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Die Forderung nach einem König: 3,1–77

3»Lasst mich los, ihr Bastarde!«, brüllte Lazarus, während er verzweifelt versuchte, sich aus den Griffen der riesigen Gorillas zu befreien, die ihn unsanft aus Midas’ Casino beförderten. Rücksichtslos stießen sie ihn die kostbare Marmortreppe hinab, die zum Eingang des prunkvollen Palastes führte. Lazarus landete schmerzhaft am Fuße der Treppe, wo er wimmernd liegenblieb.

»Das nächste Mal hast du vielleicht mehr Glück«, spottete einer der beiden Türsteher gehässig. Gemeinsam bauten sie sich am Treppenabsatz auf, um zu verhindern, dass Lazarus erneut versuchen würde, in das Casino zu gelangen. Ohne Geld hatte man in diesem Laden nichts mehr zu suchen.

Samael hatte die Situation aus einiger Entfernung beobachtet und daraus geschlossen, dass er den Hinweis Hunger stillen in Kombination mit Els Darbietung von Money, money, money richtig gedeutet hatte. Das Foto in Els Umschlag hatte Midas gezeigt und Midas’ unfassbare Gier nach Geld kam einem Hunger gleich, den selbst Fort Knox nicht würde lindern können. Auf gut Glück war Samael hierhergefahren, um zu schauen, was er dagegen unternehmen konnte. War es überhaupt möglich, Midas von seiner Gier zu befreien? Zögernd stieg Samael von seiner pinken Enduro und steuerte auf die beiden Türsteher zu. Er musste es wenigstens versuchen.

»Was willst du hier?« Einer der Türsteher rümpfte verächtlich die Nase.

»Mit diesen Klamotten kommst du hier nicht rein«, meinte der andere. Die beiden waren gefühlt doppelt so groß wie Samael. Breit gebaut wie Schränke, die darauf warteten, zu Kleinholz verarbeitet zu werden.

»Ihr zwei Komiker seid wohl neu hier«, knurrte Samael bedrohlich. »Ich bin ein Freund von Midas. Also lasst mich gefälligst rein.«

Entgeistert schaute Lazarus zu den drei Männern hinauf. Die beiden Türsteher trugen Pistolen und würden sie garantiert einsetzen, sollte der Fremde weiterhin so unverschämt zu ihnen sein. Andererseits … Wenn der Fremde tatsächlich ein Freund von Midas war, verdiente er es wahrscheinlich nicht, von Lazarus gewarnt zu werden.

Lazarus haderte noch mit sich selbst, als er entsetzt mit ansehen musste, wie Samaels Faust in das Gesicht des ersten Türstehers donnerte. Die ganze Prozedur hatte Samael schlichtweg zu lange gedauert. Bewusstlos sackte der getroffene Türsteher in sich zusammen, woraufhin sein Kollege nach seiner Waffe griff. Samael war jedoch schneller. Mit einem gezielten Schlag schickte er auch diesen Türsteher auf eine unsanfte Reise zum Boden. Kleinholz. Vom Türsteher zum Türvorleger. Unbeeindruckt stieg Samael über die beiden Ohnmächtigen hinweg und schritt auf die gewaltige Pforte des Casinos zu.

»Du da!«, rief er Lazarus zu, bevor er sie öffnete. »An deiner Stelle würde ich lieber verschwinden. Wenn die beiden Volltrottel aufwachen, werden sie sicher keine Freudentänze aufführen.« Mit dieser Warnung verschwand er im Inneren des Gebäudes.

Verwundert lag Lazarus am Boden. Er war sich nicht sicher, was gerade passiert war. Alles war unfassbar schnell gegangen. Sein Blick wanderte zu der Pistole, die der Türsteher während des Angriffs versehentlich hatte fallen lassen. Sie war einige Stufen weiter nach unten gerutscht. Verstohlen schaute sich Lazarus um. Die wenigen Menschen, die zu dieser Zeit noch auf der Straße waren, gingen einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Vorsichtig stand Lazarus auf und wankte auf die Pistole zu. Er bemühte sich, sie stets mit seinem schmächtigen Körper zu verdecken, um keine neugierigen Blicke auf sie zu lenken. Ungelenk bückte er sich und steckte sie ein. Sie war vielleicht seine letzte Chance, an Geld zu gelangen.

