Читать книгу Wer die Leidenshaft flieht - Barbara Cartland - Страница 3
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ОглавлениеIrgendetwas ging hier vor... irgendetwas ängstigte sie. Fleur bewegte sich, versuchte zu schreien. Im selben Augenblick wurde eine Hand auf ihren Mund gepreßt. Einen Moment lang empfand sie nichts als schieres Entsetzen ... dann hörte sie Maries Stimme.
»Alles in Ordnung, Mademoiselle - ich bin es, Marie. Haben Sie keine Angst.«
»Marie!«
Fleur drehte sich um. Sie konnte noch immer fühlen, daß ihr Herz zu schnell schlug und ihr Atem keuchend und stoßweise über ihre Lippen kam.
»Pst! Wir müssen ganz leise sein. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«
Fleur setzte sich im Bett auf. Eine brennende Kerze stand auf dem Nachttisch, aber sie erhellte mit ihrem Flackern nur einen kleinen Teil des Zimmers; der Rest lag düster und bedrohlich im Schatten.
»Was ist denn los?«
Marie kam so nahe, daß sich ihre Gesichter fast berührten.
»Fabian hat die Information gebracht. Sie müssen noch heute von hier fort, Mademoiselle. Sie sind in Gefahr.«
»Was hat er gesagt?«
Maries Stimme wurde noch leiser, so daß Fleur die Ohren spitzen mußte, um zu hören, was sie sagte.
»Es ist wegen Monsieur Pierre. Er ist nicht nur ins Dorf gegangen, um mit dem Pfarrer und dem Arzt zu sprechen, sondern er hat auch telefoniert - mit Paris, Ihretwegen, Mademoiselle!«
Marie machte eine dramatische Pause, wie jemand, der am Höhepunkt seiner Geschichte angelangt ist.
»Über meine Heirat!«
Marie nickte.
»Ja. Er hat mit einem Freund telefoniert und ihn aufgefordert, gleich morgen früh zur Madeleine zu gehen und Erkundigungen einzuziehen, ob Sie und Monsieur Lucien dort getraut worden sind.
Fabian hat erzählt, daß er seinem Freund befohlen hat, sich gleich morgen früh zu erkundigen. Mademoiselle, Sie müssen fort!«
»Wenn er keine Unterlagen findet«, überlegte Fleur laut, »was dann?«
»Dann wird Monsieur Pierre nicht lockerlassen und alles herausfinden. Ach, Mademoiselle, ich habe gestern abend zugehört, als sie sich beim Essen mit ihm unterhalten haben. Sie sprechen wunderbar Französisch,- aber es ist nicht gut genug, um einen Franzosen zu täuschen. Einen Deutschen, ja - was wissen die schon von unserer Sprache? Aber Monsieur Pierre ... Ich konnte sehen, wie er Sie beobachtet hat, die Art, wie er zuhörte. Mademoiselle, er ist mißtrauisch.«
»Aber würde er es wagen, mich zu verraten - nachdem seine Tante mich all die Monate hindurch beschützt hat? Bestimmt...«
»Monsieur Pierre hat auch unser Land verraten«, unterbrach Marie sie. »Er hat sich mit den Deutschen verbündet, er wäre nur zu froh, ihnen einen Gefallen tun zu können. Glauben Sie etwa, daß der Familienstolz ihm wichtiger ist als sein persönlicher Vorteil? O nein, Mademoiselle, ein Mann, der Frankreich in den Rücken fällt, würde gewiß nicht zögern, die Ehre seiner Familie aufs Spiel zu setzen. Sie befinden sich in Gefahr, ma petite. Sie müssen fort.«
»Aber wohin? Wohin kann ich schon gehen?« Fleur machte eine hilflose Handbewegung.
»Ich habe über alles nachgedacht. Auch der Herr Bürgermeister ist nicht ohne Ideen. Er hat Fabian erzählt, daß die Papiere, die Sie bereits haben, vernichtet werden müssen.«
»Aber was gibt er mir stattdessen?« fragte Fleur entsetzt.
