Читать книгу Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit - Barbara Bräutigam - Страница 8

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1 Kleine Geschichte(n) der Psychologie

Psychologie beschäftigt sich im Wesentlichen mit den Eigenheiten des menschlichen Geistes – sie ist die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben. Im Rahmen dieses Kapitels soll ein Einblick in die historischen Wurzeln und einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs Psychologie gegeben werden. In der Antike widmeten sich die Medizin der Körperheilkunde und die Philosophie der Seelenheilkunde. Eine wesentliche Frage, die die Psychologie geprägt hat, ist die, wie Menschen zu Erkenntnissen gelangen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen empirischer, rationalistischer und hermeneutischer Strömungen weisen auf die Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft hin. Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren. Insgesamt kann zwischen der empirischen, der verstehenden und der experimentellen Psychologie unterschieden werden. Zunehmend profilierte sich die Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein, es entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen – der Behaviourismus, die Psychoanalyse und der Kognitivismus. Heute zählen neben dem Gesundheitsbereich Wirtschaftspsychologie, Werbepsychologie, Schulpsychologie, Rechtspsychologie, Verkehrspsychologie und Sportpsychologie zu relevanten Praxisfeldern von heute tätigen Psychologen. In der psychologischen Wissenschaft sind Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts insbesondere Erkenntnisse aus der Traumaforschung, den Neurowissenschaften, sowie der Psychoimmunologie von großer Bedeutung.

Die Überschrift des Kapitels deutet bereits daraufhin, dass es mehr als gewagt wäre, die Geschichte der Psychologie erzählen zu wollen. Es werden jedoch einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs skizziert, die für die Soziale Arbeit relevant erscheinen.

1.1 Frühe Vorstellungen

Psychologie ist ein griechischer Begriff und bedeutet wörtlich übersetzt die „Lehre von der Seele“. Erste wesentliche Überlegungen zur Beschaffenheit der Seele stammen aus der Antike und aus der griechischen Philosophie. In der Antike beschäftigte sich die Medizin mit der Körperheilkunde und die Philosophie mit der Seelenheilkunde. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. entwarf die Bewegung der Orphiker eine Lehre der Seele, die auf einem Dualismus von Körper und Seele basierte, bei dem der Körper im Diesseits verhaftet und das Gefängnis der Seele darstelle (Schönpflug 2013). Sie stützten sich dabei auf den – mittlerweile vielfach variierten – Mythos von Orpheus und Eurydike. Dem Mythos zufolge versucht Orpheus seine geliebte verstorbene Frau Eurydike aus der Totenwelt und dem Jenseits zurückzuholen und scheitert, weil er die Bedingung der Götter, sich nach seiner Frau nicht umzusehen, nicht erfüllen kann. Bis heute symbolisiert dieser Mythos die Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

Platon (428–348 v. Chr.) vertrat ebenfalls die Auffassung, dass Körper erst dann leben, wenn sie beseelt seien. Er verglich die Seele mit einem Gespann, das von einem Rappen und einem Schimmel gezogen würde; der Rappe verkörpere die Begierde und ziehe den Wagen in Richtung der materiellen Welt, während der Schimmel nach etwas Höherem strebe. Der Wagenlenker habe Kraft seiner Vernunft die Aufgabe, dieses Gespann durch die Welt zu steuern. Die Parallelen zu Sigmund Freuds Strukturmodell, bei dem das Ich zwischen dem Es, das für die Triebe und Begierden steht und dem Über-Ich, das die Moral verkörpert, vermitteln muss, sind mehr als deutlich. Bereits in Platons Seeelenmodell sind die Wurzeln für moderne psychologische Theorien verankert (Walach 2013, 106 f.).

Andere aus der Zeit der Antike übermittelte Überlegungen über die Beschaffenheit der Seele trugen eher den Charakter von Typologien:

„Eine rein äußerliche Typologie hat etwa Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) vorgestellt. Er unterteilte die Menschen in schlanke, asthenische auf der einen Seite und in dicke, pyknische Typen auf der anderen Seite. Seine Anhänger, die Hippokraten, haben dem eine innere Typologie hinzugefügt, die nichts anderes war als eine Safttheorie. Safttheorien gehen davon aus, dass im Körper vier verschiedene Säfte (Blut, schwarze und gelbe Galle, sowie Phlegma) zirkulieren und immer dann, wenn das Verhältnis der Säfte nicht perfekt ausbalanciert ist, etwas schiefgehen kann. Derjenige der Säfte, der überwiegt, kann den Charakter des Menschen dominieren“ (Hecht/Desnizza 2012, 104).

