Читать книгу Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch - Barbara E Stalder - Страница 5

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1 Einleitung

In der Schweiz und in Deutschland werden zwischen 20 und 25 % aller Lehrverträge vorzeitig aufgelöst (Stalder & Schmid, 2006a, 2006b; Uhly, 2015). In einigen Lehrberufen wird jedes dritte oder sogar jedes zweite Lehrverhältnis vorzeitig beendet. Berücksichtigt man zudem, dass manche Lernende eine Klasse wiederholen oder die Abschlussprüfung nicht bestehen, ist der Anteil der Lernenden mit nichtlinearem Ausbildungsverlauf beträchtlich: In der Schweiz durchlaufen nur rund 70 % der Lernenden ihre berufliche Grundbildung gradlinig bis zum erfolgreichen Abschluss, d. h. ohne Unterbrechung, Klassenrepetition, Wechsel oder Misserfolg bei der Lehrabschlussprüfung (Stalder, 2012a).

Die vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags ist für die betroffenen Lernenden häufig ein belastendes Ereignis (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schmid, 2010; Schmidt & Tippelt, 2011). Sie gehört nicht zu jeder Ausbildungsbiografie, ist weder von Lernenden noch von Berufsbildenden eingeplant und institutionell auch nicht vorgesehen (Neuenschwander, Gerber, Frank & Rottermann, 2012; Stamm, 2012). Für Betriebe ist die vorzeitige Vertragsauflösung mit personellen und finanziellen Einbußen verbunden, da getätigte Ausbildungsleistungen verloren gehen und neue Lernende gesucht und eingearbeitet werden müssen (Wenzelmann & Lemmermann, 2012). Lernende sind mit einem «Bruch» in ihrer Bildungslaufbahn konfrontiert und herausgefordert, sich neu zu orientieren (Hecker, 2000; Schöngen, 2003b). Die Hürden, die bei einem Wechsel von Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überwinden sind, sind hoch und vor Lehreintritt getroffene berufliche Vorentscheidungen nicht einfach revidierbar (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schöngen, 2003b). Lernende, die das Berufsfeld wechseln möchten, müssen bis zum darauf folgenden Schuljahresbeginn warten und wieder im ersten Lehrjahr beginnen. Zudem zögern viele Betriebe, Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung eine Lehrstelle anzubieten (Höötmann, 2001; Stalder, 2000).

Vorzeitige Vertragsauflösungen sind auch in der Bildungspolitik seit Langem ein Thema. Sie werfen ein kritisches Licht auf die Funktionsfähigkeit und die Effizienz des Berufsbildungssystems und verweisen auf Probleme an der Schnittstelle zwischen der Volksschule und der beruflichen Grundbildung (Deuer, 2006; Galliker, 2011; SKBF, 2010). In diesem Kontext stellen sich Fragen zur Berufsorientierung und zur Anpassung der Lernenden an die schulischen und betrieblichen Anforderungen der beruflichen Grundbildung – aber auch zur Qualität der Volksschule und der Ausbildung in den Lehrbetrieben und Berufsfachschulen (Deuer, 2015; Stalder & Carigiet Reinhard, 2014; Uhly, 2015). In Anbetracht der Bedeutung vorzeitiger Lehrvertragsauflösungen und nichtlinearer Ausbildungsverläufe haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Übertritt in die Sekundarstufe II frühzeitig zu erfassen und Maßnahmen zu verstärken, um Ausbildungswechsel, Abbrüche und Wartejahre zu vermeiden (EDK, 2006; EDK et al., 2015; Schweizerische Eidgenossenschaft & EDK, 2011). Die politische Diskussion von Lehrvertragsauflösungen wird unter zwei Gesichtspunkten geführt: Erstens wird nach Gründen und Erklärungen für Lehrvertragsauflösungen gesucht und es werden Präventionsmaßnahmen gefordert, um die Auflösungsquote zur verringern (EDK et al., 2015). Zweitens richtet sich das Augenmerk auf die Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen und den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Jugendlichen. Es wird befürchtet, dass ein Teil der Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung keine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II findet, ohne Berufsabschluss bleibt und damit Gefahr läuft, sich langfristig nicht erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (Bertschy, Böni & Meyer, 2007; Häfeli & Schellenberg, 2009; Schmid, 2013). Jugendliche sollen entsprechend besser unterstützt und befähigt werden, ihre (berufliche) Ausbildung nach einer Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen (Schmid, 2010).