»Ich habe schon alles arrangiert«, erwiderte Marie. »Ecoutez, Mademoiselle, hören Sie mir zu. Ich habe einen Bruder - Jacques. Er hat mich gern und ich ihn auch, obwohl ich ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Er lebt in Sainte Madeleine-de-Beauchamps, einem kleinen Dorf nicht weit von Dieppe. Jacques besitzt dort eine Farm. Einige seiner Kinder arbeiten mit ihm auf dem Land, andere sind Fischer. Er hat eine große Familie. Sie werden mit Papieren zu ihm gehen, aus denen jeder, der sie liest, sehen kann, daß Sie seine Nichte sind.«
»Aber, Marie, woher willst du wissen, daß er mich bei sich aufnimmt?«
»Er wird Sie bei sich wohnen lassen, weil ich Sie schicke. Er mag die Deutschen nicht - sein ältester Sohn, François, ist beim Kampf in den Ardennen gefallen. Der Pfarrer hat mir geschrieben und mir seinen Tod mitgeteilt, denn Jacques kann nicht schreiben. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet und hatte keine Zeit zum Lernen.«
»Aber angenommen ...«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mademoiselle. Es wird alles gut, das verspreche ich Ihnen.«
»Ach, Marie - komm mit mir!«
»Ich habe schon daran gedacht«, erwiderte Marie. »Aber das wäre nicht klug. Wenn Monsieur Pierre uns suchen sollte, würde er schnell herausfinden, daß ich heimgefahren bin; aber Sie allein kann er nicht finden. Er wüßte nicht einmal, welche Richtung Sie eingeschlagen haben.«
»Aber die Reisegenehmigung?«
»Das wird alles arrangiert. Fabian kümmert sich darum. Er wird Monsieur le Maire genau erklären, was nötig ist. Der Bürgermeister wird es verstehen - dieser Mann ist nicht dumm.«
»Aber er begibt sich damit auch in Gefahr. Ich wüßte nicht, warum er meinetwegen Schwierigkeiten auf sich nehmen sollte!«
»Er tut es weniger für Sie, Mademoiselle. Er gehört zur Widerstandsbewegung. Er sieht vielleicht aus wie eine Maus, aber er hat das Herz eines Löwen.«
»Davon hatte ich ja keine Ahnung!«
»Die Deutschen auch nicht«, antwortete Marie grimmig. »Er ist klein und wirkt verängstigt, und deshalb lassen sie ihn in seinem Amt; sie erteilen ihm Anweisungen und freuen sich über die respektvolle, unterwürfige Art, mit der er verspricht, sie zu befolgen. Aber sie täuschen sich!
Neulich erst brachten sie einen großen Zug voller Lebensmittel in unseren Bahnhof. Lebensmittel, die sie von unseren Bauernhöfen und Garten gestohlen haben und die jetzt nach Deutschland gebracht werden sollten. Die Wagen liefen nicht glatt, und so holte man Monsieur le Maire und erklärte ihm, daß zehn Männer die Achsen ölen sollten. Monsieur willigte ein.
,Und keine Dummheiten', fügten sie noch hinzu. ,Wenn irgendjemand dabei erwischt wird, wie er Sand oder etwas anderes in die Räder streut, dann wird er erschossen, und ebenso seine Familie und alle, die mit ihm arbeiten.'
,Wir haben verstanden', erklärte Monsieur le Maire. Dann rief er die Männer und erzählte ihnen vor den Deutschen, wie wichtig diese Aufgabe sei und wie gut sie erledigt werden müsse.
,Ihr müßt sehr vorsichtig sein, mes enfants', sagte er, ,und darauf achten, daß eure Hände sauber sind, während ihr diese Arbeit erledigt. Wenn ihr irgendetwas anderes anfaßt als das Schmierfett, dann müßt ihr sofort zu dem kleinen Fluß neben dem Bahnhof laufen und euch waschen.'
Die Deutschen nickten zufrieden, aber alle, die zuhörten, hätten fast laut gelacht. Denn dieser kleine Fluß, in dem sie sich die Hände waschen sollten, ist der einzige Ort in unserem kleinen Dorf, an dem es Sand gibt - guten, festen Sand.
Die Männer begriffen natürlich, und während sie ihre Aufgabe verrichteten, gehorchten sie seinen Anweisungen und liefen häufig, um sich zu waschen. Dieser Zug hat nichts anderes als viele Hände voll von unserem guten, festen Sand nach Deutschland gebracht!
Ja, Monsieur le Maire ist nicht so einfältig, wie er aussieht. Sie können ihm vertrauen. Aber nun müssen wir uns beeilen, Mademoiselle. Sie müssen fortgehen, sobald der Tag anbricht.«
Fleur kletterte aus dem Bett.
