Читать книгу Wer die Leidenshaft flieht - Barbara Cartland - Страница 4
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ОглавлениеFleur stand vor dem kleinen Bahnhof und blickte sich benommen um. Sie war so müde, daß sie gar nicht richtig begriff, daß sie tatsächlich am Ziel ihrer Reise angelangt war.
In der Ferne konnte sie das Meer sehen, das im Licht der Nachmittagssonne glitzerte. Laut kreischende Möwen suchten in der aufgeworfenen Erde der angrenzenden Felder nach Futter.
Endlich war sie angekommen, hatte Sainte Madeleine-de-Beauchamps erreicht!
Marie hatte sie ermahnt, am Bahnhof keine Fragen zu stellen.
»Die Leute werden neugierig sein«, hatte sie gesagt. »Gehen Sie einfach geradeaus aufs Meer zu, ungefähr eine Meile, und dann biegen Sie nach links ab.«
Eine Meile! Das erschien Fleur jetzt eine unüberwindbare Entfernung. Sie starrte auf die weiße, staubige Straße, auf der sich mehrere Fahrgäste, die zusammen mit ihr ausgestiegen waren, schon entfernten.
Wenn ich nur schlafen könnte, dachte sie verzweifelt.
Sie hatte einen Teil der vergangenen Nacht sitzend auf einer harten Bank an einem Bahnsteig verbracht. Der Wartesaal war auf deutschen Befehl hin geschlossen und abgesperrt worden. Mehrmals waren im Laufe der Nacht Beamte vorbeigekommen, hatten die Gruppe frierender, aber geduldig wartender Fahrgäste verächtlich gemustert.
Unzählige Male hatte sie ihre Papiere vorzeigen und immer wieder dieselben Erklärungen abgeben müssen. Dabei hatte ihr Herz oft ängstlich geklopft, weil sie befürchtete, zu große Aufmerksamkeit zu erregen. Aber niemand schöpfte Verdacht - ihre Ausweise waren in Ordnung, die Unterschrift des betrunkenen Offiziers machte den Kontrolleuren Eindruck. Die abfälligen Bemerkungen über eine Frau, die in solchen Zeiten eine so weite Reise unternahm, erschreckten Fleur nicht.
Und jetzt endlich, so unglaublich es schien, hatte sie ihr Ziel erreicht. Aber sie war zu müde, um erleichtert zu sein. Die Straße dehnte sich vor ihr. Nun, es half nichts - sie mußte losgehen. Sie schleppte sich vorwärts, ihr Gepäck hinderte sie am Weiterkommen, als würde es Bleiklumpen anstelle der Kleider enthalten. Es war heiß, und sie fühlte, wie sich der Schweiß unter dem steifen Band ihres Hutes sammelte und langsam über ihre Stirn lief.
Vielleicht wäscht er ein wenig von dem Staub fort, überlegte sie gleichgültig. Die Wagen, in denen sie gesessen hatte, waren schmutzig gewesen, die Böden nicht nur mit Sand bedeckt, sondern auch mit verdorbenen Lebensmitteln, mit Papier und Asche.
Sie ging weiter. Jetzt konnte sie das Salz in der Luft riechen. Eine frische Brise blies vom Meer landeinwärts, und ganz plötzlich überkam sie die Sehnsucht nach England - nach ihrem Zuhause.
Weiter ... weiter ... bei jedem Schritt wirbelte sie Staub auf. Weiter ... weiter ... hatte diese Straße denn niemals ein Ende?
Mehr als einmal blieb sie stehen, setzte ihr Gepäck ab und war versucht, es einfach stehen zu lassen, weiterzugehen und es später abzuholen. Sie hätte es wohl auch getan, wenn sie nicht befürchtet hätte, jemand könnte es öffnen und von seinem Inhalt überrascht sein.
Die Straße wand sich dahin, die Felder zu beiden Seiten wirkten öde und verlassen. Fleur fragte sich, wie weit sie noch gehen mußte, bis sie endlich den Bauernhof erreichte.
»Sie können ihn nicht übersehen«, hatte Marie erklärt, und doch zweifelte Fleur jetzt daran, ob sie Maries Anweisungen wohl richtig verstanden hatte, ob sie wirklich in die richtige Richtung ging.