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg ist, so die Grundthese des vorliegenden Buches, kein Widerspruch. Lehrvertragsauflösungen sind nicht immer negativ zu bewerten. Sie bedeuten nicht immer, dass die Lernenden – oder die Betriebe – gescheitert sind (Hecker, 2000; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Uhly, 2013). Eine Vertragsauflösung bietet den betroffenen Lernenden die Chance, Ausbildungsproblemen wirkungsvoll zu begegnen und die berufliche Laufbahn unter Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten neu zu gestalten (Bohlinger, 2002b; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015). Gelingt es den Jugendlichen, eine Anschlusslösung zu finden und einen Berufsabschluss zu erlangen, kann eine Lehrvertragsauflösung zumindest langfristig als positiv beurteilt werden (Boockmann, Dengler, Nielen, Seidel & Verbeek, 2014).

1.1 Berufsbildung und Lehrvertragsauflösungen in der Schweiz

Das Thema «Lehrvertragsauflösung» findet in der Schweiz auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil die (duale) Berufsbildung hierzulande stark verwurzelt ist und trotz zeitweiliger Kritik sowohl im Inland wie auch im Ausland als Erfolgsmodell gelobt wird (OECD, 2008; Schellenbauer, Walser, Lepori, Hotz-Hart & Gonon, 2011). Rund zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz durchlaufen eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2015). Der Einstieg erfolgt mehrheitlich direkt nach der Volksschule oder einem Brückenangebot. Nur wenige Jugendliche treten nach Abschluss einer allgemeinbildenden Ausbildung (gymnasiale Maturitätsschule, Fachmittelschule) in eine berufliche Grundbildung ein (vgl. SKBF, 2014). Im Jahr 2012 traten 46 % der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schule direkt in eine berufliche Grundbildung ein. 17 % der Schulaustretenden besuchten ein Brückenangebot, das auf den Eintritt in eine berufliche Grundbildung vorbereitet, d. h. ein Berufsvorbereitendes Schuljahr/oder eine Vorlehre (SBFI, 2015). 14 % nahmen an einer anderen Zwischenlösung teil (z. B. Praktikum, Sprachaufenthalt, Motivationssemester) oder waren nicht in Ausbildung. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nach der Volksschule eine allgemeinbildende Ausbildung besuchten, ist mit 27 % im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gering.

Berufliche Grundbildungen dauern zwei bis vier Jahre und werden in rund 240 Lehrberufen mit unterschiedlichen intellektuellen Anforderungen angeboten (Stalder, 2011b). Drei- und vierjährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch stärkere Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Ergänzend kann ein Berufsmaturitätsabschluss erworben werden, der einen prüfungsfreien Zugang zu Fachhochschulen gewährt. Zweijährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch schwächere, vorwiegend praktisch begabte Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Berufsattest (EBA). Die zweijährige berufliche Grundbildung löst die Anlehre ab, die wenig standardisiert war und bei Jugendlichen wie Eltern nur wenig Akzeptanz fand (Kammermann, Stalder & Hättich, 2011).

