Читать книгу Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik - Barbara Fornefeld - Страница 10
Оглавление2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik
Um die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung, die Konzepte und Methoden ihrer Erziehung in ihrem Gewordensein besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, auf das Leben und die Betreuung dieser Menschen vor unserer Zeit zurückzuschauen. Frühere Einstellungen und Sichtweisen, die Art ihrer sozialen Akzeptanz bleiben bis heute prägend für das Verständnis von geistiger Behinderung. Die Auffassung von Behinderung bestimmt letztlich die Maßnahmen, d.h. die Weise der Behandlung, der Betreuung oder der Erziehung. Erfahrungen früherer Generationen im Umgang mit behinderten Menschen zeigen also heute noch ihre Wirkung und sind für die Standortbestimmung der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik von informativem Wert.
Historische Quellen über Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Art der Behandlung – ob diese Menschen nun Pflege und Versorgung erhielten oder im Gegenteil umgebracht wurden – war im Verlauf der Jahrhunderte bestimmt vom jeweiligen menschenachtenden oder -verachtenden Zeitgeist, von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen, von staatlichen Machtstrukturen, von Staats- und Gesellschaftsideologien, die wiederum stark von theologischen Ethiken geprägt waren. Die Motive der Hinwendung reichten von gottesähnlicher Verehrung der Behinderten im Altertum, über exorzistische Vernichtung im mythischen Mittelalter, über pseudo-karitative Mildtätigkeit bis hin zu systematischer Pflege aus christlicher Nächstenliebe in den aufkeimenden Anstalten des 19. Jahrhunderts. Die fürsorgerische und pädagogische Hinwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung hat sich im Verlauf der Geschichte stark verändert:
„Die Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung ist – historisch gesehen – ein junges Gebiet. Es ist bewundernswert, welche Höhe sie im 19. Jahrhundert in einigen Anstalten erreichte. Es ruft Entsetzen hervor, daß im 20. Jahrhundert eine sturzflutartige Abwärtsbewegung begann, die mit der Ermordung von etwa 80.000 geistig behinderten und psychisch kranken Menschen während des Krieges endete“ (Möckel et al. 1997, 10).
Der nachfolgende Rückblick beleuchtet schlaglichtartig wesentliche Aspekte dieses Wandlungsprozesses und zeigt begünstigende wie hemmende Bedingungen der Entwicklung einer speziellen Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung auf.
Eine systematisch aufgearbeitete „Geschichte der Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung“ gibt es nicht. Zwar hatte Max Krimsee (1877–1946), Lehrer und späterer Leiter der Anstaltsschule am Kalmenhof in Idstein/Taunus, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der historischen Aufarbeitung begonnen, doch seine Arbeiten sind Stückwerk geblieben. Er hinterließ eine Sammlung von heilpädagogischen Originaltexten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg, bezogen auf die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, analysiert wurden. Die Realisation des Vorhabens erwies sich aber als schwierig, weil verschiedene Termini zur Kennzeichnung der geistig Schwachen verwendet worden sind, „so daß es nicht möglich ist, stets genau auszumachen, ob auch wirklich dieser Personenkreis gemeint ist, der heute als geistig behindert bezeichnet wird“ (Speck 1979, 57).
Seit den 1970er Jahren erschien eine Reihe von Monographien. Sie thematisieren entweder die Geschichte einzelner Anstalten, wie z.B. die des Wittekindshofs bei Bad Oeynhausen (Klevingshaus 1970) oder die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof (Scheuing 1997) oder sie widmen sich den Werken einzelner früher Heilpädagogen (z.B. Selbmann 1982 zu dem Werk von Jan Daniel Georgens). Beispiele für die Beschäftigung mit einzelnen Epochen sind u.a. die Untersuchung der Zeit vor der Aufklärung (Bachmann 1985) oder die „Erforschung und Therapie der Oligrophrenie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Meyer 1973).
