.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte Samael Midas umbringen wollen. Damals hatte der aufstrebende Geschäftsmann und Casinobesitzer Midas Lansky begonnen, seine Nase in die dunklen Geschäfte außerhalb seines Viertels zu stecken, was einigen Leuten überhaupt nicht gefallen hatte. Zu ihrem Pech hatte Midas jedoch mehr Geld für Samaels Dienste bezahlen können, weswegen dieser zu ihm übergelaufen war. Nach und nach hatte Midas sämtliche illegalen Geschäfte der Stadt an sich gerissen, sodass es inzwischen kaum noch Verbrechen gab, bei denen er seine Finger nicht im Spiel hatte. Samael war als eine Art Freiberufler bei ihm geblieben und erledigte seitdem die Drecksarbeit für den Paten. Er wusste, dass Midas einige mächtige Freunde besaß, mit denen er es sich nicht verscherzen sollte. Und solange die Bezahlung stimmte, sprach auch nichts dagegen, die Aufträge dieses arroganten Arschlochs weiterhin auszuführen.

Samael zuckte zusammen. Der Wagen hinter ihm hatte urplötzlich aufgeblendet. Es war derselbe schwarze Geländewagen, dem er vorhin schon begegnet war. Verfolgte man ihn etwa? Misstrauisch beobachtete Samael den Wagen im Seitenspiegel. Er fuhr schneller als Samael und kam ihm bedrohlich nahe. Es folgten ein waghalsiges Überholmanöver und schließlich die Bremse.

Hektisch riss Samael den Lenker herum. Dieses Mal hatte er keine Gelegenheit, rechtzeitig anzuhalten. Seine Harley neigte sich dem Boden zu, woraufhin die Reifen gefährlich zu schlittern begannen. Kontrollverlust. Mit einem Mal bereute Samael, dem Fahrer des Geländewagens nicht den Mittelfinger gezeigt zu haben, als er noch die Chance dazu gehabt hatte. Die Harley krachte zu Boden und Samael wurde von ihrem Sattel gerissen. Motorradjacke und Helm schützten ihn; seine Hose hatte sowieso schon Löcher gehabt. Mehrmals überschlug er sich, bis er beinahe bewusstlos liegen blieb. Er spürte, wie warmes Blut in seine Augen sickerte und seine Sicht zu verschwimmen begann. Gehupe und Geschrei drangen an seine Ohren. Dann hörte er eine Autotür.

Ein südländisch aussehender Typ mit Glatze beugte sich über Samael und aschte ihn mit den Überresten einer glimmenden Zigarette voll. So ein Mistkerl. Selbst bei dieser Kälte trug der Mann ein knallbuntes Hawaiihemd über knielangen Chinoshorts und eine Sonnenbrille, in der Samael sein eigenes blutverschmiertes Gesicht erkennen konnte. Zum ersten Mal hoffte Samael inständig, dass die Warnungen auf den Zigarettenpackungen mehr als nur bedeutungslose Sprüche waren. Die Schockbilder nicht bloß Sticker für irgendein Sammelalbum. Diesem Typen wünschte er den Krebs und die Pest an den Hals. Impotenz sowieso. Bevor Samael jedoch einen abfälligen Spruch loswerden konnte, wurde ihm schwarz vor Augen.

Als Samael wieder zu sich kam, fand er sich in einer düsteren Umgebung wieder. Sein Kopf hämmerte wie verrückt und wenn ihm nicht ohnehin schon schlecht gewesen wäre, hätte die Musik, die in zermürbender Lautstärke an seine Ohren drang, sicherlich dafür gesorgt. Marble breaks and iron bends tönte es durch den ganzen Raum.

»Ich breche euch gleich etwas«, dachte Samael gereizt, während er benommen versuchte, sich zurechtzufinden. Man hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt und auf eine rote Ledercouch gelegt, die in der hintersten Ecke eines loungeartigen Raumes stand. Mühsam hievte er sich auf, wobei er feststellen durfte, dass er wohl noch einmal Glück gehabt hatte. Ein paar Prellungen, vielleicht eine Gehirnerschütterung, damit konnte er leben. Im Sturz hatte er sich reflexartig zusammengezogen, wodurch seine inneren Organe vor nennenswerten Schäden geschützt gewesen waren.