Berufliche Grundbildungen sind mehrheitlich dual organisiert, wobei die Ausbildung im Kleinbetrieb mit weniger als 50 Beschäftigten die häufigste Form ist (SBFI, 2015; Wettstein, Schmid & Gonon, 2014). Die Ausbildung ist auf drei Lernorte verteilt: den Betrieb, die Berufsfachschule und die Ausbildungszentren, in denen die überbetrieblichen Kurse stattfinden. Gemessen an der Ausbildungszeit liegt der Ausbildungsschwerpunkt im Lehrbetrieb. Lernende verbringen in der Regel drei bis vier Tage in der Woche im Betrieb und besuchen ein bis zwei Tage in der Woche die Berufsfachschule. Die überbetrieblichen Kurse werden von den Organisationen der Arbeitswelt durchgeführt und dauern zwei Wochen bis drei Monate verteilt auf die gesamte Lehrdauer. Wie andere duale Systeme ist das Schweizer Berufsbildungssystem eng mit dem Beschäftigungssystem verknüpft (Gonon, 2002; Stalder & Nägele, 2011; Stolz & Gonon, 2008). Die Bildungspläne und Qualifikationsverfahren1 sind berufsspezifisch ausformuliert und der Weg von der Berufsausbildung ins Erwerbsleben ist stark vorstrukturiert (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Die Organisationen der Arbeitswelt (Berufsverbände, Sozialpartner, Unternehmen) sind neben Bund und Kantonen zentrale Akteure in der Berufsbildung. Sie bestimmen über die Ausbildungsinhalte, die zu erreichenden Kompetenzen bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung sowie die Qualifikationsverfahren (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Betriebe, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Lernenden erfüllen, entscheiden frei, ob sie sich an der Ausbildung beteiligen. Die Berufsbildenden wählen zudem aufgrund eigener Selektionskriterien, wen sie ausbilden möchten und wen nicht (Imdorf, 2014; Stalder, 2000).

Rechte und Pflichten von Lehrbetrieb und Lernenden werden in einem Lehrvertrag festgehalten, der vor Lehrantritt von den Berufsbildenden und den Lernenden bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung unterschrieben wird. Der Lehrvertrag ist eine besondere Art von Arbeitsvertrag, bei dem die Ausbildung der lernenden Person im Zentrum steht. Er richtet sich nach den Bestimmungen des schweizerischen Obligationenrechts über den Lehrvertrag (OR, 1911, Art. 344–346a). Gemäß Artikel 344a regelt der Lehrvertrag die Art und die Dauer der beruflichen Grundbildung, die Probezeit, die Arbeitszeit, die Ferien und den Lohn der Lernenden. Durch den Lehrvertrag verpflichten sich die Arbeitgebenden, die Lernenden für eine bestimmte Berufstätigkeit fachgemäß zu bilden und sie bei der Ausbildung zu unterstützen. Die Lernenden erklären sich damit einverstanden, im Rahmen dieser Ausbildung Arbeit im Dienst des Arbeitgebers zu leisten. Damit richtet sich das Augenmerk auf die besondere Rolle von Lernenden und Berufsbildenden. Lernende sind nicht nur Auszubildende, sondern Mitarbeitende mit besonderem Status (Lamamra & Masdonati, 2008a; Lohaus & Habermann, 2015). Sie sind in reale Arbeitsprozesse eingebunden (Wettstein et al., 2014) und müssen sich in eine Gruppe erwachsener Kolleginnen und Kollegen integrieren (Nägele & Neuenschwander, 2014). Sie leisten produktive Arbeit und erzielen in vielen Branchen Erträge, die die Ausbildungskosten übertreffen (Strupler & Wolter, 2012). Insbesondere in Kleinbetrieben übernehmen Lernende häufig Aufgaben, die sonst von an- oder ausgelernten Angestellten ausgeführt werden müssten (Stalder, 1999). Berufsbildende sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit besonderem Status, die primär den betrieblichen Erfolg sicherstellen müssen. Zusätzlich sollen sie für eine ausreichende Qualität der beruflichen Grundbildung am betrieblichen Lernort sorgen und sind dafür verantwortlich, dass Lernen bei der Arbeit möglich ist (Nägele, 2013). Gemäß Berufsbildungsverordnung verfügen Berufsbildende über ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis und zwei Jahre Berufspraxis im Lehrgebiet sowie über eine berufspädagogische Qualifikation im Umfang von 100 Lernstunden oder 40 Kursstunden (BBV, Art. 44).

