Читать книгу Misericordia. Die sieben Werke der Barmherzigkeit - B. Movie - Страница 7
ОглавлениеDie erste Offenbarung an Samael: 2,1–65
2Mit einer Kugel im Kopf lag Uriel Owusu im Schnee und lächelte. Das glückliche Schwein hatte es endlich hinter sich. Samael hingegen suchte noch immer nach dem Fremden von damals und der einzige Hinweis, der ihm dafür geblieben war, war der Abholschein einer chinesischen Reinigung. Samael schaute auf seine Uhr: 19:30 Uhr. Der Abholschein versprach eine Öffnungszeit bis 20:00 Uhr – kulturbedingt auch an Heiligabend. In der Werkstatt hatte man Samael als Ersatz für seine Harley eine pinke Enduro gegeben. Wenn er sich also beeilte, konnte er es schaffen. Entschlossen startete er den Motor und brauste los.
Die Textilreinigung Fenghuang befand sich nur wenige Minuten vom Devil’s Joint entfernt. Das Schaufenster war hell erleuchtet, als Samael von seiner Maschine stieg. Mit einem Motorradhandschuh wischte er etwas Baustaub zur Seite und spähte hinein. Man konnte nur hoffen, dass die Besitzer die in Auftrag gegebenen Kleidungsstücke besser pflegten als ihr Ladengebäude. Im Inneren sah es genauso ungemütlich aus wie von außen. Der Vorraum war eng, kaum Platz zum Atmen. Hinter einem schmalen Tresen stand eine alte Chinesin, die es anscheinend mit Hilfe zahlreicher Hausmittelchen geschafft hatte, ein biblisches Alter jenseits der 120 zu erreichen. Von draußen war es für Samael jedoch unmöglich zu erkennen, ob sie noch lebte. Unbewegt stützte sie sich auf einen Gehstock, der mindestens so alt war wie sie selbst, und hielt die Augen geschlossen. Erst als Samael den Laden betrat, hob sie ihre Lider.
»Ich möchte meine Klamotten abholen«, trug Samael sein Begehren vor. Uriels Abholschein legte er auf den Tresen. Die alte Chinesin machte jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen, geschweige denn den Abholschein entgegenzunehmen.
Samael wartete einige Sekunden, dann nahm er den Schein und drückte ihn ihr in die Hand. »Ich habe es wirklich eilig, wenn Sie also …«
Die Alte drehte sich um und brüllte einige Worte auf Chinesisch in ein Hinterzimmer. Es dauerte nicht lange und ein junger Chinese tauchte auf. Mit einem Nicken begrüßte er Samael und widmete sich dann der alten Vettel, die ununterbrochen auf ihn einredete und dabei hektisch – zumindest so hektisch, wie es in ihrem Alter noch möglich war – gestikulierte. Samael stand daneben und wartete geduldig. Anscheinend gab es Verzögerungen im Betriebsablauf. Kaum hatte die alte Chinesin jedoch geendet, wandte sich der junge Asiate an Samael: »Lady Ouija behauptet, dass Sie nicht del lechtmäßige Besitzel del gefoldelten Kleidung sind. Haben Sie einen Abholschein?«
Etwas perplex deutete Samael auf den Zettel in Lady Ouijas Hand. »Ich habe ihn ihr bereits gegeben«, erklärte er ruhig. Es war unmöglich, dass die alte Schachtel all ihre Kunden persönlich kannte. Und selbst wenn, konnte es ihr absolut egal sein, wer die Kleidungsstücke abholte, solange jemand dafür bezahlte. Der junge Chinese schien das genauso zu sehen. Er nahm Lady Ouija den Zettel aus der Hand und verschwand eilig im Hinterzimmer, um die dazugehörigen Stücke zusammenzusuchen.