Laut diesen Theorien stehen die vier Säfte für jeweils ein Element und für ein Temperament. Die schwarze Galle (Wasser) deute, so die Annahme, auf ein überwiegend melancholisches und schwermütiges, die gelbe Galle (Luft) auf ein cholerisches, aufbrausendes, das Blut (Feuer) auf ein wechsel- und launenhaftes und das Phlegma (Erde) auf ein träges Temperament hin. Die Lehre von den Säften kann zwar getrost als überholt betrachtet werden. Die Existenz unterschiedlicher und von Geburt an bestehender Temperamente hingegen ist bis heute unbestritten (s. Kapitel 2.3.3).

Zwei weitere philosophische Strömungen der Antike, die sich mit dem Wesen der Seele auseinandersetzten, sind die Stoiker und die Epikureer. Die Stoiker stellten die Selbstkontrolle in den Mittelpunkt. Gefühle und Begierden sind ihnen zufolge schädlich, die Seele müsse vor emotionaler und triebhafter Erregung bewahrt werden. Epikur (341–271 v. Chr.) hingegen propagierte, dass Lust und Sinnesempfindungen in Maßen durchaus wichtig für das seelische Wohlbefinden seien (Schönpflug 2013).

Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte eine monistische Seelenlehre, d.h., er ging nicht mehr von einer grundsätzlichen Zweiteilung zwischen Körper und Seele aus. Er differenzierte vielmehr zwischen der vegetativen Seele, die alle Organismen besäßen, der animalischen Seele, die Tiere und Menschen hätten und für die Begierden, Empfindungen und die Fortbewegung zuständig sei, und zum dritten zwischen der dem Menschen eigenen Geistesseele, die die Fähigkeit zur Logik bedeute. Im späteren Mittelalter griff Thomas von Aquin (1225–1274) die aristotelische Seelenlehre wieder auf und verband sie mit dem frühmittelalterlichen Seelenbegriff von Augustinus (354–430 n. Chr.). Augustinus betrachtete die Seele unter einem metaphysischen und nach dem Himmlischen strebenden Aspekt und

„…unter einem empirischen Aspekt des Selbst, weil es sich in seiner eigenen Erfahrung widerspiegelt. Jene in der Selbsterfahrung sich spiegelnde Seele ordnete Augustinus […] dem Diesseits zu“ (Schönpflug 2013, 77).

Insofern kann man also Augustinus als einen der ersten Denker bezeichnen, der die Bedeutung von Selbsterfahrung und Nachdenken über sich selbst erkannte. Im Mittelalter hat sich die Seelenkunde zwar ansonsten nur wenig entwickelt (Hecht/Desnizza 2012, 109); mit Beginn der Reformation und dem zunehmenden Interesse am Verstehen des Menschen avancierte die Seelenkunde aber schließlich zu einem eigenen Forschungsgebiet.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der menschlichen Seele zunächst den Philosophen vorbehalten blieb und sich vieles um die Frage rankte, aus welchen Teilen die Seele denn bestehe und ob sie getrennt vom Körper existiere.

1.2 Unterschiedliche Wege zum Erkenntnisgewinn

Mit dem Interesse für den Menschen geht auch die Neugier einher, wie dieser eigentlich wahrnehmen bzw. überhaupt Erfahrungen machen und diese einordnen könne. Theorien hierüber werden als „Erkenntnistheorien“ bezeichnet. Bis heute existieren in der Psychologie, aber auch in der Sozialen Arbeit, sehr unterschiedliche forscherische Zugänge und Annahmen, wie und vor allem wie voraussetzungsfrei neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Daher werden im Folgenden drei zentrale Strömungen, die für das Verständnis der psychologischen Perspektive wichtig sind, erläutert.