Der Lehrvertrag ist zeitlich befristet und erstreckt sich über die gesamte Dauer der beruflichen Grundbildung. Das Lehrverhältnis endet nach Ablauf der festgelegten Ausbildungszeit. Als Vertrag mit fester Laufzeit kann ein Lehrvertrag während der Probezeit mit einer Frist von sieben Tagen aufgelöst werden. Danach ist er grundsätzlich nicht kündbar, es sei denn, es liegen wichtige Gründe vor (OR, 1911, Art. 346). Eine Kündigung ist dann zulässig, wenn den Berufsbildenden die zur Bildung der lernenden Person nötigen beruflichen Fähigkeiten oder persönlichen Eigenschaften fehlen. Sie kann aber auch dann vorgenommen werden, wenn die Lernenden nicht über die für die berufliche Grundbildung nötigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen verfügen oder wenn sie gesundheitlich oder sittlich gefährdet sind. Eine Vertragsauflösung ist zudem zulässig, wenn die berufliche Grundbildung nicht oder nur durch wesentliche Veränderungen beendet werden kann. Die Entscheidung für die Auflösung des Lehrverhältnisses kann vom Lehrbetrieb und den Lernenden in beidseitigem Einverständnis oder einseitig getroffen werden.

Lehrverträge – neue Abschlüsse und auch vorzeitige Auflösungen – werden in den Statistiken der kantonalen Ämter für Berufsbildung registriert. Im Falle einer Entscheidung vonseiten der Lehrvertragsparteien muss der Lehrbetrieb das zuständige kantonale Amt für Berufsbildung informieren (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 4). Dieses bestätigt die Auflösung beiden Parteien schriftlich. Die kantonale Aufsichtsbehörde kann dem Berufsbildungsgesetz unterstehende Lehrverhältnisse aber auch von sich aus auflösen (BBG, 2002, Art. 24, Abs. 5 Bst. b), wenn gesetzliche Vorschriften nicht eingehalten werden oder der Erfolg der beruflichen Grundbildung infrage gestellt ist. Dies kommt allerdings nur in Ausnahmefällen vor. In Bezug auf das weitere Vorgehen nach einer Lehrvertragsauflösung gibt es kaum gesetzliche Vorgaben. Einzig für den Fall einer Betriebsschließung schreibt das Berufsbildungsgesetz den Behörden vor, dafür zu sorgen, dass die Lernenden die berufliche Grundbildung ordnungsgemäß beenden können (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 5).

1.2 Lehrvertragsauflösung und Lehrabbruch: Begriffsklärung

Im öffentlichen Diskurs werden die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Ausbildungsabbruch» bzw. «Lehrabbruch» häufig synonym verwendet. Oft wird auch dann von Lehrabbruch gesprochen, wenn es eigentlich um eine Lehrvertragsauflösung geht, was wohl auf die Medienpopularität des Begriffs zurückzuführen sein dürfte (Bohlinger, 2002b). Mit Schlagzeilen wie «Lehrlinge im Stress – Tausende brechen ab» (Schweizer Fernsehen, 4. November 2015)2 oder «Lehrabbruch: Ein Schritt ins Leere» (Beobachter, 17. Januar 2007)3 wird unmissverständlich deutlich gemacht, wer die Auflösung verschuldet hat und welche gravierenden Konsequenzen mit diesem ‹Fehltritt› verbunden sind. Tatsächlich geben solche Medienberichte das Phänomen von Lehrvertragsauflösungen nur unzutreffend wieder. Die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Lehrabbruch» bedeuten nicht dasselbe. Die synonyme Begriffsverwendung ist unangebracht und führt vor allem im Zusammenhang mit der quantitativen Bewertung des Phänomens zu Missverständnissen und Unklarheiten (vgl. dazu auch Bohlinger, 2002b; Uhly, 2015).

Aus juristischer Sicht bezeichnet der Begriff «Lehrvertragsauflösung» die vorzeitige Auflösung, das heißt Kündigung des Lehrvertrags seitens einer der beiden Vertragsparteien oder im gegenseitigen Einvernehmen (OR, 1911, Art. 346). Von «Lehrvertragsauflösung» wird dann gesprochen, wenn ein Lehrverhältnis vor Ablauf der im Lehrvertrag festgehaltenen Ausbildungszeit beendet wird – unabhängig davon, aus welchen Gründen dies geschehen ist und wer die Entscheidung getroffen hat. Der Begriff «Lehrvertragsauflösung» lässt auch keinerlei Rückschlüsse auf den weiteren Ausbildungsverlauf der Jugendlichen zu. Ein Lehrvertrag wird auch dann aufgelöst, wenn unmittelbar danach ein neuer Lehrvertrag ausgestellt wird und Lernende die Ausbildung fortsetzen.