»Sie lügen.« Lady Ouijas chinesischer Akzent ließ die Worte noch bedrohlicher wirken. Sie hatte Samael eindringlich fixiert und ihre Stimme hatte einen anklagenden Ton angenommen. »Nie und nimmel gehölt Ihnen diese Kleidung.«
Samael ignorierte die alte Frau und tat stattdessen so, als würde er sich für die Einrichtung des Ladens interessieren. Die Wände waren mit gemusterten Tüchern verhangen, die große Ähnlichkeit mit Lady Ouijas Gewändern hatten. Wahrscheinlich waren sie nur dazu da, den dahinterliegenden Asbest zu verbergen. Auf dem Tresen brannten drei Kerzen, deren Schein sich in einer gläsernen Kugel widerspiegelte, die auf einem Podest in der Mitte des Tresens stand. Vermutlich hätte sich Samael darüber wundern müssen, doch primär wurde er durch den allgemein vorherrschenden Gestank nach nassem Hund abgelenkt. Er konnte nur hoffen, dass kein herrenloser Streuner der chinesischen Küche zum Opfer gefallen war.
Klock. Mit einem lauten Geräusch fiel Lady Ouijas Stock zu Boden. Sie hatte ihn losgelassen, um nach Samaels Hand zu greifen. Dieser wollte zurückweichen, doch dafür hätte er die alte Frau wohl oder übel umreißen müssen.
»Wenn Sie diese Kleidung mitnehmen, werden Sie alles vellielen, was Ihnen etwas bedeutet! Man wild Sie jagen! Sie welden sich in den Tiefen der Hölle wiedelfinden!« Lady Ouijas Stimme klang gespenstisch, beinahe wie aus einer anderen Welt. »Ich walne Sie! Velschwinden Sie, bevol es zu spät ist! Velschwinden Sie, bevol Sie sich und Ihl Umfeld ins Unheil stülzen!«
Entsetzt beobachtete Samael, wie Lady Ouija immer weiter die Beherrschung verlor. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, gar so, als wolle sie ihm bis auf den Grund seiner Seele schauen. Sie murmelte einige chinesische Worte, die Samael nicht verstehen konnte. Ihre Hand krallte sich in die seine. Die Prophezeiung klang düster und unheilvoll. Bevor Samael jedoch reagieren konnte, steckte der junge Chinese seinen Kopf in den Raum hinein. Anscheinend hatte er Uriels Kleidung gefunden. »Ist das hier lichtig?«, fragte er Samael zuvorkommend, während er ihm einen schwarzen Anzug in einer durchsichtigen Schutzhülle entgegenhielt.
Misstrauisch beobachtete Samael Lady Ouija, die in ihre ursprüngliche Position zurückgekehrt war. Nur ihr Stock lag noch auf dem Boden, den ihr Kollege sogleich für sie aufhob.
»Ja, vielen Dank«, entgegnete Samael verwirrt. Immerhin verstand er jetzt, warum die Alte nicht hatte glauben können, dass der Abholschein von ihm gewesen war. So einen edlen Zwirn wie den schwarzen Anzug, den ihm der junge Chinese gerade entgegenhielt, konnte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht leisten. Zumindest jetzt nicht mehr. Schmerzhaft erinnerte sich Samael an den Tag, an dem sein Vater ihn und seine Mutter verlassen hatte. Sein Vater hatte einen ähnlichen Anzug getragen. Er hatte vor Gericht gestanden, weil er die Existenz eines Mannes vernichtet hatte. Er hatte dessen Reichtum gestohlen, dessen sieben Söhne und drei Töchter erschlagen und ihn vergiftet, sodass ihn Geschwüre »von der Fußsohle bis zum Scheitel« befallen hatten – so hatte es zumindest in der Anklageschrift gestanden. Doch Samaels Vater hatte es weder abgestritten noch Reue gezeigt. Er hatte behauptet, er hätte es für El getan. Er hätte das Richtige getan. Noch am selben Abend war er verschwunden, bevor man das Urteil gegen ihn hatte verkünden können. El hatte ihm geholfen unterzutauchen. Samael wusste zwar, wo er seinen Vater finden konnte, aber selbst wenn er ihm begegnete, ignorierte er ihn. Sein Vater war an jenem Tag vor 15 Jahren für ihn gestorben.