Nach der empiristischen Erkenntnistheorie von John Locke (1632–1704)basiert die menschliche Erkenntnis ausschließlich auf sinnlichen Erfahrungen. Locke zufolge gibt es keine angeborenen Ideen; der Zuwachs an Erkenntnis ergibt sich aus der Reflexion der Erfahrungen, aus der dann wiederum neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Der Empirismus geht also davon aus, dass es keine allgemeingültigen Gesetze gibt und dass der Mensch rein auf Grund seiner Erfahrungen so geworden ist, wie er ist.

Im Gegensatz dazu geht der Rationalismus davon aus, dass Vernunft für den Erkenntnisprozess eine wesentliche Voraussetzung ist. Als Begründer der rationalistischen Erkenntnistheorie gilt René Descartes (1596–1649).

„Rationalisten setzen auf die Vernunft als Erkenntnisquelle. Dementsprechend fordert Descartes (1972), die Erkenntniskraft sei darauf auszurichten, „dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt“ (S. 3). Die Regel verlangt, dass wir an allem zweifeln, was uns für gewöhnlich verlässlich scheint, nämlich unsere Sinne, unser Körper, unser Gedächtnis, unsere Sprache etc. Der Zweifel findet ein Ende, wenn uns dank der Vernunft bewusst wird, dass wir zwar alles bezweifeln können, nicht aber die Tatsache, dass wir zweifeln. Im Vollzug des Zweifels gibt es eine Evidenz, die uns als unbezweifelbar wahr erscheint“ (Herzog 2012, 49).

Zentrale Punkte an Descartes Theorie sind also sein genereller Zweifel an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis und seine strikte Trennung zwischen Geist und Materie. Immanuel Kant (1724–1804) wies in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ daraufhin, dass Erkenntnisse zwar sehr wohl empirisch gewonnen werden, es aber „apriorische Vorbedingungen“ von Erfahrungen gäbe. Vor aller Erfahrung müssen also bereits geistige Strukturen vorhanden sein, um Erfahrungen überhaupt machen bzw. verarbeiten zu können (Walach 2013, 181f.).

Diese beiden erkenntnistheoretischen Strömungen sind für das Verständnis unterschiedlicher „Schulen“ in der Psychologie zentral (Schönpflug 2013). Es zeigt sich darin auch die in der Einleitung beschriebene Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft.

Ein dritter wesentlicher Zugang, um zu Erkenntnis zu gelangen, besteht in der Hermeneutik, die auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) zurückgeht. Hermeneutik ist die Lehre der Auslegung und des ganzheitlichen Verständnisses von sprachlichem Material. Die Besonderheit an einem hermeneutischen Zugang liegt in der Betonung der Subjektivität des Erkennenden und Verstehenden; demzufolge gibt es keine objektive Erkenntnis unabhängig vom Wahrnehmenden selbst.

„Wilhelm Dilthey war es, der diese Lehre dann philosophisch vertieft hat und darauf hinwies, dass im Grunde die gesamte Geisteswissenschaft verstehender Natur sei, da sie es mit kulturellen Äußerungen der Menschen zu tun habe und also hermeneutische Verfahren anwenden müsse, während die Naturwissenschaften quantifizierend erklärender Art sind“ (Walach 2013, 368).

1.3 Wilhelm Wundt und die Anfänge der akademischen Psychologie

Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren, so z.sB. in die Tierpsychologie, die Völker- und Sozialpsychologie und die Psychopathologie. Man unterscheidet weiterhin zwischen einer allgemeinen und einer differentiellen Psychologie. Die allgemeine Psychologie nimmt die Gemeinsamkeiten von Menschen und die differentielle Psychologie individuelle Unterschiede zwischen Menschen in den Blick; darum wird letztere auch als Persönlichkeitspsychologie bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen allgemeiner und differentieller Psychologie gilt bis heute:

„Die allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit den psychischen Erscheinungsweisen des normalen Menschen und sucht die allgemeingültigen Gesetze ausfindig zu machen, welcher ihr zugrunde liegen“ (Schermer 2011, 42).