Auch in wissenschaftlichen Arbeiten werden «Lehrvertragsauflösung» und «Abbruch» zuweilen synonym verwendet (Baumeler, Ertelt & Frey, 2012; Faßmann, 1998; Fess, 1995). Faßmann (1998) präzisiert zwar, dass vor allem «Abbrüche nach unten» (ersatzloser Ausstieg aus der beruflichen Qualifizierung) problematisch sind, während «Abbrüche nach oben» (weiterführende Ausbildung außerhalb des dualen Systems) und «horizontale Abbrüche» (berufliche Umorientierung im dualen System oder Rückkehr in ein Brückenangebot) in vielen Fällen zu begrüßen seien. Trotzdem ist die Begriffsverwendung unangemessen, da jegliche Vertragsauflösung als «Abbruch» bezeichnet wird. In der Regel wird der Begriff «Abbruch» enger gefasst. Damit soll ausgedrückt werden, dass Vertragsauflösungen nicht immer dazu führen, dass Jugendliche die berufliche Grundbildung gänzlich abbrechen und ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II bleiben (Mischler, 2014; Uhly, 2015). Neuenschwander (1999) sowie Süss, Neuenschwander und Dumont (1996) definieren «Lehrabbruch» als denjenigen Typ von Lehrvertragsauflösung, nach dem Lernende gar keine neue Ausbildung beginnen oder eine nicht-zertifizierende Ausbildung aufnehmen. Noch enger ist die Definition von Ernst und Spevacek (2012), die nur Lehrvertragsauflösungen, die zu Arbeitslosigkeit führen, als «echte Abbrüche» bezeichnen. Uhly (2015) fasst den Begriff «Abbruch» hingegen breiter und beschreibt damit diejenigen Lernenden, die eine Ausbildung im dualen System beginnen, aber keinen Berufsbildungsabschluss erwerben. Dies ist auch möglich, wenn keine vorzeitige Vertragsauflösung vorliegt, zum Beispiel wenn Lernende die Lehrabschlussprüfung nicht bestehen oder nicht zur Prüfung antreten. Auf europäischer Ebene wird der Begriff des Ausbildungsabbruchs nur noch zurückhaltend verwendet. Stattdessen wird von frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgängerinnen und -abgängern gesprochen. Damit werden Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bezeichnet, die höchstens einen Abschluss der Sekundarstufe I erreicht haben und nicht in Aus- oder Weiterbildung sind (vgl. z. B. Glossar Eurostat, 2015)4. Dazu gehören auch Jugendliche, die nie eine berufliche Grundbildung begonnen haben.

In verschiedenen Studien werden Abbrüche von Wechseln unterschieden. Nach Bernath, Wirthensohn und Löhrer (1989) findet ein Wechsel dann statt, wenn Jugendliche eine neue Ausbildung ergreifen, unabhängig davon, ob diese nahtlos an die vorzeitig beendete anschließt oder nicht. Um einen Ausbildungswechsel handelt es sich auch dann, wenn das ursprüngliche Ausbildungsziel an einem neuen Ort weiterverfolgt wird (Betriebswechsel). Süss et al. (1996) fassen unter dem Begriff «Wechsel» nur Vertragsauflösungen mit nahtloser Fortsetzung in einer «gleichwertigen» Ausbildung. Mischler (2014) berücksichtigt nicht nur realisierte, sondern auch geplante Wechsel. Er unterscheidet zwischen Vertragsauflösungen mit und ohne Perspektive, wobei bei Vertragsauflösungen mit Perspektive ein Wechsel (Folgevertrag, weiterer Schulbesuch) bereits erfolgt oder zumindest geplant ist. Eine engere Definition von Wechsel findet sich hingegen bei Uhly (2013), die von Vertragswechseln spricht, wenn der Folgevertrag mit oder ohne Berufswechsel ohne längere Unterbrechung abgeschlossen wird.