»Sil?« Samael schrak aus seinen Gedanken. Der Chinese schaute ihn besorgt an. »Geht es Ihnen gut? Soll ich Ihnen ein Glas Wassel holen?«
»Nein, nein, alles okay«, murmelte Samael gedankenverloren und holte etwas Geld hervor. »Stimmt so«, versicherte er, bevor er eilig den stickigen Laden verließ. Er brauchte Platz zum Atmen. Je mehr er sich mit dem Fremden von damals beschäftigte, desto präsenter wurden die Verluste seiner Vergangenheit. Zorn und Zwietracht – mehr säte sein Vater nicht mehr.
Draußen hielt Samael inne, um den neu erworbenen Anzug im Schein einer Straßenlaterne näher betrachten zu können. Eine schwarze Anzugjacke, eine passende Hose, ein weißes Hemd und eine karminrote Krawatte. Wie war Uriel an dieses Schmuckstück gekommen? Der Zettel am Kleiderbügel ließ keinen Zweifel daran, dass er der Besitzer dieses Anzugs war: Uriel Owusu. Darunter seine Kontaktdaten. Ungläubig hielt Samael den Zettel näher an seine Augen heran. Er hatte die Adresse sofort wiedererkannt. Es war die Adresse eines Ortes, an den er nie wieder hatte zurückkehren wollen. Eines Ortes voller Enttäuschungen. Nicht für ihn, sondern für die wenigen Personen, die ihm je etwas bedeutet hatten.
†
Die Adresse führte Samael ins alte Stadtzentrum. Nach der Weltwirtschaftskrise waren die hier angesiedelten Büros und Geschäfte in ein anderes Viertel verlagert worden, sodass die leer stehenden Gebäude immer weiter verfallen waren. Der Versuch eines Wiederaufbaus war an dem mangelnden Interesse der Investoren gescheitert, was schließlich zu einer Verslumung des Bezirkes geführt hatte. Inzwischen lebten nur noch ein paar abgewrackte Junkies in den Ruinen, die hofften, dort einen geeigneten Ort zum Sterben gefunden zu haben.
Samael stand vor einem der wenigen noch halbwegs intakten Gebäude, in denen Licht brannte. Verdrossen trat er durch die baufällige Eingangstür und fand sich sogleich dem strengen Geruch unzähliger Putzmittel ausgesetzt. Längst vergangene Erinnerungen krochen in ihm hoch. In diesem Waisenhaus hatte er den Großteil seiner Jugend verbracht. Das heißt, solange er nicht im Gefängnis gewesen war. Die graue Raufasertapete kam ihm genauso bekannt vor wie die knarrenden Bodendielen, die seine Ankunft lautstark verkündeten. Hatte er eben noch gehofft, das Haus unbemerkt betreten und wieder verlassen zu können, so wurde er nun bitter enttäuscht.
»Junior«, kreischte eine dicke Endvierzigerin überrascht, während sie auf Samael zugestolpert kam. Mit jedem Schritt wippten ihre gewaltigen Brüste auf und ab, bis sie Samael überschwänglich darin begraben konnte.
»Hallo Tante Ruth«, keuchte Samael atemlos, während er verzweifelt versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Inständig hoffte er, dass sich aus seinem versteckten Revolver kein Schuss lösen würde. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er seine ehemalige Pflegemutter gesehen hatte, und obwohl sie es niemals leicht mit ihm gehabt hatte, schien es so, als hätte sie ihn immer noch nicht aufgegeben. Ihr rotes, pausbäckiges Gesicht strahlte, als ob ihr der Herr persönlich begegnet wäre. Nur die leicht angegraute Dauerwelle und einige Sorgenfalten ließen auf die Härte ihres Alltags schließen.
»Sag schon, wie geht es dir? Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«, schluchzte Ruth freudig, während sie Samael ein Stück zurückschob, um ihn mit Wohlgefallen mustern zu können. »Du bist ja richtig groß geworden!«
»Ich hab jetzt ’nen Job …«, murmelte Samael kleinlaut und schaute dabei zu Boden. Es bestand keine Notwendigkeit zu erzählen, womit er sein Geld verdiente, Hauptsache sie wusste, dass sie sich um ihn keine Sorgen machen musste. Ihr eigenes Leben war schon erbärmlich genug, wo sie doch beinahe sechzehn Stunden am Tag damit verbrachte, einer Bande Halbstarker die Leviten zu lesen. Und wenn sie dann doch einmal zur Ruhe kam, warteten jede Menge offene Rechnungen auf sie sowie ein Stapel von Klagen, die gegen ihre stehlenden und messerstechenden Schützlinge erhoben worden waren. Insgesamt war ihr Leben wahrscheinlich noch beschissener als Samaels.