Unzählige Male hatte Samael Midas’ Casino schon betreten und unzählige Male hatte ihm die gewaltige Vorhalle die Sprache verschlagen. Die riesige Gewölbedecke befand sich in schwindelerregender Höhe und offenbarte einen atemberaubenden Kristallkronleuchter, der die aufwändigen Stuckaturen der Vorhalle in tausend schillernde Farben tauchte. Lichtreflexe tanzten über den weißen Marmorstein und verloren sich im tiefroten Samt der kostbaren Teppiche, deren Verlauf die Wege hinab in die düstere Hölle der Spielsucht markierten. Es war kaum zu glauben, dass so etwas Schönes den Vorhof zum Glücksspiel markierte. Poker, Black Jack, Roulette – hier war für jeden etwas dabei. Und es war garantiert kein Zufall, dass die Summe der Zahlen beim Roulette 666 ergab.

»Hallo, Samael!« Die Stimme einer jungen Frau tönte überrascht durch die Eingangshalle. Lilith arbeitete seit Jahren an der Garderobe des Casinos und freute sich jedes Mal, wenn Samael sie besuchte. »Was machst du hier? Man hat mir gesagt, du wärst heute Morgen schon dagewesen.«

»Hast du Midas gesehen?«, entgegnete Samael charmant, während er zu ihr hinüberkam. Er mochte Lilith. Sie war hilfsbereit und stets nett zu ihm. Er hatte sie kennengelernt, als er Midas damals hatte umbringen sollen, doch vor einem Jahr hatte sie eine Pause eingelegt und war erst vor wenigen Wochen ins Casino Babylon zurückgekehrt. Umso glücklicher war Samael, sie heute zu sehen.

»Der hat vor wenigen Minuten das Haus verlassen. Mit seiner Sekretärin, wenn du weißt, was ich meine …« Lilith zwinkerte vielsagend. »Soll ich ihm Bescheid sagen, dass du da warst? Oder willst du auf seine Rückkehr warten?«

»Schon gut, Lilith, bemüh dich nicht.« Samael lächelte mild. »Ich denke, ich weiß, wo sie sind.«

»Dann bleibst du nicht hier bei mir?« Lilith hielt den Kopf schief. Sie wusste genau, welche Knöpfe sie bei Samael drücken musste. Verhalten lächelnd stand sie da, in der Uniform des Casinos, und schaute ihn mit großen Augen an. Traurig. Flehend. Verzweifelt. Aber er bemerkte es nicht. Er sah nur das bezaubernde Lächeln, das beinahe alles andere zu überstrahlen schien. Er bemerkte nicht, wie dünn sie war und wie fahl ihre Haut. Er bemerkte nicht, dass sie unter keinen Umständen wollte, dass er jetzt ging.

»Heute nicht, aber bestimmt ein anderes Mal«, versprach er lachend. »Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Okay, gut.« Lilith versuchte die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen. »Warte, ich habe noch etwas für dich!« Unbemerkt schob sie Samael eine Garderobenmarke zu. Es war die Marke mit der Nummer sechs.

»Was soll ich damit?«, fragte Samael verwirrt. Er musterte Lilith in der prachtvollen Kulisse der Eingangshalle. Nicht zum ersten Mal fiel ihm auf, wie unglaublich hübsch sie war.

»Wirst du schon sehen.« Lilith winkte ab, während Samael die Marke in seine Hosentasche steckte. Er bemerkte nicht, dass es keine Garderobenmarke des Casinos war. Statt des hauseigenen Logos in Form eines Turmes war auf ihrer Rückseite eine goldene Sieben zu sehen.