Als Untersuchungen im Sinne historischer Überblicke sind zu nennen: Meyer (1973), Speck (1979, 1999), Höhn (1982), Schröder (1983), Möckel (1984, 1988, 2007), Mühl (1991) oder Merkens (1988), Hahn 2008 u. v. a. m. Beachtenswert und zum vertiefenden Selbststudium zu empfehlen sind die jüngst erschienenen beiden Quellenbände des Herausgeberteams Möckel, Adam und Adam (1997 und 1999), Lindmeier, Lindmeier (2002). Hierin sind die wichtigsten heilpädagogischen Quellen (Texte) aus der Zeit der Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert bis heute zusammengetragen und in Bezug zueinander gestellt. Schriften der Klassiker wie Itard, Séguin, Guggenbühl, Rösch, Saegert, Georgens und Deinhardt, aber auch von Gegnern der Erziehung geistig behinderter Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus wie z.B. Binding und Hoche sind hier zu finden.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung auf Einzelinitiativen von Philanthropen, i. d. R. an pädagogischen Fragen interessierten Ärzten und Theologen, später auch Pädagogen zurückgeht. Sie haben durch ihr soziales Engagement gezeigt, dass sich der Zustand so genannter ‚schwachsinniger‘ Kinder durch erzieherische Maßnahmen verbesserte. Die staatliche Unterstützung in finanzieller wie juristischer Hinsicht, d. h. das Recht auf Versorgung und Erziehung sowie die Errichtung von Anstalten und Schulen, war erst ein zweiter und schwer durchsetzbarer Schritt, der bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung erst im 19. Jahrhundert begann. Über die Zeit davor gibt es keine systematische Aufarbeitung, dennoch lassen sich im Sinne historischer Orientierungsdaten einige Aussagen zum Leben der Menschen mit geistiger Behinderung machen. „Die Geschichte dieser Menschen war über Jahrhunderte hinweg die Geschichte ihrer Verfolgung und Mißachtung“ (Speck 1997, 13).
2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert
Es ist anzunehmen, dass in den „Anfängen der Menschheitsgeschichte wenig Rücksicht auf gebrechliche, kranke, auch geschädigte Gruppen- oder Stammesmitglieder genommen werden konnte, wollte man das Überleben sichern“ (Mühl 1991, 9). Erst mit dem Sesshaftwerden in der jüngeren Stein- und Bronzezeit wurde eine grundsätzliche Betreuung geschädigter Mitmenschen möglich. Ob diese aber auch wirklich erfolgte, „hing auch von den magischen, mythologischen und normativen Vorstellungen der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ab“ (9). Unter den Menschen mit Behinderungen nahmen die mit einer geistigen Behinderung, die sog. Schwachsinnigen oder Idioten, eine Sonderstellung ein, weil angenommen wurde, dass sie unter Einfluss von Dämonen oder Geistern stünden. Man konnte sich das Anderssein dieser Menschen nicht erklären, zu „naturwidrig war ihr Bild“ (Speck 1999, 11).
Verstoßen und getötet
Während blinde oder leicht körperlich beeinträchtigte Menschen wegen ihrer Intelligenz bzw. ihres Vermögens zu sprechen in alten Hochkulturen (Sumerer, Babylonier oder Ägypter) Achtung erfuhren, wurden geistig behinderte in der Regel verstoßen oder getötet. Bei den Römern und Griechen war die Sitte des Aussetzens und des Kindesmordes verbreitet, ebenso bei den Germanen. Einzelne Spuren dieser Praxis lassen sich verfolgen bzw. belegen und sind z.B. bei Merkens (1988) nachzulesen.