Desorientiert schaute sich Samael um. Sein silberner Revolver lag weiter hinten auf einem Tresen vor einer Bar. Die Barhocker waren mit demselben Leder bezogen wie die Couch, sodass der Eindruck eines mehr oder weniger geschmackvoll eingerichteten Etablissements entstand. Tische, Sitzgruppen und Dekoration waren perfekt aufeinander abgestimmt und selbst die altmodische Jukebox, die neben dem Tresen stand, passte einwandfrei zu dem 50er-Jahre-Flair. Lediglich die Musikauswahl schien die eines Idioten zu sein.

»… but our love will never end«, trällerte in diesem Moment eine hohe Stimme zur Musik, kurz bevor der dazugehörige Klangkörper fröhlich durch die Tür tänzelte. Er war klein, hager und schien ein Faible für paillettenbestickte Klamotten zu haben. Sowohl Hut als auch Schuhe und Gürtel reflektierten das wenige Licht innerhalb des Raumes und ließen den schmächtigen Mann wie einen Engel erstrahlen. Mit einer Hand war er gerade dabei, seinen Hosenstall zu schließen.

»Hast du Arschloch dir wenigstens die Hände gewaschen?«, knurrte Samael aggressiv und ließ den Mann erschrocken zusammenfahren. Dieser hatte anscheinend nicht damit gerechnet, den Gefangenen bei Bewusstsein anzutreffen. Auf dem Absatz machte er kehrt und stolperte aus dem Raum. Nur sein lächerlicher Kastratensopran war noch zu hören: »Abel, der Typ ist gerade aufgewacht, was soll ich jetzt mit ihm machen?«

Unverständliches Gemurmel drang in den Raum, kurz bevor der Hawaiihemd tragende Fahrer des schwarzen Geländewagens im Türrahmen erschien. Sein Partner schlurfte ergeben hinter ihm her. Bei dem Gedanken, dass das putzige, kleine Kerlchen das Flittchen aus seiner Vorstellung war, das seinem Partner während der Fahrt einen geblasen hatte, hätte Samael beinahe gelacht. Der Südländer zog einen der Barhocker zu sich heran und setzte sich Samael gegenüber. »Ich nehme an, du weißt, warum du hier bist?«

»Ich soll den Papst umbringen, damit ihr beiden Homos endlich heiraten könnt?« Samael schaffte es einfach nicht, die beiden Trottel für voll zu nehmen.

Abel überging Samaels gehässige Bemerkung geflissentlich und beugte sich zu ihm hinab. Der beißende Geruch von billigem Rasierwasser stieg Samael in die Nase. »Du schuldest unserem Boss 20.000 Dollar. Und wir lassen dich nicht eher gehen, bis er sie hat.«

»Ach wirklich?« Samael hob skeptisch eine Augenbraue. Er hatte ja schon viele Entführungen erlebt – oder selbst durchgeführt –, aber so eine schlechte Planung war ihm dabei eher selten untergekommen. »Und wie soll ich an das Geld rankommen, wenn ihr beiden Vollpfosten mich hier gefangen haltet? Ich kann mir das Geld schließlich nicht aus dem Arsch ziehen!«

Kain – Samael hatte beschlossen, Abels putzigen Partner so zu nennen – und Abel warfen sich ratlose Blicke zu. Zugegebenermaßen hatte ihr Gefangener recht. Allerdings durfte er auch nicht vergessen, in was für einer Situation er sich gerade befand. Bedrohlich baute sich Abel vor Samael auf. Dieser Schönling – nein, diese erbärmliche Wichsvorlage würde sich nicht noch einmal über sie lustig machen!

»Ich hätte allerdings eine Idee, was wir drei Hübschen jetzt machen könnten«, säuselte Samael beschwichtigend.

»Und zwar?« Abel war sich nicht sicher, wie er jetzt reagieren sollte. Er war ein Mann fürs Grobe, von Verhandlungen hatte er keine Ahnung. Zumindest hatte man ihm bisher noch keinen Job als UN-Botschafter angeboten.