Samael umarmte Lilith und machte sich auf den Weg. Midas hatte einen interessanten Fetisch, der Samael garantiert zu ihm führen würde. Kaum war Samael jedoch gegangen, schaffte es Lilith nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten. Die salzigen Tropfen zerplatzen auf dem Garderobentresen, so wie es ihre kindlichen Träume in einer schicksalshaften Nacht vor einem Jahr getan hatten. Genau hier, auf diesem Tresen. »Fröhliche Weihnachten«, flüsterte Lilith voller Schwermut und Scham.

Als Samael das heruntergekommene Hauptschiff der St. Patricks Cathedral betrat, schlug ihre Turmuhr gerade Mitternacht. Das farblose Licht einer Straßenlaterne fiel durch eines der facettenartigen Bleiglasfenster und tauchte so einen Teil des trostlosen Steinbaus in ein düsteres Grau. Schreckliche Fratzen starrten Samael von den Deckenfresken aus an, während er die in Glaskästen aufgebahrten Reliquien der Kirche bewundern konnte. Der mit Nagelpilz befallene Fußnagel von Petrus, das Jungfernhäutchen der Mutter Maria und die Vorhaut von Jesus Christus. Merchandising-Artikel, wohin das Auge reichte. Die Kirche hatte es tatsächlich geschafft, den Glauben ihrer Schäfchen geschickt zu vermarkten. Dabei war doch alles ganz einfach: Es gab einen Gott und es gab einen Teufel. Aber allmächtig waren diese mit Sicherheit nicht.

Langsam verebbte das Läuten der Kirchturmglocken und ein anderes Geräusch trat in den Vordergrund: Das Stöhnen eines erwachsenen Mannes. Samael hatte also richtig geraten: Midas fand es so unglaublich geil, vor den Augen des Herrn Sex zu haben, dass er hierhergekommen war. Es war ein Fetisch, den Midas von seinem alten Religionslehrer übernommen hatte. Wahrscheinlich hatte Midas sogar den zuständigen Priester geschmiert, um die alljährige Christmette um einige Stunden nach hinten zu verschieben. Oder um wenige Sekunden, je nachdem, wie ausdauernd Midas war.

Angewidert schritt Samael das Hauptschiff entlang, bis er bei einem Beichtstuhl an der Seite des Chores angelangte. Er riss den schweren Stoffvorhang zur Seite und starrte auf den nackten Arsch einer jungen Frau. Sie kniete auf dem Boden des Beichtstuhls, wo sie an etwas lutschte, das aus einem Loch in der hölzernen Seitenwand ragte. Es waren keine zwei Minuten des Weihnachtstages vergangen und schon war sie dabei, ihrem Chef sein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Ohne den schmutzigen Vorgang zu unterbrechen, schielte sie zu Samael und deutete mit der Hand auf die andere Hälfte des Beichtstuhls. Mit einer höflichen Verbeugung zog Samael den Vorhang wieder zu und wandte sich dem Teil zu, in dem normalerweise der Priester saß. Es war gewiss kein rühmliches Zeichen für die katholische Kirche, dass sich ausgerechnet auf Hüfthöhe der Trennwand zwischen den beiden Abteilen ein solches kreisrundes Loch befand. Samael war regelrecht froh, dass er sich als Kind stets geweigert hatte, Messdiener zu werden. Wer wusste schon, wie viel kaputter sein Leben sonst noch geworden wäre.

Samael zog den Vorhang des Priesterabteils zur Seite und musste sich einem Geruch aus Moschus und Schweiß entgegenstellen. Midas stand mit heruntergelassener Hose vor ihm und reckte sein Becken der verkratzten Seitenwand entgegen. Rhythmisch bewegte er es vor und zurück, wobei er die Augen konzentriert geschlossen hielt.

»Hallo, Midas«, räusperte sich Samael ernst. Dass Midas beinahe nackt war, störte ihn nicht im Geringsten. »Ich muss mit dir reden. Jetzt.«

»Einen Moment noch.« Midas streckte ihm seine zittrige Hand entgegen, als wolle er ihn zum Schweigen bringen. Genüsslich biss er sich auf die Unterlippe. Ekstatisch stöhnte er auf und seine Mimik entspannte sich. Aus der hinteren Kabine war ein leises Quieken zu hören. Widerwillig wandte sich Midas dem Störenfried zu. »Wie geht’s Uriel?«, fragte er spöttisch.