»Du musst mir alles erzählen«, bat Ruth aufgeregt und zog Samael in einen kleinen Gemeinschaftsraum, der – verglichen mit Samaels Erinnerungen – in einem ungewöhnlich guten Zustand war. Der ausgeblichenen Stoffcouch fehlte lediglich ein Fuß, während die Stühle und Tische notdürftig mit Brettern repariert worden waren. An der Decke hing eine funktionsfähige Lampe, die mit einem Lampenschirm vom Sperrmüll ausstaffiert war. Der Boden war frisch geputzt und die Wände größtenteils gestrichen. Selbst ist die Frau. Weiter hinten befand sich ein Spülbecken, dessen Hahn in regelmäßigen Abständen tropfte, gar so, als würde er um seine verstorbene Henne weinen. Das Highlight des Raumes war jedoch ein halb vertrockneter Weihnachtsbaum, der ungeschmückt in einer Ecke stand.
»Die Kinder sind auf ihren Zimmern«, lächelte Ruth müde. Es war offensichtlich, dass sie log, da der Raum in diesem Fall mit ziemlicher Sicherheit in einem schlimmeren Zustand gewesen wäre. Vermutlich war Uriel ihr letzter Schützling gewesen, der noch nicht von der Polizei verhaftet worden war. Doch nun würde selbst er nicht wiederauftauchen, was Ruth den restlichen Sinn ihres Lebens raubte. Samael schluckte. So schwer hatte er sich seinen Besuch nicht vorgestellt.
»Ich suche einen Jungen namens Uriel«, erklärte er mit belegter Stimme. Ruth würde ihm bestimmt etwas über den Jungen erzählen können. In ihrer überschwänglichen Art würde sie Samael vielleicht sogar sein Zimmer zeigen.
»Uriel ist vor einiger Zeit losgezogen, weil er irgendjemandes ›Durst löschen‹ wollte. Ich weiß auch nicht, was er damit meinte, aber er hat versprochen, mir auf dem Rückweg ein Geschenk zu besorgen.« Ruth errötete. »Er ist so ein guter Junge.«
Samael nickte. Der kahle Weihnachtsbaum hatte ihn ein weiteres Mal daran erinnert, dass heute Heiligabend war. Und trotzdem sollte Tante Ruth den heutigen Abend alleine verbringen. Er würde bestimmt nicht bei ihr bleiben, nur um zu sehen, wie sie vergeblich auf den toten Uriel wartete. Zu oft hatte Samael schon ihre Tränen gesehen. Und ein Geschenk hatte er noch nie für sie gehabt.
»Hatte Uriel in letzter Zeit Besuch oder Kontakt zu jemanden, den du vorher noch nie gesehen hast?«, versuchte Samael so schnell wie möglich an die benötigten Informationen zu gelangen. Solange Ruth ihm helfen konnte, würde sie es mit Gewissheit tun. Samael war schließlich eines ihrer Babys gewesen.
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete sie arglos. »Aber er leistet seit einigen Wochen Arbeitsstunden in einer Tankstelle ab, weil er dort Zigaretten gestohlen hat. Moment …« Sorgfältig kramte Ruth in ihrer Schürze und zog eine verdreckte Visitenkarte hervor. »Hier, da arbeitet er. Ich habe ihm für den Gerichtstermin extra den Anzug meines verstorbenen Mannes geliehen.«
Reumütig dachte Samael an den teuren Zwirn, der ihn an sein letztes Opfer erinnerte und den er vorerst in seiner Motorradtasche verstaut hatte. Skeptisch nahm er die ölverschmierte Visitenkarte entgegen und betrachtete sie: Holy Spirit – Tankstelle – Besitzer: El Shaddai. Der Name traf ihn wie ein Schlag. El war der Name des Mannes gewesen, der die Existenz seines Vaters vernichtet hatte. Endlich hatte Samael eine Spur! Es war kaum zu glauben, was für ein Glück er hatte. All seine Mühen hatten sich auf einmal gelohnt.