Insgesamt zeigt sich, dass die Begriffe «Abbruch» und «Wechsel» sehr unterschiedlich verwendet werden. Eine Differenzierung nach Verbleib der Jugendlichen nach der Vertragsauflösung, d. h. der Art der Anschlusslösung, scheint zwar sinnvoll und nötig. Die aufgeführten Typologien sind aber kritisch zu betrachten, da realisierte Anschlusslösungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben, unterschiedlich gruppiert und teilweise mit subjektiven Einschätzungen wie einem Ausbildungsverzicht vermischt werden. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen und deren Schlussfolgerungen für die Praxis. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Verwendung des Begriffs «Abbruch» zwiespältig. Er ist nicht nur unpräzis, sondern irreführend. Er suggeriert, dass die Jugendlichen «endgültig» aus dem Bildungssystem aussteigen und ohne Berufsabschluss bleiben. Diese Schlussfolgerung wäre allenfalls zulässig, wenn der Ausbildungsverlauf der Jugendlichen über mehrere Jahre beobachtet wird. Das trifft für die meisten Studien nicht zu. Ebenso problematisch ist die Verwendung des Begriffs «echter Abbruch», da er sich auf Arbeitslosigkeit beschränkt und Übergänge in Brückenangebote oder unqualifizierte Erwerbstätigkeiten nicht berücksichtigt. Die Konsequenzen einer Lehrvertragsauflösung für den Ausbildungs- und Erwerbsverlauf der betroffenen Lernenden werden damit beschönigt oder zumindest nur unzureichend abgebildet. Jugendliche ohne Sekundarstufe-II-Abschluss finden sich häufiger als andere in prekären Erwerbslagen, sind häufiger und länger arbeitslos und in befristeten Anstellungen tätig. Mit Blick auf den Verbleib nach der Vertragsauflösung ist entscheidend zu wissen, ob Jugendliche wieder in eine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II einsteigen und diese erfolgreich abschließen.

Diese Kritik aufnehmend wird im vorliegenden Buch zwischen «zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» und «keine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» unterschieden (Stalder & Schmid, 2006a). Dabei wird ausschließlich die effektive Ausbildungssituation der Jugendlichen berücksichtigt, wobei sich diese je nach Beobachtungszeitpunkt stark verändern kann. Es werden keine Rückschlüsse auf den zukünftigen Ausbildungsverlauf (Ausbildungsverzicht, endgültiger Abbruch o.Ä.) gezogen. Dementsprechend wird auf die Verwendung des Begriffs Abbruch verzichtet. Für eine differenzierte Betrachtung des Verbleibs nach der Vertragsauflösung werden bei den zertifizierenden Ausbildungen vier Anschlusslösungen unterschieden: die Fortsetzung der Ausbildung in demselben Beruf, aber in einem anderen Betrieb (Betriebswechsel), der Wechsel in eine berufliche Grundbildung im bisherigen Berufsfeld mit einem höheren (Aufstieg) oder tieferen (Abstieg) Anforderungsniveau sowie die Aufnahme einer Ausbildung in einem anderen Berufsfeld oder einer schulischen Ausbildung (Ausbildungswechsel). Bei Jugendlichen, die (vorerst) keine zertifizierende Ausbildung absolvieren, wird danach unterschieden, ob sie in einem Brückenangebot oder einer arbeitsmarktlichen Maßnahme, erwerbstätig, arbeitslos oder inaktiv sind.

1.3 Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg: Das Projekt LEVA

Die Frage, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden, findet in der Forschung seit den 1950er-Jahren Beachtung (Schmid, 2010). Während frühe Studien Lehrvertragsauflösungen vor allem auf individuelle Merkmale der Lernenden und ihr familiäres Umfeld zurückführten, werden seit Mitte der 1990er-Jahre auch institutionelle und strukturelle Determinanten von Lehrvertragsauflösungen berücksichtigt (z. B. Bessey & Backes-Gellner, 2008; Forsblom, 2015; Lamamra & Masdonati, 2008a; Negrini, 2015; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015). Zunehmend wird auch untersucht, welche kurz- und mittelfristigen Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den weiteren Ausbildungsverlauf der Lernenden hat (z. B. Beicht & Walden, 2013; Lovric & Lamamra, 2013; Mischler, 2014; Schmid, 2010; Süss et al., 1996). Es ist heute unbestritten, dass die Gründe für Lehrvertragsauflösungen vielschichtig sind und dass Vertragsauflösungen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für den weiteren Ausbildungsverlauf betrachtet werden können (Baumeler et al., 2012; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015).