Die allgemeine Psychologie befasst sich also mit der Beschaffenheit allgemeingültiger psychologischer Mechanismen, wie z.B. Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Motivations- und Lernprozesse (Kapitel 3). Die Persönlichkeitspsychologie, die aus der bereits in der Antike bestehenden Charakterologie hervorgegangen ist, beschäftigt sich hingegen mit der Lehre von den Persönlichkeitseigenschaften, der Bestimmung von Individualität und der Integration individueller Eigenschaften in die Einheit der Person:

„Innerhalb der Charakterkunde hat sich ein Schwerpunkt gebildet, welches das Prinzip der ganzheitlichen Ordnung psychischer Fähigkeiten und Motive sowie das Prinzip der Einzigartigkeit von Personen in den Mittelpunkt gestellt hat. Dieser Schwerpunkt hat erst später einen eigenen Namen enthalten: Persönlichkeitspsychologie“ (Schönpflug 2013, 225).

Wilhelm Wundt (1832–1920) gründete 1879 in Leipzig das erste psychologische Laboratorium und gilt als der Vater der modernen und akademischen Psychologie. Auf Wundt geht der Begriff der Introspektion zurück, der Selbstbeobachtung bedeutet. Wundt verstand darunter die bewusste und systematische Beobachtung des eigenen Verhaltens und Erlebens. Um die Bedingungen dieses Beobachtungsvorganges kontrollieren zu können, setzte Wundt das Experiment ein, das es ermöglichte, psychische Vorgänge gezielt hervorzurufen, zu erzeugen und dann zu beobachten. Für Wilhelm Wundt stand die Erforschung der unmittelbaren Erfahrung im Zentrum der akademischen Disziplin der Psychologie:

„Ihre Aufgabe ‚besteht in der Erforschung dessen, was wir im Gegensatze zu den Gegenständen der äußeren Erfahrung […] die innere Erfahrung nennen: in unserem eigenen Empfinden und Fühlen, Denken und Wollen. Der Mensch selbst, nicht wie er von außen erscheint, sondern wie er unmittelbar sich selber gegeben ist – er ist das eigentliche Problem der Psychologie“ (Wundt 1919, 1).

Ebenfalls im 19. Jahrhundert beginnt die gezielte Beobachtung von Kindern. Wissenschaftlich, erzieherisch und literarisch interessierte Väter wie Jean Piaget und Charles Darwin veröffentlichen Beobachtungen über ihre Kinder. Hierbei wird bereits ein Grundstein für entwicklungspsychologische Forschung gelegt.

Insgesamt kann im 19. Jahrhundert – grob verallgemeinert – zwischen drei großen Strömungen der Psychologie unterschieden werden: 1. die empirische Psychologie, die Psychologie als Erfah rungswissenschaft begreift; 2. die verstehende Psychologie, die davon ausgeht, dass das Verständnis eines anderen Menschen aus der unmittelbaren Begegnung zwischen zwei Subjekten hervorgeht; und 3. die experimentelle Psychologie, die versucht, Aspekte der Wahrnehmung, der Motivation und des Gedächtnisses mittels erster psychophysiologischer Messungen zu untersuchen.

1.4 Zwischen Skinner, Freud und Piaget: Psychologie differenziert sich

Im 19. Jahrhundert hatte sich die akademische Psychologie zunächst als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein profiliert. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen, die bis heute in der Psychologie und auch für die unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen eine wesentliche Rolle spielen: der Behaviourismus nach Skinner, die Psychoanalyse nach Freud und der Kognitivismus nach Piaget.

Als wichtigste Vertreter des Behaviourismus gelten die US-Amerikaner John Watson (1878–1958) und B.F. Skinner (1904–1990). Dem Behaviourismus zufolge muss sich die Psychologie auf die Beobachtung und die Veränderung von Verhalten beschränken. Innere Prozesse werden als nicht greifbare und wissenschaftlich erfassbare Vorgänge verstanden. Eine Grundidee des Behaviourismus besteht darin, dass sämtliches Können und alle Eigenschaften von Menschen auf Lernerfahrungen beruhen. Im Fokus steht also die Frage: Wie wird gelernt? Unterstützt wurde dieser Ansatz durch die unabhängig entwickelten Arbeiten des russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849–1936), der durch seine Experimente mit Hunden entdeckte, wie Verhalten durch die Kopplung an Außenreize gesteuert werden konnte (s. Kapitel 3.6.1).