Ganz plötzlich sah sie den Hof. Nach einer Kurve, hinter einer Ansammlung von Pappeln lag es da - ein kleines Gebäude, dessen einst weiße Wände jetzt rissig und verwittert waren. Ein Torflügel hing schief in den Angeln, der Hof war leer bis auf eine Katze, die auf einer Holzbank schlief.
Fleur stellte ihr Gepäck ab und starrte auf das Haus. Die unheimliche Stille ließ sie fürchten, daß das Haus verlassen war.
Energisch hob sie ihre Tasche wieder auf und ging in Gedanken noch einmal die Worte durch, die sie sagen wollte. Sie überquerte den Hof und hörte ganz plötzlich, weit hinten im Haus, einen Hund bellen, ein scharfes, fast ängstliches Bellen. In diesem Moment wurde ihr klar, daß sie beobachtet wurde: Jemand blickte, halb versteckt, aus einem Fenster und verschwand dann wieder. Sie vernahm eine Stimme, die von zu weit herkam, als daß sie die Worte hätte verstehen können, aber es war immerhin eine menschliche Stimme! Dann herrschte wieder Stille.
Fleur erreichte die Veranda, wartete einen Moment, klopfte zaghaft an die Tür. Sie klopfte erneut, diesmal fester. Dann wartete sie ... lauschte.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, hörte sie Schritte. Sie näherten sich der Tür... blieben stehen. Jemand flüsterte, ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht, ein Riegel weggeschoben.
Die Tür öffnete sich, und vor ihr stand ein Mann. Fleur sah ihn an und wußte sofort, daß dies Jacques sein mußte, Maries Bruder. Sie sahen sich sehr ähnlich; sein Gesicht war genauso geschnitten, und er hatte dieselben blauen Augen.
Er war kein junger Mann mehr. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, und er hatte den ruhigen, melancholischen Ausdruck, den man so häufig bei Menschen findet, die der Erde verbunden sind und gelernt haben, die Naturereignisse ohne Murren hinzunehmen.
»Was wollen Sie?« Jacques Bouvais sprach langsam, mit tiefer, rauher Stimme, und für Fleur lag etwas Unfreundliches in seiner Haltung.
»Ich komme von Ihrer Schwester Marie.«
Sie sah ihn bei diesen Worten an und erwartete eine sofortige Reaktion. Aber wenn er überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Er zeigte weiterhin denselben Ausdruck geduldiger Resignation.
»Und?«
Fleur war enttäuscht.
»Darf ich hereinkommen?« fragte sie. »Es gibt so viel zu erklären.«
Sie bekam plötzlich Angst. Wenn Marie sich nun geirrt hatte, wenn ihr Bruder auch zu denen gehörte, die mit den Deutschen kollaborierten? Vielleicht saß sie schon in der Falle - war die lange beschwerliche Reise eine Fahrt in ihr Verderben?
»Ich finde, Sie sollten mir zuerst sagen, was Sie von uns wollen«, beharrte Jacques Bouvais, und plötzlich fühlte Fleur, daß ihre Kräfte schwanden. Sie war so müde - zu erschöpft, um lange Erklärungen abgeben zu können. Außerdem hatte sie Angst... Die grelle Sonne schmerzte in ihren Augen, und sie empfand plötzlich Mißtrauen. Stand nicht offene Feindschaft im Gesicht von Jacques Bouvais?
Fleur hatte ihren Korb abgestellt, als sie die Tür erreicht hatte. In der anderen Hand hielt sie noch immer die Tasche, die immer schwerer und schwerer wurde. Sie ließ sie fallen. Für einen Moment schwankte Fleur, und ihr wurde schwarz vor Augen ...
»Es geht mir gut«, hörte sie sich selbst murmeln, als müßte sie jemand anderen davon überzeugen. »Wenn ich mich nur irgendwo setzen könnte.«
Noch als sie diese Worte sprach, spürte sie, wie ihr die Sinne schwanden.
Ich darf nicht vergessen, Französisch zu sprechen, dachte sie.
Sie fühlte Arme um ihre Schulter, Hände, die sie stützten, und dann war der Sonnenschein verschwunden, und sie saß auf einem Stuhl in der schattigen Kühle des Hauses.
»Trinken Sie das«, sagte eine Frauenstimme.