Irrationale Abwehr
Mythologische Erklärungen für die Ursache des Schwachsinns hielten sich bis über das Mittelalter hinaus. „Man glaubte an die Einwirkung von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (,Wechselbalg‘), auch an die ,Strafe Gottes‘ für Sünden der Vorfahren“ (Speck 1979, 57). Man griff zu Beschwörung und Zauberei; Maßnahmen, die aber keineswegs dem geschädigten Menschen oder gar seiner Integration in die Gemeinschaft dienten, sondern ausschließlich dem Schutz der Mitmenschen vor dem als Bedrohung erlebten „Schwachsinnigen“. Die Praktiken waren demzufolge mystisch-religiöse Abwehrmechanismen. Separation, Ausgrenzung und Vernichtung waren soziale Antworten auf das Unbegreifliche des Andersseins. „Es gab keine Anerkennung ihres Lebensrechtes und ihrer Menschenwürde“ (Speck 1999, 11).
„Schwachsinnige“ Menschen behielten auch in der Neuzeit ihre soziale Sonderstellung und erfuhren unterschiedliche Wertschätzung. Sie wurden auf Jahrmärkten zur Schau gestellt, als Narr zum Spielzeug und Gespött, als Dämon gefürchtet, aber auch als schwaches Wesen unter den besonderen Schutz Gottes gestellt. In den Alpenländern wurden diese Menschen zeitweise als Heilige verehrt. Meist aber fristeten sie ihr Leben elend am Rande der Gesellschaft, angewiesen auf Almosen und abgeschoben in Klöster, Armenhäuser, Hospitäler, Irrenanstalten, Zucht- und Tollhäuser, oder blieben in den Familien. Sie waren dem Gespött und der Willkür anderer ausgesetzt. Das Motiv ihrer Unterbringung in öffentlichen Häusern war nicht medizinischer oder pädagogischer Natur. Nicht die Verbesserung ihres Zustandes war Ziel, sondern allein die Abschirmung, der Schutz der Öffentlichkeit vor dem Anblick dieser Menschen.
„Mit der Auflösung der Klöster während der Reformationszeit ging ihre Umwandlung in Waisenhäuser, Asyle, Zucht- und Aufbewahrungsanstalten einher, in denen Behinderte, Arme, Kranke und Kriminelle gemeinsam untergebracht wurden. Die Bevölkerung sollte vor dem Anblick dieser Personen verschont werden“, damit ihre Bewohner „der Umwelt nicht zu Ekel und Abscheu gereichten“ (Merkens 1988, 44).
In welch heterogen zusammengewürfelten Gruppen früher geistig behinderte Menschen untergebracht waren, wird in einer 1588 erschienenen Schrift über das in eine psychiatrische Einrichtung umgewandelte Kloster Haina beschrieben:
„… das das grosse gewaltige Closter Heina durch auß mit Armen leuten als Blinden, Lamen, Stummen, Tauben, Wanwitzigen, Monsichtigen, Sinnverrückten, Besessenen, Mißgestalten, Aussetzigen und dergleichen bresthafftiger Armer menschen heuffig und völlig besetzet wardt“ (Letzner 1588, 7. Kap., nach Schröder 1983, 17).
Die Lebensbedingungen in diesen Aufbewahrungsanstalten waren aus unserer heutigen Perspektive unmenschlich. So berichtete Chiarugi 1795 in seiner Abhandlung über den Wahnsinn Folgendes:
„Es muß gewiß für jeden Menschenfreund einer der schauderhaftesten Anblicke sein, wenn man in sehr vielen Irrenhäusern die unglücklichen Opfer dieser schrecklichen Krankheit in finstern, feuchten Löchern, wo die frische Luft nie hineingebracht werden kann, auf unreinem, selten gewechseltem Stroh, mitten in ihrem eigenen Kote, und mit Ketten gefesselt, oft ganz nackend legen sieht. In solchen Wohnungen des Schreckens könnte der Vernünftigste wohl eher wahnsinnig, als ein Wahnsinniger wieder zur Vernunft gebracht werden“ (nach Schröder 1983, 27).