»Deswegen bin ich nicht hier«, entgegnete Samael ausdruckslos. Die Tatsache, dass Midas den hässlichsten Schwanz besaß, den Samael trotz unzähliger Pornos je gesehen hatte, pushte Samaels Ego bis in die Umlaufbahn der ISS. »Ich habe heute beobachtet, wie ein Mann aus deinem Casino geworfen wurde. Was hat er dir getan?«

»Woher soll ich das wissen?« Midas klang deutlich verärgert. Für so einen Mist störte Samael ihn beim Liebesspiel? »So etwas passiert tagtäglich. Vermutlich hatte er kein Geld mehr.«

»Hast du jemals daran gedacht, mit deinem Geld etwas Gutes zu tun? Es zu spenden oder unter den Armen zu verteilen?« Samael versuchte, mehr über den undurchsichtigen Geschäftsmann in Erfahrung zu bringen, für den er nun schon seit mehreren Jahren arbeitete. Im Grunde wusste er nichts über Midas, außer dass er ein widerwärtiger Mistkerl war.

Dämonisch begann Midas zu lachen. So einen guten Witz hatte er schon lange nicht mehr gehört. »Ich investiere in Flüchtlingshilfe«, erwiderte er zynisch. »Irgendwoher müssen meine Putzhilfen ja kommen.«

»Wie viel zahlst du deinen Leuten?« Samaels Stimme zitterte. Er hatte noch nie einen Menschen so abfällig über seine Mitmenschen reden hören. Samael mochte vielleicht ein Killer sein, aber er behandelte seine Opfer stets nach einer Art Berufsethos. Die meisten von ihnen waren wahrscheinlich sogar froh, ihr Leben endlich hinter sich zu haben.

»Samael, du nervst.« Midas’ Geduldsfaden war gerissen. »Wenn du willst, werfe ich nachher zehn Cent in Gottes Spenden-Nachttopf, quasi als Tantiemen dafür, dass ich beim Ficken seinen Namen rufen darf, aber du verschwindest jetzt! Ulrika muss sich noch ihren Weihnachtsbonus dazuverdienen.«

Samael fixierte Midas bedrohlich. Gerne hätte er ihm auf der Stelle den arroganten Schwanz abgeschossen, hätte er in der Spiegelung des gläsernen Beichtstuhlfensters nicht das Krippenspiel gesehen, das wie jedes Jahr im Mittelgang der Kirche aufgebaut worden war. Da stand Maria, die hinterhältige Schlampe, und Josef, der sich von ihr ein Kind hatte andrehen lassen. Und mittendrin lag das unschuldige Jesuskind, das Samael mit einem merkwürdig glasigen Ausdruck in den Augen anstarrte. Unwillkürlich musste Samael an El denken und an den Deal, den er mit ihm geschlossen hatte. Vielleicht war es vorerst schlau, sich zurückzuziehen. Früher oder später würde sich eine bessere Gelegenheit auftun. Irgendwie würde er Midas davon überzeugen können, dass Geld nicht alles war.

»Also gut.« Samael trat einige Schritte zurück. »Aber sag deinen Türstehern, dass ich demnächst bei dir vorbeischauen werde. Wir haben was zu bereden. Und wenn sie mich wieder nerven, werden sie womöglich nicht mit einem blauen Auge davonkommen.« Samael wandte sich ab und steuerte auf den Ausgang zu. Hier stand er auf verlorenem Posten. Er würde ein Druckmittel brauchen, wenn er gegen Midas wirklich etwas ausrichten wollte. Mit einem Rumsen ließ er die schwere Kirchentür ins Schloss fallen.