»Ich verrate es dir«, antwortete Samael und bedeutete Abel mit einem vielsagenden Blick näherzukommen. Zögernd beugte sich Abel zu ihm herab.

»Weißt du …« Samael machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich bin ein Killer!« Mit einem Mal sprang er auf und donnerte Abel die Stirn ins Gesicht. Man hörte, wie das Nasenbein knirschte und Abel fluchend zurückstolperte. Ein wenig ärztliches Talent musste Samael von seinem Vater ja geerbt haben, denn Abels Nasenscheidewand hatte diese Korrektur dringend nötig gehabt.

Samael ließ Abel keine Zeit, sein Gleichgewicht wiederzufinden und warf sich mit voller Wucht gegen ihn. Gemeinsam taumelten sie nach hinten und krachten in die Bar. Regalbretter brachen, woraufhin ein Gewitter aus Flaschen und Gläsern auf sie niederstürzte. Eine Spirituose nach der anderen zerplatzte am Boden, wo sich eine riesige Pfütze aus Scherben und Alkohol ansammelte. Mittendrin lagen Samael und Abel und wanden sich. Eine Flasche Absinth traf Abel am Kopf und blutige Schlieren verteilten sich in einem Cocktail aus Wodka, Whisky und Rum. Bloody Blackout. Der Drink war schlichtweg zu stark für Abel gewesen.

Keuchend schaute sich Samael um. Der Idiot, der ihm die Fesseln angelegt hatte, konnte sich wahrscheinlich nicht einmal die Schuhe binden. Ein paarmal ruckelte er daran, bis er sie endlich lösen konnte. Kain stand noch immer an derselben Stelle wie vor dem Überraschungsangriff. Wie angewurzelt hatte er alles mit angesehen.

»Sag mal, hast du vielleicht Feuer?«, wandte sich Samael hilfesuchend an Kain. Die knallbunte Kleidung von Abel hatte sich mit Alkohol vollgesogen und würde mit ziemlicher Sicherheit einen guten Zündstoff abgeben. Verunsichert schüttelte Kain den Kopf. Seine Haare waren hellblond, beinahe schon weiß, seine Augen hellblau. Irgendwie hatte er etwas Unschuldiges.

»Na ja, auch gut, dann hat dein Kumpel eben Glück gehabt«, entgegnete Samael gleichmütig und fischte eine intakte Flasche Whisky unter den Trümmern hervor. Mit einem kräftigen Schluck versuchte er, seine Kopfschmerzen zu betäuben, die dank der beiden Volltrottel wieder schlimmer geworden waren.

Plötzlich war ein lautes Räuspern zu hören. Samael drehte sich um und bemerkte den etwa vierzigjährigen Mann, der gerade in der Tür erschienen war. Seine Gesichtszüge waren unnatürlich glatt und gepudert. Das Gel in seinen Haaren genauso überproportioniert wie der Gebrauch seines Parfums. Es stank nach Arroganz und einem Scheißhaufen voll Geld. Die protzige Rolex bestätigte diese Vermutung ebenso wie der teure Nadelstreifenanzug, der dem Mann perfekt auf den Leib geschneidert schien. Das Hemd hatte die Farbe druckfrischer Dollarnoten und die Schuhe sahen aus, als wären sie eigens für diesen Anlass gefertigt worden. Vermutlich war dieser Look mehr wert, als Samael in seinem ganzen Leben verdienen würde.

»Halt mal«, zischte Samael verärgert und drückte Kain die Whiskyflasche in die Hand, bevor er auf den selbstgefälligen Mann im Türrahmen zusteuerte. Teurer Scotch, uralter Whisky, ausländische Edelmarken. Warum war er darauf nicht früher gekommen? Er musste in Midas’ gottverdammtem Casino sein! Er befand sich in einem der zahlreichen Hinterzimmer, in denen Midas private »Hungerspiele« für seine Stammgäste veranstaltete. Das Logo der Spielhölle prangte sauber eingestickt auf Midas’ Brusttasche.