Ein Glas wurde an ihre Lippen gehalten, und kühles, fast eiskaltes Wasser lief ihr langsam die Kehle hinab. Ihr Blick wurde klarer und die Benommenheit verging.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Das muß die Hitze gewesen sein.«
»Sie kommen von Marie?« fragte eine sanfte Stimme, und als sie aufsah, blickte sie in das freundliche Gesicht einer älteren Frau.
»Es tut mir leid«, wiederholte Fleur, »mir geht es jetzt wieder gut. Ja, ich komme von Marie. Sie hat mich zu Ihnen geschickt. Sie sagte, Sie würden mir helfen.«
Sie bemerkte den Blick, den der Mann, der schweigend auf der anderen Seite des Zimmers stand, und die Frau an ihrer Seite miteinander tauschten. Sie konnte ihn nicht deuten, verstand nicht, was er zu sagen hatte.
Soll ich ihnen die Wahrheit sagen? fragte sich Fleur. Kann ich es wagen?
Sie schaute niedergeschlagen von einem zum anderen und erkannte, daß sie keine Wahl hatte.
Schließlich begann sie in einem Ton, der ihre Verzweiflung verriet: »Marie sagte, ich könnte Ihnen vertrauen und wäre hier sicher.«
»Woher sollen wir wissen, daß Sie die Wahrheit sprechen?« fragte der Mann plötzlich.
Fleur starrte ihn an.
»Sie hat mir keinen Brief mitgegeben«, antwortete sie, »weil Sie - wenn Sie ihr Bruder Jacques sind - nicht lesen können. Sie hat mir erzählt, daß Ihr Sohn umgekommen ist, daß der Priester ihr geschrieben und es ihr mitgeteilt hat. Sie hat mir beschrieben, wie ich hierherkomme und ...«
Fleur machte eine kurze Pause und fuhr dann tapfer fort: »... sie hat meine Papiere auf Ihren Namen ausstellen lassen. Ich sollte als Ihre Nichte auftreten, als Jeanne Bouvais. Hier.«
Sie suchte in ihrer Tasche, zog die Papiere heraus, die sie in den letzten beiden Tagen so oft vorgezeigt hatte, und legte sie auf den Tisch. Sie sahen verknittert und ziemlich schmutzig aus.
»Ich habe Geld«, fuhr Fleur fort. »Marie hat es mir gegeben. Ich kann Ihnen etwas bezahlen, wenn Sie mich hier wohnen lassen.«
Die Frau sprach schnell, bevor Jacques etwas erwidern konnte: »Sie sagt die Wahrheit, Jacques, sie kommt wirklich von Marie. Woher weiß sie sonst von François und davon, daß der Pater für uns geschrieben hat. Marie hat sie geschickt.« Sie drehte sich um und blickte Fleur ins Gesicht. »Schwören Sie das? Wollen Sie uns nicht täuschen?«
»Aber natürlich nicht«, antwortete Fleur hastig. »Ich brauche Ihre Hilfe. Hören Sie, ich will nichts verschweigen. Ich bin Engländerin.«
Die Frau neben ihr fuhr zusammen. Dann blickte sie zu ihrem Mann hinüber.
»Engländerin!« rief sie aus und fügte dann hastig hinzu, kaum hörbar: »Mach die Tür zu, Vater!«
Der Mann bewegte sich langsam. Er versperrte die Tür und schob den Riegel vor.
»Aber warum sind Sie hier? Warum sind Sie zu uns gekommen?« erkundigte sich die Frau.
Fleur erzählte ihnen, daß sie wenige Tage vor Kriegsausbruch nach Frankreich gekommen war, um Lucien de Sardou zu heiraten, daß er fiel und daß sie geblieben war, zuerst froh darüber, bei seiner Mutter sein zu können. Dann - nach dem Einmarsch der Deutschen - gab es für sie keine Möglichkeit mehr, nach England zurückzukehren. Sie sprach davon, wie freundlich Marie in all den Monaten zu ihr gewesen war, und vom Tod der Comtesse, von Monsieur Pierres Ankunft und ihrer eigenen Flucht.
»Und was wollen Sie jetzt tun?« fragte der Mann.
Fleur erkannte an seinen Worten, daß seine Feindseligkeit vergangen war. Seine Stimme klang gleichgültig, aber nicht mehr so grob.
»Ich möchte nach England. Ich möchte heim.«
Ihre Antwort überraschte sie selbst. Es war das erste Mal, daß sie den Gedanken ausgesprochen hatte. Nur so wenige Meilen lagen zwischen ihr und der Freiheit - ganz gewiß gab es eine Möglichkeit, den Kanal zu überqueren.