Trotz zahlreicher Veröffentlichungen bleibt die Befundlage aus forschungstheoretischer und empirischer Sicht lückenhaft (vgl. dazu Bohlinger, 2002b; Jasper, Richter, Haber & Vogel, 2009; Lamamra & Masdonati, 2009; Uhly, 2015; Vock, 2000). Auftragsbasierte Evaluationsstudien, die nach wie vor das Feld dominieren, stellen meist keinen expliziten Theoriebezug her und sind in der Regel querschnittlich angelegt. Häufig werden Lernende und Betriebe kurz nach der Vertragsauflösung befragt. Auch forschungsbasierte Studien berücksichtigen meist nur eine kurze Phase im Ausbildungsverlauf der betroffenen Lernenden. Sie stützen sich u. a. auf erziehungswissenschaftliche, entwicklungspsychologische, berufspädagogische, soziologische oder bildungsökonomische Ansätze. Studien, die Lehrvertragsauflösungen aus organisationspsychologischer Sicht betrachten, sind bisher rar (z. B. zur Bedeutung des Organisationsklimas vgl. Forsblom, 2015). Im Fokus vieler Evaluationen und Forschungsarbeiten stehen nach wie vor die Ursachen für die Lehrvertragsauflösung. Im Gegensatz dazu sind insbesondere die langfristigen Konsequenzen von Vertragsauflösungen kaum erforscht und es liegt bisher keine Studie vor, die den Ausbildungserfolg nach vorzeitigen Vertragsauflösungen untersucht. So fehlt ein theoretischer Rahmen, der nicht nur erklärt, wie und warum es zu Lehrvertragsauflösungen kommt, sondern auch, unter welchen Bedingungen es Jugendlichen gelingt, nach der Vertragsauflösung eine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II zu finden und einen Berufsabschluss zu erwerben.

Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Forschungslücke an. Im Zentrum stehen die Fragen, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden und welche Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Lernenden hat. Ursachen und Konsequenzen von Vertragsauflösungen werden in ein theoretisches Rahmenmodell gefasst, das sich an passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischen Ansätzen der Organisationspsychologie orientiert (Allen, Bryant & Vardaman, 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Kristof-Brown, Zimmermann & Johnson, 2005; Saks & Gruman, 2012). Mit der Wahl organisationspsychologischer Ansätze wird berücksichtigt, dass die betriebliche Ausbildung in reale Arbeitsprozesse und organisationale Abläufe eingebettet ist, in denen Lernende und Berufsbildende nicht nur Auszubildende bzw. Ausbildende, sondern auch Mitarbeitende bzw. Vorgesetzte sind. Kernelement des Modells ist die Passung der Lernenden zum Beruf und zur Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule. Eine ausreichende Passung zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Lernenden und den Anforderungen der betrieblichen und schulischen Ausbildung ist eine wichtige Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lehrvertragsauflösungen sind als Konsequenz einer ungenügenden Passung zu verstehen – eine gelingende Neuanpassung als Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lernende und Betriebe tragen gemeinsam dazu bei, dass bereits vor Lehrantritt eine gute Passung besteht und dass diese nach Lehreintritt aufrechterhalten und gefestigt werden kann. Aus der Perspektive organisationspsychologischer Ansätze ist eine fehlende Passung insbesondere auf eine mangelhafte Berufs- und Organisationswahl, eine unzureichende Selektion der Lernenden durch die Betriebe oder eine schlechte Ausbildungsqualität in Betrieb und Schule zurückzuführen.