Die Menschen, die in diesen Tollhäusern arbeiteten, charakterisierte Reil 1803 folgendermaßen:
„Die Zuchtknechte, Stockmeister und Diebeswärter sind meistens rohe Menschen, bei denen Barbarey an der Tagesordnung steht, und welche obendrein diese Unglücklichen als eine lästige Bürde ihrer Amtspflichten betrachten, die sie, um sie auf die kürzeste Art zu besorgen, in feuchte Gewölbe, Gefängnisse und in die Kellergeschosse ihrer Anstalten einsperren. Das nächtliche Gebrüll der Rasenden und das Geklirre der Ketten hallt Tag und Nacht in den langen Gassen wider, in welchen Käfig an Käfig stößt, und bringt jeden neuen Ankömmling bald um das Bischen Verstand, das ihm etwan noch übrig ist“ (nach Schröder 1983, 28).
Von gesellschaftlichem Zusammenleben und erzieherischer Fürsorge ausgeschlossen, konnten geistig behinderte Menschen keine Kommunikations- und Verhaltensweisen entwickeln, d.h. sie entsprachen mit ihrem Verhalten dem Bild, das sich die Umgebung von ihnen machte. Menschen mit geistigen und schwereren körperlichen Gebrechen befanden sich demnach in einem Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen war.
Ambivalenter christlicher Einfluss
Auch das Christentum konnte oder wollte dieser Praxis anfänglich nicht wirkungsvoll begegnen, weil es zwar teilweise der Dämonisierung entgegenzuwirken versuchte, aber mit der Einführung der Schuldfrage nichts zur Anerkennung behinderter Menschen beitrug. Die Verquickung von Schuld- und Ursachenfrage sowie die Interpretation von Behinderung als Strafe Gottes für die Eltern oder die Gesellschaft verstärkten noch die Praxis der Isolierung.
Die historischen Quellen lassen erkennen, dass schon früh ein Unterschied im Umgang mit behinderten Menschen gemacht wurde, also eine gewisse Hierarchie der Behinderungsformen bestand. Obwohl auch sinnesgeschädigte, blinde oder gehörlose Menschen sozial kaum integriert waren, genossen sie aufgrund ihrer kompensatorischen Fähigkeiten höhere öffentliche Anerkennung als schwachsinnige Menschen. Schon früh konnte die Nützlichkeit und Brauchbarkeit Sinnesgeschädigter von der Taubstummenpädagogik des 18. Jahrhunderts unter Beweis gestellt werden. Menschen mit geistiger Behinderung „blieben von den Erfolgsmeldungen ausgeschlossen“ (Merkens 1988, 55), zumal sich die frühe Heilpädagogik ihrer nicht annahm. Sinnesgeschädigte hingegen galten als bildungsfähig,ihnen sprach man ihr Menschsein nicht ab, anders als den sog. Schwachsinnigen.
2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert
Menschen mit geistiger Behinderung wurde erst im 19. Jahrhundert pädagogische Aufmerksamkeit geschenkt. Begünstigend wirkten die zunehmende Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Veränderungen sowie vor allem das Gedankengut der Aufklärung, „in deren Gefolge man sich für die Befreiung bzw. Behandlung von Sklaven, Gefangenen, Kranken, Blinden und Tauben engagierte“ (Mühl 1991, 10). Das Recht auf Bildung sollte nicht länger nur den privilegierten Bevölkerungsschichten vorbehalten bleiben. Alle Kinder sollten durch staatliche Erziehung zu Sittlichkeit und bürgerlicher Nützlichkeit gebracht werden; eine Forderung, die man auch für geschädigte Kinder erhob, weil die ersten Erziehungsversuche tauber und blinder Kinder, Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Bildbarkeit und damit ihre gesellschaftliche Nützlichkeit belegten. Ihre menschliche Würde sollte ihnen darum nicht länger abgesprochen werden. „Vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“ war der Leitgedanke der frühen Heilpädagogik, mit dem man glaubte, das Menschen- und Lebensrecht für Menschen mit Behinderung durchsetzen und wahren zu können.