»Danke, Tante Ruth!« Samael sprang auf und gab seiner ehemaligen Erzieherin einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Noch heute Abend würde er diesem Dreckskerl El eine Lektion erteilen. Samael war bereits auf dem Weg zur Tür, als Ruth ihn am Arm festhielt.
»Warte, Samael …« Ihre Stimme hörte sich traurig an. »Bleib doch noch ein wenig. Ich habe gerade Kekse gebacken. Und einen Tee könnte ich uns auch noch machen.«
Samael atmete tief durch und drehte sich um. Mit flehenden Augen sah Tante Ruth ihn an. Sie schien zu ahnen, dass Uriel nicht mehr zu ihr zurückkehren würde. Für so etwas hatte sie schon immer ein gutes Gespür gehabt. Samael seufzte. Ergeben ließ er sich auf die harte Stoffcouch fallen. Wenn jemand auf der Welt existierte, dem er etwas schuldig war, dann diese Frau. Sie hatte die Rolle seiner Mutter so perfekt übernommen, wie es keine andere hätte tun können. Sie hatte dafür gesorgt, dass er zur Schule gegangen war und eine halbwegs vernünftige Bildung genossen hatte. Sie hatte ihn zurechtgewiesen, wenn es nötig gewesen war. Els Visitenkarte verriet, dass die Tankstelle 24/7 geöffnet hatte. Samael konnte also genauso gut einen Moment lang bleiben.
»Lauf nicht weg«, meinte Ruth freudestrahlend, während sie eilig im Nebenzimmer verschwand. »Ich setze nur etwas Wasser auf.«
Es dauerte nicht lange, da kehrte sie mit einem Blech voller Kekse und einer Kiste Weihnachtsschmuck zurück. Samael verdrehte heimlich die Augen. Wenn das so weiterging, würde er den Märtyrertod sterben, noch bevor er El jemals zu Gesicht bekam.
†
Mit pochendem Herzen raste Samael den Highway entlang. Es war schon spät, aber länger wollte er nicht mehr warten. Noch heute Nacht würde er El zur Rede stellen! Er hatte Tante Ruth beim Schmücken des Weihnachtsbaums geholfen und einen Blick auf ihren kaputten Wasserhahn geworfen, doch jetzt war er endlich unterwegs. Der Stern über Bethlehem hatte allem Anschein nach Feiertagsurlaub genommen, so finster war es auf den Straßen.
Die Holy Spirit-Tankstelle lag in einem Wüstengebiet außerhalb der Stadt, wodurch sich nicht allzu viele Kunden bei ihr tummelten. Erst recht nicht zu dieser Zeit. Die einzige Zapfsäule war vollkommen verdreckt und bot darüber hinaus nur eine einzige Sorte Benzin an. Die Anzeigetafel war entweder abgeschaltet oder kaputt, jedenfalls lief sie nicht. Die Neonbeschriftung mit dem Namen der Tankstelle war ebenfalls defekt und nur die Buchstaben S, a, n, k und t flackerten in unregelmäßigen Abständen. Auf dem Boden vor dem Eingang hatten sich zudem einige Pfützen gebildet, die Samael davon abhielten, sich eine Zigarette anzuzünden. Vermutlich war es aber nur Pisse. Angespannt passierte Samael einen bunt bemalten VW-Bus mit dem Kennzeichen INRI-30 und stieß die gläserne Tür zum Laden auf. Kling, Glöckchen, klingelingeling, dachte er grimmig, als eine Glocke über dem Eingang seine Ankunft lautstark verkündete.