»Wie spät ist es?« wollte sie wissen.
»Fast vier Uhr. Und sehen Sie! Ich habe Ihre Sachen schon gepackt.«
Sie hob die Kerze hoch und deutete auf ein dunkles Bündel in der Ecke des Zimmers. Daneben standen ein Korb und eine alte Stofftasche, wie sie die französischen Bauern immer bei sich trugen, wenn sie verreisten.
»Aber das Kleid!«
»Mademoiselle werden verzeihen, es ist mein eigenes! Ich habe es vor vielen Jahren gekauft«, erklärte Marie.
Ihre Stimme klang ein bißchen traurig. Als Fleur das Kleid nun aufnahm und es genauer betrachtete, bemerkte sie, daß es fast neu war, altmodisch, aber gut verarbeitet.
»Aber Marie, das kann ich nicht annehmen - dein bestes Kleid.«
»Es ist jetzt sowieso zu klein für mich, ich habe es nie viel getragen.«
»Warum nicht?«
»Es gehörte zu meiner Aussteuer.«
»Und du hast nie geheiratet? Was ist denn passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte«, wehrte Marie ab. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Kommen Sie, Mademoiselle, Sie müssen sich anziehen.«
Fleur spürte, daß sich hinter ihren Worten eine Tragödie verbarg, und doch war ihr klar, daß Marie recht hatte. Jetzt war nicht die Zeit für Erinnerungen, sie mußte das Château verlassen, ehe Monsieur Pierre erwachte.
Ich muß den ersten Zug nehmen, überlegte sie, der um fünf Uhr dreißig abgeht.
Sie kam sich sonderbar vor, als sie sich im Spiegel betrachtete. Marie hatte ihr geholfen, das enge Mieder zuzuknöpfen. Dann hatte sie das Haar aus der Stirn gebürstet und es mit einem schlichten, schwarzen Strohhut bedeckt. Fleur wirkte erstaunlich jung und gleichzeitig unauffällig - ein junges Bauernmädchen, das unterwegs war, um seine erste Stelle als femme de chambre anzutreten.
»Wie wirst du Monsieur Pierre meine Abreise erklären?«
Marie zuckte mit den Schultern.
»Er wird dich zur Verantwortung ziehen«, gab Fleur zu bedenken. »Das kann ich nicht zulassen, Marie.«
»Könnten Sie ihm einen Brief hinterlassen?«
»Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde ihm schreiben, daß ich ein Telegramm erhalten habe. Jemand aus meiner Familie könnte erkrankt sein.«
Fleur ging zum Schreibtisch und setzte sich, um eine kurze Nachricht zu verfassen.
»Monsieur«, begann sie ganz einfach, entschlossen, sich nicht einmal um Höflichkeit zu bemühen, »ich habe die traurige Nachricht erhalten, daß meine Cousine indisponiert ist. Ich muß sie unverzüglich aufsuchen. Ich bedaure zutiefst, daß ich bei der Beerdigung nicht anwesend sein kann, aber meine Gedanken und Gebete werden Madame begleiten.«
Sie unterschrieb den Brief nicht. Sie wollte Luciens Namen, auf den sie niemals einen Anspruch gehabt hatte, nicht noch einmal zu einer Lüge benutzen.
Sie schob die Nachricht in einen Umschlag.
»Ich werde ihn erst mittags übergeben«, versprach Marie.
»Sei vorsichtig, Marie. Du darfst ihn nicht mehr verärgern als nötig.«
»Ich habe keine Angst. Ich bin alt - es ist nicht wichtig, was mit mir geschieht. Aber Sie sind jung.«
Sie hörten die Uhr in der Halle schlagen.
»Sie müssen fort«, drängte Marie. »Fabian wartet auf der hinteren Auffahrt auf Sie. Er wird Ihnen Ihre Papiere übergeben. Und noch etwas, Mademoiselle.«
Aus der Tasche zog sie einen Lederbeutel. Als sie ihn in Fleurs Hand legte, klimperte etwas, und Fleur, die fühlte, wie schwer er war, wußte, daß er Münzen enthielt.