Sigmund Freud (1856–1938) als der Vater der Psychoanalyse legte mit seiner Idee, dass seelische Störungen ihren Ursprung in einer unbewussten Dynamik haben und auf ungelösten frühkindlichen, vornehmlich sexuellen Konflikten basieren, den Grundstein für psychodynamische Theorien und für die Behandlungsidee einer Art Sprechkur. Interessanterweise wird die Psychoanalyse an vielen deutschen psychologischen Fakultäten heute fast gar nicht mehr gelehrt, weil sie als unwissenschaftlich und nicht ausreichend empirisch belegt gilt; sie ist hingegen an religions- oder literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen relativ präsent. Die Psychoanalyse stellt nach wie vor eine der bedeutsamsten Theorien über die menschliche Seele und deren Eigenarten dar und ist auch für die psychosoziale Handlungspraxis (s. Kapitel 6.4) relevant.

Als dritte große Richtung ist der Kognitivismus zu benennen, in dessen Zentrum die Theorie der Erkenntnis und das Bewusstsein im Sinne von Einsicht und Vernunft stehen. Einer der berühmtesten Vertreter des Kognitivismus ist der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980), der sich intensiv mit der Entwicklung geistiger Strukturen (s. Kapitel 2.6) befasste.

1.5 Die Rolle der Psychologie in der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen

Die bedeutenden Entwicklungspsychologen Charlotte und Karl Bühler, der Wahrnehmungspsychologe Kurt Goldstein, der wichtige neuropsychologische Grundlagen schuf, Paul Lazarsfeld als der Ideengeber der Marienthalstudie, Max Wertheimer als Vater der Gestaltpsychologie, William Stern als Begründer der Persönlichkeitspsychologie und Erfinder des Intelligenzquotienten, Kurt Lewin als Schöpfer der Feldtheorie: Sie sind nur einige wenige Beispiele für eine Vielzahl von wegweisenden Psychologen, die während der NS-Zeit auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder abweichender politischer Überzeugungen ihre Stellung in Deutschland verloren oder emigrieren mussten.

Gleichwohl – die Geschichte der Psychologie in der NS-Zeit ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder. Sie ist ebenso eine Geschichte der Mittäterschaft. Darüber hinaus hat sich die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin in dieser Zeit etabliert:

„Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Psychologie in Deutschland der NS-Herrschaft ihre Etablierung als eine eigenständige akademische Disziplin verdankt, losgelöst von Philosophie und Medizin. Mit der Einführung der Diplomstudienordnung für das Fach Psychologie im Jahre 1941 wurde ein Curriculum entwickelt, das der Psychologie nach dem 2. Weltkrieg die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychologen erst ermöglichte (vgl. Geuter 1984a). Hierbei spielte die individuelle Anpassung aufgrund opportunistischer Erwägungen an die herrschende NS Ideologie ebenso eine Rolle wie der Versuch, die psychologischen Erkenntnisse der Diagnostik vor allem in der Wehrpsychologie und Berufsberatung nutzbar zu machen“ (Wolfradt 2017, 1f.).

Während der NS-Zeit arbeiteten nicht wenige Psychologen als Wehrpsychologen und profitierten von der damit verbundenen Verbeamtung. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP konnte dazu beitragen, eine gesicherte Anstellung an Universitäten oder anderen staatlichen Stellen zu erhalten. Auch bei der Entwicklung einer Rassenpsychologie wirkten Psychologen mit. Besonders populär waren in dieser Zeit psychologische Lehren, die biologischorganische Charakterologien propagierten und einen völkischen Gemeinschaftsgedanken betonten. Insgesamt war die Psychologie, die häufig mit der stark jüdisch geprägten Psychoanalyse gleichgesetzt wurde, den NS-Machthabern zwar suspekt, dennoch wurden z.B. völkische Rassegedanken von Psychologen in bestehende Persönlichkeitskonzepte integriert (Geuter 1985, Wolfradt 2017).