»Sag Noah, dass ich ihn sehen will.« Midas steckte sich eine Zigarre zwischen die Zähne. Gestas trat stumm hinter einem der Pfeiler hervor. Wie immer war er in Midas’ unmittelbarer Nähe geblieben. »Samael fängt an, dieselben unangenehmen Fragen zu stellen wie dieser Uriel. Wir müssen dafür sorgen, dass er damit aufhört.«

Gestas entzündete ein Streichholz und nutze es, um Midas’ Zigarre anzustecken. Pietätvoll wollte er den Vorhang des Beichtstuhls wieder schließen, als ihn sein Boss urplötzlich zurückhielt.

»Lass den Vorhang ruhig offen«, meinte Midas grinsend. Auch er hatte das niedliche Krippenspiel entdeckt. »Ich will, dass sie zusehen.« Im nächsten Moment begann er, diabolisch zu stöhnen. Vater vergib mir, denn ich habe gesündigt!

Erst der Schrei, dann die Ohrfeige, dann Stille. Samael tastete nach seiner Nachttischuhr und warf einen prüfenden Blick darauf. Pünktlich um 6:00 Uhr hatte das allmorgendliche Ritual begonnen. Müde hievte er sich aus dem Bett und wankte auf das Badezimmer zu. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als er sich endlich auf seine Matratze hatte fallen lassen können. Jetzt winkte ein neuer Tag, aber er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wie er Midas’ »Hunger« stillen sollte. Zu allem Überfluss besaß er keine Schmerztabletten mehr.

Es dauerte nur wenige Minuten, da kehrte Samael mit nichts als einem Handtuch bekleidet aus dem schäbigen Badezimmer zurück. Diese Schweine hatten ihm während des Duschens einfach das Wasser abgestellt! Bevor er sich jedoch angemessen darüber aufregen konnte, wurde er der beiden Männer gewahr, die sich irrsinnigerweise in seiner Wohnung befanden. Der eine saß gelassen am Küchentisch und durchsuchte Samaels Post, die er mit hineingebracht haben mussten, der andere wühlte wie wild in Samaels Kühlschrank herum. Beide waren Albinos, wie sie im Buche standen. Noch dazu trugen sie ausnahmslos weiße Kleidung, was ihre Erscheinung geradezu grell wirken ließ. Nur das Emblem auf ihrer Brust war mit einem schwarzen Faden aufgestickt worden. Holy Spirit. Mit einem müden Blick auf die Wohnungstür stellte Samael fest, dass die Männer sie eingetreten hatten. So ein Wunder aber auch! Gleichmütig ließ er sich am Küchentisch nieder und wartete ab, was sie zu sagen hatten.

»Bah, Junge, besorg dir mal frische Lebensmittel!«, rief der Mann an Samaels Kühlschrank angeekelt und wedelte mit einer Packung verschimmelter Makrelen herum. »Die sind seit über drei Jahren abgelaufen!«

»Gehört mir nicht«, grollte Samael übellaunig. Seit er hier eingezogen war, hatte er den Kühlschrank nicht ein einziges Mal angerührt. Seine Mahlzeiten hatten hauptsächlich aus dem bestanden, was er in den Wohnungen seiner Opfer gefunden hatte.

»Mein Name ist Gabriel und das ist Raphael«, meldete sich der Mann am Tisch zu Wort, wobei er zunächst auf sich und dann auf seinen Partner zeigte. »Wir sind gekommen, um dir zwei neue Aufträge von El zu überbringen. Außerdem haben wir deine Post reingeholt. Du bist doch nicht wirklich an Werbeblättchen für eine Penisverlängerung interessiert, oder?«

»Nein«, entgegnete Samael schroff. »Ihr wisst aber schon, dass ich den ersten Auftrag noch nicht erledigt habe?«

»Ihhh!«, kreischte Raphael unvermittelt. Seinen Kopf hatte er ein weiteres Mal im Kühlschrank versenkt. »Ich glaube, hier drin liegt eine tote Ratte!«

»Für Midas wirst du sowieso noch etwas länger brauchen«, überging Gabriel die Bemerkung seines Partners geflissentlich. »El ist der Meinung, dass er dir etwas mehr Auswahl lassen sollte.« Gabriel schob Samael zwei braune DIN A4-Umschläge entgegen. »Er sagt, dass er dir etwas unter die Arme greifen will.«

»Aha«, brummte Samael geringschätzig. Was fiel diesen beiden Schwachmaten überhaupt ein, hier einfach hineinzuplatzen? Mit spitzen Fingern griff Raphael nach einer Packung Milch und schnupperte daran. Neugierig setzte er sie an seine Lippen.