Der Mann wandte sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sie konnte, seine Schritte in der Ferne verklingen hören. Fragend sah Fleur die Frau an.
»Es ist schon in Ordnung«, beruhigte sie Madame Bouvais.
»Heißt das, ich kann bleiben?«
»Aber natürlich. Marie hat sie geschickt. Kommen Sie - holen Sie Ihre Sachen. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Fleur folgte ihr über eine gewundene Treppe in den oberen Stock.
Das Zimmer, in das sie gebracht wurde, war niedrig, mit Balken über dem kleinen Fenster. Ein riesiges Bett nahm die Hälfte der Kammer ein; in einer Ecke stand ein Ständer mit einer Waschschüssel und einem Wasserkrug aus Ton. Alles war makellos sauber, und über allem hing ein schwacher Geruch von Heu und würzigen Kräutern, die Fleur nicht kannte. Sie blickte aus dem Fenster und stieß einen überraschten Laut aus. Von hier aus sah sie die Rückseite des Hauses, und zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß es viel größer war, als sie vermutet hatte. Es gab noch zwei große Flügel, die einen Innenhof umschlossen. Fleur bemerkte, daß das Gehöft von dieser Seite gar nicht mehr so verlassen wirkte.
Hühner kratzten im niedergetretenen Stroh; es gab einen Hund und einen kleinen Jungen, der einen Welpen an einer Schnur hielt; am anderen Ende des Hofes standen Schuppen, und in ihnen konnte Fleur sehen, wie Kühe gemolken wurden.
»Ich hatte ja keine Ahnung, daß das Haus so groß ist!«
»Von vorne sieht es klein aus«, stimmte Madame Bouvais zu. »Vielleicht ist das gut so. Die Leute kommen nicht so schnell nach hinten - das gibt uns Zeit, wenn Fremde kommen.«
Fleur verstand und entdeckte auf einem Tor, nicht weit vom Stall entfernt, ein älteres Kind. Es hockte dort oben und beobachtete den Weg wie ein Wachposten, bereit, alle zu warnen, wenn sich jemand unerwartet näherte.
»Es ist nett von Ihnen, mich aufzunehmen«, bedankte sich Fleur. »Ich weiß genau, wieviel ich von Ihnen verlange und was es bedeuten würde, wenn man das alles entdecken würde.«
Madame Bouvais nickte. »Wir riskieren viel, aber mein Mann ist Patriot. Er liebt Frankreich. Es bricht ihm das Herz, wenn er seine Landsleute hungern sieht.«
»Es war vermutlich falsch, daß ich hergekommen bin«, meinte Fleur, »aber Marie war so sicher, daß Sie mich aufnehmen würden. Ich schäme mich. Ich sollte versuchen, eine Möglichkeit zur Flucht zu finden.«
»Das ist nicht einfach«, erwiderte Madame Bouvais. »Erst letzte Woche wurde im Dorf jemand entdeckt, der einen verletzten Flieger versteckt hielt. Die ganze Familie und einer ihrer Freunde, der davon gewußt hatte, wurden erschossen.«
Fleur schauderte. »Ich habe kein Recht, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen«, seufzte sie.
»Sie müssen vorsichtig sein, das ist alles. Sie sind klug, Mademoiselle, und Sie können viele Leute täuschen.«
Fleur schaute in einen kleinen Spiegel, der an der Wand hing, und lachte.
»Ich sehe entsetzlich aus«, rief sie. »Aber ich habe es dieser Aufmachung zu verdanken, daß ich durchgekommen bin, und deshalb muß ich dankbar sein. Marie hat mir das Kleid geliehen.«
Madame Bouvais trat näher und berührte es.
»Ich habe es erkannt«, meinte sie. »Es war Maries bestes Kleid. Sie hatte es für ihre Verlobung gekauft.«
»Was ist passiert?« wollte Fleur wissen. »Sie hat mir erzählt, daß es zu ihrer Aussteuer gehörte, aber sie, hat mir nie gesagt, warum sie den Mann nicht geheiratet hat.«
»Sie hat es Ihnen nicht erzählt?« wunderte sich Maries Schwägerin. »Die Arme! Vielleicht schämt sie sich. Sie war lange verlobt - ach, schon viele Jahre, ehe ich Jacques heiratete und hierher zog.