»Guten Abend, mein Sohn, was kann ich für dich tun?«, fragte ihn der Mann hinter der Ladentheke freundlich. Er sah so aus, als hätte er seit Jahren keinen Frisör mehr gesehen. Die welligen Haare und der lange, zerzauste Bart fielen über einen weißen Kittel, der ihn wie einen Entflohenen aus einer Psychiatrie aussehen ließ. Auf der Nase trug er eine Sonnenbrille mit kreisrunden Gläsern, die irgendwann in den späten 60ern produziert worden sein musste. Vor ihm auf dem Tresen stand ein kleiner Blumentopf, in dem eine einzelne Cannabis-Pflanze wuchs. Daneben lagen eine Minigießkanne und eine winzige Schaufel. »Bist du hier, um Kraft zu tanken?«
»Bist du El?« Samael hatte keine Lust auf formelle Höflichkeiten. Er griff unter seine Jacke und spannte den Hahn seines Revolvers. Er war sich sicher, den Mann vor sich zu haben, den er jahrelang gesucht hatte. Den Mann, der sein Leben zerstört hatte.
»Meine Freunde nennen mich ›Vater‹«, entgegnete der Kiffer gelassen. »Aber du kannst mich auch Gott nennen. Oder El. Was dir lieber ist.« Mit einer ausladenden Bewegung zeigte er auf das Namensschild, das an seiner Brust befestigt war. El Shaddai. Das waren genug Indizien, um Samael seine Waffe ziehen zu lassen. Zornig richtete er sie auf Els heiligen Schädel und brüllte: »Bist du der Mann, der mein Leben ruiniert hat? Bist du der Mann, der meinen Vater in die Kriminalität getrieben hat?«
El schlug sich übertrieben dramatisch die Hand vor den Mund. »Ach du liebes Ich«, murmelte er gespielt überrascht. »Bist du etwa Lucys Sohn?«
Samael zögerte einen kurzen Moment. Lucy? Die unerschütterliche Ruhe seines Gegenübers verunsicherte ihn. Doch dann fand er zu seiner alten Entschlossenheit zurück. Aggressiv wedelte er mit seinem Revolver herum und forderte nachdrücklich: »Ich will, dass du all das rückgängig machst! Ich will in Frieden leben können!«
»Wie stellst du dir das vor, mein Junge?«, entgegnete El stirnrunzelnd. »Das Ganze ist eine Ewigkeit her. Du bist der Einzige, der etwas an deinem Leben verändern kann.«
»Schwachsinn!« Samael schrie regelrecht. »Du kannst alles! Du musst es nur wollen!« Er kam näher und drückte seinem Gegenüber den Lauf seines Revolvers an die Schläfe. »Sag der Polizei, dass damals alles deine Schuld gewesen ist! Sag ihnen, dass du meinen Vater zu alldem gezwungen hast! Tu irgendwas!«
»Ist ja schon gut …« El versuchte, Samael zu beruhigen. »Mich umzubringen, wird dir auch nicht helfen.«
»Es würde mir zumindest Genugtuung bringen«, widersprach Samael aufgebracht. Wenn El ihm nicht helfen wollte, würde er ihn wohl oder übel töten müssen. Rache für sich und seine Familie.
»Okay, okay, ich mach dir ein Angebot.« El hatte anscheinend eingesehen, dass er keine andere Wahl hatte als nachzugeben. »Wie wär’s, wenn du für mich Uriels Arbeit zu Ende bringst und ich dich im Gegenzug von deinem erbärmlichen Leben befreie? Du hast Uriel doch getötet, oder? Er meinte zumindest, dass er sich heute mit dir treffen wollte, um einen seiner Aufträge zu erledigen.«
»Kann sein.« Samael brummte. Wieso musste ihm ausgerechnet der Tod dieses nutzlosen Schwarzen solche Probleme bereiten? Wieder dachte Samael an Uriel und an Uriels Anzug. Wieder dachte er an seinen Vater, der einen ähnlichen Anzug getragen hatte, und er dachte an seine Mutter.
Flashback. Samael sah sich selbst im Sandkasten ihres ehemaligen Anwesens sitzen. Sie waren reich gewesen und angesehen. Er sah seine Mutter, die ihn glücklich anlächelte. In ihrer Hand hielt sie eine Kamera. Er sah nicht mehr als ein verblassendes Bild. El hatte ihm seine Mutter genommen und jetzt besaß er die Unverfrorenheit, auch noch Forderungen zu stellen. Entschlossen presste Samael seinen Finger gegen den Abzug seines Revolvers. Er zögerte. Noch immer sah er das Gesicht seiner Mutter. Sie lächelte nicht mehr. Enttäuschung lag in ihren Augen. So hatte sie sich das Leben ihres Sohnes nicht vorgestellt. Vielleicht konnte El sie nicht zurückholen, doch vielleicht war er Samaels letzte Chance auf ein normales Leben, ein Leben, das Samaels Mutter stolz gemacht hätte. Ohne Morde, ohne Rache, ohne Hass. Samael konnte El immer noch später töten.