»Du schuldest mir Geld«, erklärte Midas die Situation schulterzuckend. Er wusste genau, dass Samael es nicht wagen würde, ihm ein einziges Haar zu krümmen. »Es gelten dieselben Regeln für alle: Wer nicht zahlt, wird auf höflichste Art und Weise darauf aufmerksam gemacht.«

»Und was ist hiermit?!« Zornig griff Samael in seine Jackentasche und schleuderte Midas das zerknüllte Zeitungspapier vor die Füße. Wie eine Seerose entfaltete es sich und machte den Blick auf ein herausgetrenntes Menschenherz frei. Blutig, genau wie Midas es mochte. »Der Auftrag war mindestens 20.000 Dollar wert!«

»Du sagst es, Samael, der Auftrag war 20.000 Dollar wert. Aber das war vor der Planänderung.«

»Was willst du mir damit sagen?« Samael ballte die Fäuste. Wie sehr er es hasste, dass dieser Mann nahezu unantastbar war. Samaels Revolver lag nur eine Armlänge von ihm entfernt, aber im Vergleich zu dem, was Midas den Rücken stärkte, war die Waffe bedeutungslos. Politik, Wirtschaft, organisierte Kriminalität, überall gab es Menschen, die von Midas profitierten. Und sollte der Pate sterben, würde ihre Rache mit Sicherheit furchtbar sein.

»Das bedeutet, dass du das Geld nicht bekommen wirst und demnach auch nicht an mich zurückzahlen kannst«, offenbarte Midas spitzfindig. »Aber keine Sorge, ich kümmere mich gut um meine Angestellten. Du bekommst etwas Besseres.«

»Abgelehnt«, knurrte Samael rebellisch. Ein Deal war ein Deal und daran wurde nichts mehr geändert. Das hatte er von einem Typen gelernt, den sie den Transporter nannten. Oder von einem Film – er wusste es nicht mehr genau.

»Suchst du etwa nicht mehr nach diesem Kerl, der deine Familie zerstört hat?«, fragte Midas scheinheilig und ließ sich lässig auf einen der Barhocker fallen. Er wusste genau, dass er Samael damit an der Angel hatte. »Ich habe Informationen, die du den 20.000 Dollar garantiert vorziehen wirst. Deine Schulden bleiben in diesem Fall selbstverständlich bestehen. Zuzüglich Zinsen und Zinseszinsen, wir verstehen uns.«

»Das ist immer noch meine Entscheidung.« Samael war nicht gewillt, einfach klein beizugeben, doch Midas’ Angebot hörte sich zugegebenermaßen verlockend an. Samael hatte dem Paten schon vor langer Zeit von seiner Suche nach dem Fremden erzählt, da er seine Augen und Ohren überall hatte. Allerdings hatte er ihm nie mehr verraten, als er tatsächlich wissen musste.

»Wie du meinst«, grinste Midas siegessicher. »Ich habe vor Kurzem einen Schwarzen namens Uriel Owusu kennengelernt, der mir glaubwürdig versichern konnte, deine Zielperson zu kennen. Uriel wartet heute Abend um Punkt 17:00 Uhr im Devil’s Joint auf dich. Komm besser nicht zu spät.«

»Ausgerechnet dort? Das soll wohl ein verdammter Witz sein!« Missmutig steckte Samael seinen Revolver ein. Die Informationen hatten ihn vorerst zufriedengestellt. »Was soll’s. Wenn einer von euch lügt, seid ihr beide tot. Ich hoffe, du legst für diesen Uriel deine Hände ins Feuer. Oder besser noch: deine Kreditkarten.«

»Das tue ich«, erwiderte Midas ungerührt. Wie immer verzog er keinerlei Miene. Es war jedoch nicht ersichtlich, ob es an seiner Arroganz oder den zahlreichen Botoxbehandlungen lag.

Samael warf einen flüchtigen Blick zu Kain. »Und was machst du jetzt mit diesem Knallkopf da?«

Kain hatte Samaels Whiskyflasche beinahe leergetrunken, so nervös war er beim Anblick seines Arbeitgebers geworden. Mit Sicherheit hätte er sich schon längst übergeben, wenn er es sich nicht aus Respekt vor Midas verkniffen hätte.