Marie ist seine älteste Schwester, all ihre Geschwister haben vor ihr geheiratet, obwohl sie die Erste war, die sich verlobt hatte. Der Vater des jungen Mannes war ein alter Freund der Familie. Marie und sein Sohn wurden einander versprochen, als sie noch fast Kinder waren.
Aber dann gab es Schwierigkeiten. Maries Verlobter war Fischer; die Zeiten waren schlecht; Jahr um Jahr wurde die Hochzeit verschoben. Maries Aussteuer war komplett, aber der junge Mann konnte seinen Teil des Handels nicht erfüllen.
Dann endlich war alles geregelt, und das Datum wurde festgesetzt. Marie war aufgeregt; sie hatte gefürchtet, eine alte Jungfer zu werden, wenn sie noch länger warten würde. Maries Vater war ein Spieler - er liebte das Risiko, verstehen Sie. Er wettete viel: Welches Boot den größten Fang einbringen würde, wessen Hündin als Erste werfen würde, wessen Wagen die größte Ladung über die weiteste Strecke bringen könnte.
Er war Fischer, Bauer und Bürgermeister von Sainte Madeleine; aber er konnte nicht aufhören zu wetten und zu spielen. Er war wohlhabend gewesen, denn er hatte ein beachtliches Stück Land geerbt; aber er verspielte einen Großteil davon. Nur dieser Hof blieb übrig, und ich glaube, auch den hätte er noch verwettet, wenn er länger gelebt hätte.«
»Und Marie?« fragte Fleur, die das Ende der Geschichte schon ahnte.
»Der Vater wettete um Maries Mitgift - eines Abends im Juni. Es ging um ein Rennen, ein Rennen der Boote, wer die Boje am schnellsten erreichen konnte. Der alte Mann war so sicher, daß er gewinnen würde.
Damals lebte hier noch ein Advokat, der fast so schlimm war wie Maries Vater. Er war ein gieriger Mann, der immer um Bargeld wetten wollte, nie um etwas anderes. Er reizte Grandpère, überredete und verhöhnte ihn, bis der alte Mann heimkehrte und Maries Mitgift aus dem Versteck unter seinem Bett holte und zum Quai hinuntertrug. Niemand merkte, was er tat, bis es zu spät war - das Geld war gesetzt und verloren.«
»Und deshalb hat Maries Verlobter sie nicht geheiratet?« rief Fleur entsetzt. »Wie gemein, abscheulich!«
»Aber wie konnte er das, ohne ihre Mitgift? Er hatte sich darauf verlassen, verstehen Sie? Die Summe war festgesetzt. Und es gab noch ein anderes Mädchen, das ihn immer hatte haben wollen. Sie war reich, und ihre Eltern waren mit dieser Verbindung einverstanden.
Sie heirateten innerhalb von drei Monaten, und Marie ging fort, trat in die Dienste der Comtesse. Sie konnte von Glück sagen, eine solche Position zu bekommen - wir haben sie oft beneidet.«
»Beneidet?« staunte Fleur. »Aber sie hätte heiraten, ein eigenes Heim haben können. Wie konnten Sie sie beneiden?«
»Es ist doch ein Privileg, jemandem wie der Comtesse zu dienen. Sie hat uns oft kleine Pakete geschickt. Einmal, als meine Kinder krank waren, erhielten wir ein Geldgeschenk und im Laufe der Jahre viele andere Dinge. Wir sind sehr stolz auf diese Verbindung. Marie hat es gut getroffen.«
Fleur konnte nichts erwidern, sie hatte das Gefühl, das Kleid, das sie trug, verkörpere eine Tragödie, die Tragödie eines Lebens, das an der Gier nach Geld zerbrochen war.
»Und jetzt, Mademoiselle ...,«
Fleur unterbrach Madame Bouvais.
»Ist es nicht unklug, mich Mademoiselle zu nennen? Vielleicht wäre ich besser Jeanne, solange ich hier bin.«
»Das erscheint mir irgendwie zu vertraut...«
»Nicht, wenn man daran denkt, was Sie für mich tun«, widersprach Fleur.
Madame Bouvais lächelte ein überraschend sanftes Lächeln.
»Das tun wir gern«, erklärte sie leise, »auch wenn es mich ein wenig beschämt. Das müssen Sie mir verzeihen.«