In Anlehnung an die Literatur zu Berufs- bzw. Laufbahnerfolg werden in der vorliegenden Arbeit objektive und subjektive Kriterien beigezogen, um Ausbildungserfolg zu messen (Arthur, Khapova & Wilderom, 2005; Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005). Als objektiver Indikator wird der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II untersucht. Dieser ist zur sozialen Norm geworden und gilt als notwendige Bedingung für den erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben und für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen (OECD & the Canadian Policy Research Networks, 2005). Als subjektive Indikatoren werden die Ausbildungszufriedenheit und die Verbundenheit mit dem Betrieb nach dem Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung betrachtet (vgl. Ng & Feldman, 2014). Subjektive Indikatoren von Laufbahnerfolg berücksichtigen, dass Erwerbstätige bzw. Lernende ihre Ausbildungs- und Berufslaufbahn selbst evaluieren und individuell unterschiedliche Kriterien verwenden, um «Erfolg» einzuschätzen (Arthur et al., 2005). Laufbahnerfolg wird dabei nicht nur aufgrund der aktuellen Arbeitstätigkeit erfasst, sondern auch in Abhängigkeit vom Ausbildungs- und Berufsverlauf betrachtet (Gunz & Mayrhofer, 2011). Subjektive und objektive Kriterien von Ausbildungserfolg können miteinander übereinstimmen, müssen es aber nicht zwingend, beispielsweise dann, wenn Jugendliche zwar einen Ausbildungsabschluss erreichen, dieser aber nicht ihrem Wunsch entspricht (vgl. dazu Dette et al., 2004).

Datengrundlage ist das Längsschnittprojekt LEVA (Lehrvertragsauflösungen im Kanton Bern), das von 2004 bis 2008 an der Erziehungsdirektion des Kantons Bern durchgeführt und von 2009 bis 2015 an der Universität Neuenburg und der PHBern fortgesetzt worden ist. Zur Erklärung von Lehrvertragsauflösungen und deren unmittelbaren Konsequenzen wurde ein Mehrperspektivendesign mit einer Befragung von Lernenden und ihren (ehemaligen) Berufsbildenden eingesetzt. Dieser Zugang erlaubt es, das Bedingungsgefüge von Lehrvertragsauflösungen aus der Perspektive verschiedener Akteure zu betrachten (vgl. zur Kritik an der einseitigen Fokussierung auf die Sicht der Lernenden Anbuhl & Gießler, 2012; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Stamm, 2012). Der Ausbildungsverlauf nach der Lehrvertragsauflösung und der Ausbildungserfolg wurden längsschnittlich untersucht. Die Beobachtungsdauer von zehn Jahren ermöglicht es, nicht nur unmittelbare Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen zu prüfen, sondern auch mittel- und langfristige (z. B. Wiederaufnahme der Ausbildung nach langer Unterbrechung, Ausbildungsabschluss, Wiederherstellung des Wohlbefindens).

Das vorliegende Buch stellt ausgewählte, in Projektberichten erschienene Resultate zum Projekt LEVA zusammen (Moser, Stalder & Schmid, 2008; Schmid & Stalder, 2007, 2008a; Stalder & Schmid, 2006a) und vertieft bisherige Ergebnisse zu Entstehungsbedingungen und Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen (Schmid, 2008, 2010, 2012; Schmid & Stalder, 2012; Stalder, 2011a; Stalder & Schmid, 2012a). In Kapitel 2 werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze beschrieben, die die theoretische Grundlage für die Arbeit bilden. Die Ansätze werden in Kapitel 3 auf den Kontext der beruflichen Grundbildung übertragen und im Zusammenhang mit Lehrvertragsauflösungen und späterem Ausbildungserfolg erörtert. Das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und die Daten des Projekts LEVA werden in Kapitel 4 beschrieben. Ergebnisse zu den Entstehungsbedingungen von Lehrvertragsauflösungen, zum Entscheidungsprozess, zum Wiedereinstieg und zum erfolgreichen Berufsabschluss werden in Kapitel 5 präsentiert und in Kapitel 6 diskutiert.

«Chaque cas est un cas particulier», schrieb Bernard Müller (1993, S. 4) treffend in seiner Waadtländer Studie zu Lehrvertragsauflösungen. Dies illustrieren die Porträts betroffener Lernender, die die empirischen Ergebnisse exemplarisch ergänzen, in aller Deutlichkeit. Darin kommen junge Frauen und Männer zu Wort, deren Lehrvertragsauflösung bis zu zehn Jahre zurückliegt. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte, erklären, welche Gründe aus ihrer Sicht zur Vertragsauflösung geführt haben, wie sie und ihr Umfeld damit umgegangen sind und wie es nach der Vertragsauflösung weitergegangen ist. Alle Namen der porträtierten Personen sind geändert.

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch

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