»Was ist das?«
»Es hat Madame gehört«, antwortete Marie. »Sie hat immer darauf bestanden, daß wir einen kleinen Spargroschen im Haus haben. Sie konnte sich noch zu gut an die Invasion von 1870 erinnern und wußte, was im letzten Krieg mit dem Franc geschehen ist. ,Wir haben das Gold, Marie', hat sie oft zu mir gesagt. ,Gold hat immer seinen Wert.' Und so haben wir es versteckt.«
»Aber Marie, das kann ich nicht annehmen!«
»Es gehört Ihnen, weil Sie Monsieur Lucien geliebt haben und er Sie«, erklärte Marie einfach.
Für Marie war es selbstverständlich, daß Fleur das Gold mitnahm, in ihren Augen stand es ihr zu. Es hatte keinen Sinn vorzuschlagen, Marie sollte es selbst nehmen.
Impulsiv beugte sich Fleur vor und küßte Maries faltige Wange.
»Danke, Marie. Ich werde es so ansehen, als wäre es ein Vermächtnis von Lucien. Vielleicht hilft und beschützt es mich während dieser Reise.«
»Wir befinden uns alle in Gottes Hand«, seufzte Marie.
Einen Moment lang hielt sie Fleur fest in den Armen. Fleur spürte, daß sie in diesem Augenblick endgültig Abschied von Lucien nahm.
Sie schritt mit dem Korb in der einen und der Tasche in der anderen Hand die Auffahrt entlang und sah mit den weiten Röcken und flachen, praktischen Schuhen tatsächlich wie eine Bäuerin aus.
Sie bemerkte Fabian, der unter den Bäumen stand und auf sie wartete. Er kam auf sie zu, und als er ihr den Korb aus der Hand nahm, wandte sie sich noch einmal zum Château um.
Ein Bild aus der Vergangenheit, dachte Fleur; und das alles ist nun vorüber - vorüber und unerreichbar: Sie wunderte sich, daß sie dieser Gedanke nicht trauriger machte. Eigentlich hätten sich ihre Augen mit Tränen füllen müssen. Aber merkwürdigerweise fiel ihr der Abschied gar nicht so schwer. Sie ertappte sich sogar dabei, daß sie beschwingt und voller Energie neben Fabian herlief, der begeistert über ein solches Abenteuer war. Er behauptete, daß er sie beneide, weil sie so viel von Frankreich sehen werde.
»Es wird nicht gerade ein Vergnügen werden«, bemerkte Fleur halb vorwurfsvoll, weil er die Gefahr dessen, was sie vorhatte, nicht erkannte.
»Es macht immer Spaß, den Boche zu täuschen«, widersprach er lachend. »Ich habe hier Ihre Papiere, Mademoiselle. Mein Vater hatte die gute Idee. Diese Bescheinigung ist nur eine Erlaubnis, den Markt von Bugale zu besuchen. Danach wird man Sie nur einmal fragen. Später, wenn Sie umsteigen, zeigen Sie die neuen Papiere her. Ein Marktbesuch macht hier im Dorf niemanden mißtrauisch. Eine weite Reise jedoch würde bestimmt die Aufmerksamkeit der Kontrolleure erregen.«
»Ich verstehe. Würdest du deinem Vater bitte sagen, wie dankbar ich bin? Ich habe nur Angst, daß er selbst in Schwierigkeiten gerät.«
»Vater wird schon dafür sorgen, daß das nicht geschieht. Sie können von Glück sagen, daß er diese Formulare parat hatte, Mademoiselle. Er hat sie einem Deutschen abgenommen, der eines Abends zu viel getrunken hatte. Bevor er zu Bett gehen wollte, hat er, ohne zu ahnen, was er eigentlich tat, ein paar Reisegenehmigungen unterschrieben. Manche sind uns schon nützlich gewesen. Aber natürlich verwendet Vater sie nur in Notfällen.«
»Das ist klug von ihm.«
»Die Weisheit der Schlange!« prahlte der Junge.
Sie näherten sich dem Bahnhof. Fabian blieb im Schatten eines Heuhaufens stehen und zog die Papiere hervor. Fleur stopfte sie in Maries alte, abgenutzte Tasche, die sie tief in die Seitentasche ihres Rockes schob.
Es kam ihr merkwürdig vor, keine Handtasche zu tragen, aber Marie wollte das nicht zulassen.
»Sie dürfen kein Mißtrauen erregen.«
Fleur hatte verstanden. Sie hoffte nur, daß kein neugieriger Deutscher darauf bestehen würde, ihr Gepäck zu durchsuchen; das würde sie schneller verraten als alles andere.