»Gehen wir davon aus, ich akzeptiere deinen Vorschlag, was müsste ich für dich tun?«, fragte Samael misstrauisch. Etwas an Els gelassener Art ließ ihn glauben, dass dieser tatsächlich in der Lage war, ihm ein neues Leben zu bieten, ihn aus seinem bisherigen Alltag zu befreien. Schließlich hatte er etwas Ähnliches schon einmal für Samaels Vater getan.
»Matthäus 25,34–36.« Els Stimme klang mit einem Mal pathetisch und hatte zudem einen unterschwelligen Hauch von Melancholie an sich. »Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.«
»Du hast ’nen Knall!« Samaels Laune hatte den Tiefpunkt erreicht. Dieser Hippieverschnitt vom Green Party-Parteitag verstand es wahrhaftig, ihn zu reizen. »Ich frage dich nicht noch einmal: Was soll ich für dich tun?«, wiederholte Samael ungeduldig.
»Darf ich?« Mit einem entschuldigenden Blick unter den Tresen signalisierte El Samael, dass er etwas darunter hervorholen wollte. Samael seufzte und steckte seinen Revolver ein. Der Kiffer sah nicht im Entferntesten so aus, als würde er eine Waffe hervorziehen. Und selbst wenn, gegen Samael hatte er ohnehin keine Chance. Tatsächlich griff El lediglich nach einem braunen Umschlag und übergab ihn Samael. Hunger stillen. Der schwarze Edding auf dem Ökopapier war kaum zu übersehen. »Uriel sollte sieben Aufträge für mich erfüllen. Das ist einer davon. Beweise mir, dass die Menschen noch zu Gutem fähig sind. Beweise mir, dass ich Lucy aus seinem Dienst entlassen kann.«
Wortlos betrachtete Samael den Umschlag. Sollte er ihn wirklich öffnen? Er hatte keine andere Wahl. Entweder würde er mit El verhandeln, um in sein vergangenes, luxuriöses Leben zurückkehren zu können oder er würde für immer als Gesetzloser auf der Straße leben. Letzteres hätte seine Mutter ganz bestimmt nicht gewollt.
»Was zur Hölle …?«, presste Samael um Fassung ringend hervor. Die Hilflosigkeit war ihm deutlich anzusehen. Er hatte das Foto eines Mannes aus dem Umschlag gezogen, den er nur allzu gut kannte. El hingegen hatte sich seinem Cannabis-Bonsai zugewandt und summte leise ABBA vor sich hin: Money, money, money … Konzentriert schnippelte er mit einer Nagelschere an den Blättern des Minigewächses herum und war anscheinend nicht mehr gewillt, weiterhin auf Samaels Fragen einzugehen. Dieser sollte selbst herausfinden, was er zu tun hatte. Man konnte seinen Jüngern schließlich nicht alles vorkauen. Jeder sollte die Heilige Schrift so lesen, wie er es selbst für richtig hielt.
Einen Moment lang überlegte Samael, ob er jetzt vollends ausrasten sollte. Ob er El auf der Stelle töten sollte. Doch dann entschied er sich für einen Rückzug. Das hier war vermutlich seine einzige Chance, doch noch zu bekommen, was er immer gewollt hatte. Hunger stillen. Wenn es sich Samael recht überlegte, hatte er vielleicht doch eine Idee, was es damit auf sich hatte. Und wenn nicht, würde er zurückkommen und El eigenhändig die Haut abziehen, bevor er ihn in seinem eigenen Blut ertränken würde. Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird.
»Happy Birthday«, knurrte Samael zornig, bevor er die Tür der Tankstelle krachend in ihr Schloss fallen ließ. Geradewegs stapfte er in die dunkle Nacht hinein. Kling, Glöckchen, klingelingeling.