»Gut, dann wäre ja alles geklärt.« Förmlich erhob sich Gabriel von seinem Platz. »Frohe Weihnachten noch. Und übrigens: Da war auch ein Brief von deiner Bank dabei. Dein Konto wurde gesperrt.«

Ein würgendes Geräusch verriet Samael, dass Raphael sich übergab. Die Bröckchen in der Milch hatten wohl doch nicht so gut geschmeckt, wie der Albino erwartet hatte. Zum Glück hatte Samael sie nicht dem Weihnachtsmann hingestellt.

»Sag mal, spinnst du?!« Gabriel zog Raphael ärgerlich aus der Tür hinaus. »Das kannst du doch nicht vor unseren Kunden machen! Was sollen die denn denken?«

»Dann hätte er uns eben eine Erfrischung anbieten sollen!« Raphael motzte so laut, dass Samael ihn noch hören konnte und das, obwohl sich die beiden Männer bereits im Treppenhaus befanden.

Samael raufte sich die Haare. Der Gestank von vergorener Milch und verschimmeltem Fisch hatte sich in seiner ganzen Wohnung breitgemacht. Jahrelang hatte er vermieden, die Dekontaminationskammer seines Vorgängers zu öffnen, doch diese Clowns hatten es geschafft, seine Wohnung innerhalb kürzester Zeit von einer Müllhalde in ein nukleares Sperrgebiet zu verwandeln. Und alles, was er im Gegenzug dafür bekommen hatte, waren zwei elende braune Briefe. Genervt öffnete Samael sie.

Midas saß in seinem Büro und rauchte. Seit Jahren hatte er im Casino keinen Finger mehr krumm gemacht. Seine Geschäfte liefen wie von alleine und alles, was er tun musste, war dazusitzen und zuzusehen, wie sich die Zahlen auf seinem Bankkonto im Sekundentakt verdoppelten. Im Hintergrund liefen die Kindertotenlieder von Gustav Mahler, gespielt auf einem alten Grammophon, das sich Midas zwar für eine Stange Geld gekauft, aber nie wirklich wertgeschätzt hatte. Wenn er ehrlich war, mochte er gar keine Musik. Und auch die meisten anderen Möbelstücke in seinem Büro waren zwar teure Antiquitäten, doch im Grunde nur ein Ausdruck seiner Fantasielosigkeit. Er wusste einfach nicht, was er mit seinem gewaltigen Vermögen anfangen sollte, geschweige denn, wie die Summen überhaupt hießen, mit denen er tagtäglich zu wirtschaften hatte. Erst kürzlich hatte er sich eine Fuhre kostbarer Bücher gekauft, die er aber mit ziemlicher Sicherheit niemals lesen würde. Sie waren bloß Dekoration, damit er nicht zugeben musste, wie wenig er von Kunst und Kultur wirklich hielt. Selbst die Zigarre in seiner Hand war für ihn nicht mehr als ein brennender Hundert-Dollar-Schein.

»Gestas sagt, du willst mit mir sprechen?« Ein junger Mann in einem langen Anzugmantel und mit fein säuberlich gebundener Krawatte betrat den Raum. Eine Narbe quer über seinem linken Auge spaltete seine Augenbraue in zwei Hälften, was ihn mehr oder weniger brutal aussehen ließ. Er hatte dichte, schwarze Haare und einen gepflegten Dreitagebart. Hinter dem Mann betrat Gestas den Raum und positionierte sich so an der Tür, dass niemand anderes hineinkommen konnte.