Es gibt einige Beispiele dafür, dass psychologische Wissenschaftler, die offensiv nationalsozialistisches Gedankengut vertraten, auch nach dem zweiten Weltkrieg wichtige akademische Positionen bekleideten. Hierzu gehört der bekannte Ausdruckspsychologe Philipp Lersch, der sich 1941 offen für das Euthanasieprogramm der Nazis ausgesprochen hatte, von 1942–1968 in München lehrte und von 1953–1955 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, die sich zwar zeitweise mit der NSFührung überwarf, aber dennoch 1942 Charaktergutachten über polnische Kinder erstellte, die über deren mögliche Umerziehung oder auch potenzielle Vernichtung entschieden. Sie wurde 1961 zur Psychologieprofessorin in Gießen berufen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.

Nur wenige PsychologieprofessorInnen wurden im Zuge der Entnazifizierung ihrer Hochschulämter enthoben. Insofern konnte gerade in den damaligen Westzonen von einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die seit 1941 bestehende und bis in das neue Jahrtausend fast unveränderte Diplomprüfungsordnung ist ein Ausdruck dieser Kontinuität (Häcker/Stapf 2009).

Während sich ansonsten in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 1980er Jahre im psychotherapeutischen Bereich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, humanistische und familientherapeutische Verfahren nebeneinander entwickelten, dominierten in der ehemaligen DDR angelehnt an die sowjetische Ideologie zunächst Entspannungs- und Hypnoseverfahren. Psychoanalytische Verfahren waren verpönt, erst Anfang der 1970er Jahre lockerte sich dieses. Das Ausmaß an Bespitzelung durch PsychologInnen ist bis heute nicht bekannt, es ist aber gesichert, dass das Ministerium für Staatssicherheit Psychotherapeuten angeworben hat, um deren Patienten auszuspionieren (Sonnenmoser 2009).

1.6 Psychologie heute

Der Kanon der universitär gelehrten Psychologie besteht heute im Allgemeinen in der Lehre der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, der allgemeinen Psychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen Psychologie, der biologischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie (Röhner/Schütz 2012). In der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1970er Jahren maßgeblich um Klaus Holzkamp (2003) an der FU Berlin zusätzlich die kritische Psychologie, die sich programmatisch die Reflexion gesellschaftlicher Zwänge zum Ziel gesetzt hatte und insofern eine besondere Nähe zu Ansätzen der Sozialen Arbeit aufweist.

Heute beschäftigt sich die psychologische Forschung mit einer Vielzahl von Themen. Aus Perspektive der Sozialen Arbeit sind z.B. Erkenntnisse aus der Traumaforschung, die u.a. die Entdeckung von Körpergedächtnissymptomen und innerfamiliärem Missbrauch als Verursacher komplexer posttraumatischer Stress-Syndrome (Cole/Putnam 1992, van der Kolk 2000, Fegert 2015) hervorbrachte, sehr interessant. Seit ein paar Jahren verändern Erkenntnisse über die Bedeutung epigenetischer Kontrollmechanismen (Roth/Strüber 2014) – d.h., dass auch erworbene Eigenschaften an nächste Generationen vererbt werden können – den Blick auf individuelle Entwicklungsbedingungen. Aber auch die Weiterentwicklung der Neurowissenschaften und der Psychoimmunologie – also wie psychische Mechanismen das Immunsystem stärken oder auch schwächen können – geben einen Ausblick auf die Verwobenheit körperlicher, seelischer und kontextueller Faktoren.


Schönpflug, W. (2013): Geschichte und Systematik der Psychologie. 3. vollst. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim

Walach, H. (2013): Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 3. überarb. und erw. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Was verstanden die Orphiker unter der Seele?

Wie werden die unterschiedlichen Temperamente laut den Safttheorien beschrieben?

Differenzieren Sie empiristische, rationalistische und hermeneutische Zugänge zu Erkenntnis.

Worin unterscheidet sich die allgemeine von der differentiellen Psychologie?

Skizzieren Sie die unterschiedlichen grundsätzlichen Fragen, die den Behaviourismus, die Psychoanalyse und den Kognitivismus beschäftigen.

Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit

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