Der Bahnsteig war von Menschen überfüllt. Nach außen hin sahen sie aus wie Leute, die zum Markt drängten, um zu kaufen und zu verkaufen. Aber wenn man näher hinsah, erkannte man, daß sie kaum Waren bei sich hatten. Die großen Körbe, in denen sich vor Kriegsbeginn wohl ein paar fette Enten, dazu pfundweise goldene Butter und ein Dutzend große, braune Eier befunden haben mochten, waren jetzt leer. Die wenigen, die Lebensmittel transportierten, blickten aufmerksam um sich, als müßten sie einen wertvollen Schatz hüten.
Man hörte kein fröhliches Geplapper und keinen Klatsch, wie es früher bei den Marktbesuchern üblich war. Die Passagiere standen stumm und mit hängenden Schultern da - ein müdes Volk, für das Zugfahren kein Abenteuer mehr bedeutete, sondern eine unausweichliche Last.
Fabian verabschiedete sich von Fleur.
»Gehen Sie bis zum Anfang des Zuges, Mademoiselle«, riet er ihr. »Dort sind weniger Leute.«
»Das werde ich tun. Nochmals vielen Dank.«
Fleur wollte ihm etwas schenken und zog eine Zwanzig-Franc-Note aus ihrer Brieftasche, aber er wies es entschieden, fast unhöflich, zurück.
»Sie werden das noch brauchen, Mademoiselle«, meinte er und fügte mit plötzlichem Ernst hinzu: »Wir haben Monsieur Lucien nicht vergessen - keiner von uns im Dorf.«
Fleur fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte nicht antworten, deshalb wandte sie sich eilig ab und betrat den Bahnhof.
Ihre Genehmigung wurde kontrolliert und ihr dann wiedergegeben; unsicher, ein wenig ängstlich ging sie den Bahnsteig entlang und hatte das unangenehme Gefühl, daß ihr die Blicke aller folgten. Aber niemand war neugierig, dazu waren alle zu erschöpft und niedergeschlagen.
Der Zug lief ein und stieß schwarze Rauchwolken aus. In dem Abteil, in dem Fleur Platz nahm, saßen noch eine alte Frau, die einen zugedeckten Korb im Arm hielt und die Hand eines kleinen Mädchens umklammerte, ein Arbeiter, der seine Pfeife rauchte, deren Rauch die Luft im Wagen mit einem unangenehmen Geruch erfüllte, und eine Nonne, die in einer Ecke ihren Rosenkranz betete und niemals die Augen zu einem der anderen Reisenden hob.
Nach einer Weile durchbrach das Kind das Schweigen: »Grand mère, j'ai faim. «
Ihre Großmutter bückte sich und sprach leise auf das Kind ein. Fleur hörte, wie die alte Frau das Mädchen tröstete und versprach, später etwas zu Essen zu besorgen.
»Aber ich bin jetzt hungrig«, jammerte das Kind und klopfte sich auf den kleinen Bauch.
Die Großmutter wurde ein wenig ungehalten. Das Kind verstummte, aber seine Lippen bewegten sich weiter, und Fleur sah, daß es wieder und wieder vor sich hin sagte, daß es hungrig sei.
Sie erreichten Bugale, und Fleur war erleichtert, dem bedrückenden Schweigen der Menschen entfliehen zu können. Sie stieg in einen anderen Zug. Ihre Reise war lang und unbequem, der Anblick des verarmten, belagerten Frankreich deprimierte Fleur. Die Menschen waren niedergeschlagen, und überall herrschten Not und Hunger in dem einst so fruchtbaren und ergiebigen Land. Wo waren die Viehherden, die die grünen Weiden bevölkert hatten, die sich zu den gewundenen Flüssen hin erstreckten? Die Gehöfte, an denen sie vorüberfuhren, wirkten verlassen und heruntergekommen.
Es ist ein trauriges Land, dachte Fleur und fühlte, wie sich ihr Herz vor Mitleid zusammenzog.
Am Himmel kreiste ein deutsches Flugzeug, zog langsam vor dem wolkenlosen Blau dahin - so war Lucien auch einmal geschwebt ...
Weiter und weiter fuhr sie. Die Räder des Zuges dröhnten monoton in ihren Ohren, und das Stampfen schien unaufhörlich dieselbe Frage zu stellen: »Und wenn ich angekommen bin... was dann?«