»Treib es nicht zu weit, Samael.« Midas hob bedrohlich eine Augenbraue. »Du schuldest mir 20.000 Dollar und wenn ich nicht so ein gnädiger Mensch wäre, könntest du deine Lungenflügel morgen von den Stufen meines Casinos kratzen. Sieh die Entführung einfach als eine Art Warnung: Das nächste Mal hast du das Geld dabei oder ein Motorradunfall wird dein geringstes Problem sein. Deine Harley steht übrigens draußen. Eventuell solltest du sie in eine Werkstatt bringen.«

»Okay, okay.« Samael hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin ja schon weg«, meinte er lässig und steuerte auf den Ausgang zu. Bis zum Abend hatte er noch etwas Zeit und würde sowohl sich selbst als auch seine Harley wegen des Unfalls durchchecken lassen. In der Tür begegnete er einem breitschultrigen Mann in einem schwarzen Gothic-Mantel, der ganz offensichtlich zu Midas wollte. Samael hatte ihn schon häufig gesehen. Irgendwie erinnerte ihn dieser Kerl an Morpheus aus der Matrix-Trilogie. Doch statt einer Sonnenbrille trug er goldene Kontaktlinsen. Und im Gegensatz zu Morpheus war er Samael vom ersten Moment an unsympathisch gewesen. Aber das beruhte wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit.

Ein letztes Mal wandte sich Samael an Midas: »Ach, Boss, eins noch: Hättest du vielleicht etwas Kleingeld für mich? Ich hab gehört, dass ihr ’nen neuen Automaten habt und irgendwie hab ich das Gefühl, dass heute mein Glückstag ist.«

Nachdem Samael endlich verschwunden war, blickte Midas zu seinen Lakaien. Kain hatte in eine der herumstehenden, millionenschweren Vasen gekotzt und Abel suhlte sich noch immer in einem Cocktail aus Alkohol und eigenem Blut. Verständnislos schüttelte Midas den Kopf. Schläger von der Agentur waren einfach nicht mehr dasselbe wie früher. Umso wichtiger war es, Samael durch eine vermeintliche Entführung und ein paar nette Drohungen am Ball zu halten, während man gleichzeitig verhinderte, dass er seine Schulden zurückbezahlte, um weiterhin ein Druckmittel gegen ihn in der Hand zu haben. Wenn einer wusste, wie das Spiel funktionierte, dann Midas.

Hoffnungsvoll richtete Midas seine Aufmerksamkeit auf den Riesen, der soeben den Raum betreten hatte: Gestas war von Kindertagen an Midas’ bester Mann gewesen. Im Kindergarten hatten sie die Barbie-Puppen von Cindy McKyle entführt, ihnen sämtliche Gliedmaßen abgerissen und diese Stück für Stück zurückgeschickt, um auf diese Weise eine Handvoll Kaugummi zu erpressen. Inzwischen schmuggelten sie Waffen und Drogen im Wert von Millionen. Gestas war Midas’ persönlicher Leibwächter geworden und hatte vor dem Raum darauf gewartet, dass Samael eine falsche Bewegung machte, damit er hineinstürmen und ihm eine Kugel in die Brust jagen konnte. In der Unterwelt kannte man ihn unter dem Namen »Herzensbrecher«, da er das Herz seiner Opfer niemals verfehlte. Sei es mit der Pistole, dem Messer oder der bloßen Hand. Zu seinem Pech hatte sich Samael jedoch mehr oder weniger anständig benommen, sodass Gestas seine beeindruckenden Fähigkeiten nicht hatte demonstrieren können.

»Ich bezweifel irgendwie, dass Samael seine Zielperson jemals finden wird.« Midas klang beinahe mitleidig. Er fand es interessant zu sehen, wie weit Samael für seine lächerlichen Ziele zu gehen bereit war. »Ich wette sogar tausend Dollar darauf, dass er uns diesen Uriel schneller vom Leib schaffen wird, als es ihm selbst lieb ist. Wahrscheinlich bringt er ihn um, noch bevor er die gewünschten Informationen von ihm bekommen kann.«

Gestas grinste. So dumm würde selbst Samael nicht sein. »Die Wette gilt.«

Misericordia. Die sieben Werke der Barmherzigkeit

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