»Setz dich, Noah.« Midas nahm die Füße von seinem Schreibtisch und stand auf, um seinem Gast einen Drink anzubieten. Scotch on the rocks. Den hatte sein Bruder schon immer gemocht. »Hat dir Gestas schon erzählt, warum du zu mir kommen solltest?«

»Nein. Bisher nicht.« Noah nahm den Drink mit einem leichten Kopfnicken entgegen und ließ sich auf einem weichen Ohrensessel in einer Ecke des Raumes nieder. »Aber falls ich etwas für dich tun soll, zögere nicht, mich danach zu fragen.«

»Erinnerst du dich noch an diesen Uriel? Diesen Neger, der vor ein paar Tagen bei uns war und unangenehme Fragen über unsere Geschäfte gestellt hat?«

»Natürlich. Du wolltest etwas gegen ihn unternehmen.«

»Wohl wahr«. Midas nickte. »Das habe ich. Ich habe einen meiner Männer auf ihn gehetzt. Wie erwartet hat er ihn getötet, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, geschweige denn dafür bezahlen musste.« Midas machte eine kurze Pause und blickte zu Gestas hinüber, während er Daumen und Zeigefinger aneinander rieb. Widerwillig kramte Gestas seine Brieftasche hervor und reichte seinem Boss zehn Hundert-Dollar-Scheine. Wettschulden waren Ehrenschulden. So hatte Midas zumindest seinen heutigen Bedarf an Zigarren gedeckt.

»Jedenfalls«, fuhr Midas fort, »stellt dieser Mann jetzt dieselben unbequemen Fragen wie dieser Schwarze. Ich weiß nicht wieso, aber ich will, dass er damit aufhört.«

»Willst du, dass ich ihn suchen lasse?«

»Aber nein.« Midas gähnte. Die Nacht in der Kirche war länger geworden, als er vorhergesehen hatte. »Das lohnt die Mühe nicht. Früher oder später wird Samael sowieso wieder hier auftauchen. Aber wenn es soweit ist, möchte ich, dass du dafür sorgst, dass er nie wieder das Licht der Welt erblickt.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.« Noah erhob sich von seinem Platz und verbeugte sich. Er bewunderte seinen Bruder für alles, was dieser in seinem Leben erreicht hatte. Midas hatte sich vom armen Waisenknaben zu einem der mächtigsten Männer der Stadt hochgearbeitet, ohne seinen kleinen Bruder jemals vergessen zu haben. Dafür würde Noah ihm ewig dankbar sein. Midas hatte sich stets um ihn gekümmert und ihm sogar den Posten des Sicherheitschefs in seinem Casino gegeben. Noah würde Midas stolz machen. Abermals würde er ihm beweisen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. »Noch heute Abend wird jeder Angestellte wissen, was zu tun ist, wenn Samael das Casino betritt«, versprach er gewissenhaft. »Samael wird dieses Gebäude nicht mehr lebend verlassen.«

Zufrieden beobachtete Midas, wie sein jüngerer Bruder den Raum verließ. Der Kleine hatte sich gemacht. Früher war er ein Schwächling gewesen, doch nach dem Tod ihrer Eltern hatte ihn Midas großgezogen und ihm gezeigt, wie er in dieser grausamen Welt überleben konnte. Hier und jetzt bot sich Noah die Chance zu beweisen, dass dies nicht umsonst gewesen war. Zu beweisen, dass sich Midas nicht in ihm getäuscht hatte.

»Schick mir Abel und seinen Partner herein.« Midas wandte sich an Gestas, kaum dass sein Bruder verschwunden war. »Sie sollen diesen Ismael ausfindig machen, nach dem Uriel uns gefragt hat. Vielleicht erfahren wir von ihm, woher das plötzliche Interesse an unseren Geschäften kommt. Sie sollen den Jungen so lange foltern, bis er ihnen verrät, was es mit der ganzen Sache auf sich hat.«

»Verstanden.« Gestas lächelte. Midas wusste genau, wie er jede Art von Widerstand im Keim ersticken konnte. Seine Schläger würden Ismael finden und ihn zum Reden bringen und Noah würde sich um Samael kümmern. Gestas’ Arbeitsplatz war gesichert. Lang lebe Midas! Lang lebe der König der Unterwelt!

Misericordia. Die sieben Werke der Barmherzigkeit

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