Diesen Leitgedanken auf Menschen mit geistiger Behinderung zu übertragen und deren gesellschaftliche Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, erwies sich als schwierig und brauchte Zeit. Obwohl von der Taubstummenpädagogik beeinflusst, war die Fürsorge für „Schwachsinnige“ oder frühe Geistigbehindertenpädagogik gezwungen, eigenständige Wege zu entwickeln. Die so genannten schwachsinnigen Menschen mussten erst aus ihren gefängnisähnlichen Unterbringungen herausgeholt und menschenwürdiger Pflege und Versorgung zugeführt werden. Dies erfolgte in Anstalten, die meist auf private Initiative hin entstanden.
Die Errichtung von staatlich unterstützten Schulen als Orten der Erziehung war erst der zweite Schritt. Das 19. Jahrhundert, das wegen seines reformerischen Zeitgeistes auch das „pädagogische Zeitalter“ genannt wird, begünstigte diese Entwicklung.
J.J. Guggenbühl
Die Ideen der Aufklärung führten zu einem stärkeren Interesse an der Wissenschaft und regten die Erforschung der Geistesschwäche, des „Kretinismus“, an. Im heutigen Verständnis ist der Kretinismus eine Form der geistigen Behinderung, die aufgrund eines Schilddrüsenhormonmangels (Jodmangels) der Mutter entsteht und beim Kind zu dauerhaften Entwicklungsstörungen des Skelett- und Nervensystems führt. Jodmangel war ein Phänomen, das im vergangenen Jahrhundert in den Alpenländern weit verbreitet war. Die Schweiz, in der der Kretinismus gehäuft auftrat, gilt darum als Ursprungsland der Erforschung dieser Erscheinung. Der Arzt Johann Jacob Guggenbühl (1816–1863) gründete 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken eine „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“ und war überzeugt, den „Schwachsinn“ heilen zu können, musste sich aber später eines Besseren belehren lassen.
J.L.H. Down
Weitere Ursachen des Schwachsinns wie z. B. das sog. DownSyndrom entdeckte die Medizin erst später. 1866 publizierte der englische Arzt John Langdon H. Down (1826–1896) seine „Beobachtungen zu einer ethnischen Klassifizierung von Schwachsinnigen“.
„Darin unternimmt er“, wie Speck berichtet, „den Versuch, die ihm bekannten Gruppen von Schwachsinnigen bestimmten Rassen zuzuordnen, und beschreibt dabei erstmals den von ihm sogenannten ,mongolischen Typ der Idiotie‘. Beachtlich ist hierbei, dass er nicht nur Symptomatologie und eine spekulative Ätiologie darstellt, sondern auch konkrete Möglichkeiten der Behandlung –, systematic training‘„ (Speck 1999, 15).
Die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung erfolgte im 19. Jahrhundert aus drei verschiedenen Beweggründen: aus medizinischem, pädagogischsozialem oder religiös-karitativem Interesse. Die ersten Anstaltsgründer waren reformerisch denkende Ärzte, Pädagogen (Taubstummenlehrer) und Theologen, denen es um die Verbesserung der Lebenssituation dieses Personenkreises ging. Bestärkt wurden sie in ihrem Tun durch einen optimistisch-aufklärerischen Zeitgeist. „Das Vordringen des naturwissenschaftlichen, d.h. kausalen Denkens, gab starke Anstöße für eine systematische Entfaltung der Arbeit für den geistesschwachen Menschen“ (13). Bei der Gründung der ersten Heil- und Pflegeanstalten war die Hoffnung auf medizinische Heilung bestimmend. Man versuchte, den Gesundheitszustand der Zöglinge durch Hygiene und diätetische Ernährung zu verbessern. Bäder, Waschungen, Schwimmen und Gymnastik sollten den Körper stärken. Die Ärzte suchten nach Behandlungsmethoden, die aber nur begrenzt wirkungsvoll waren. Die parallel dazu beginnenden Erziehungsversuche erwiesen sich als erfolgreicher.
Pestalozzi unternahm z. B. einen ersten Erziehungsversuch, indem er in seinen Erziehungsanstalten auf dem Neuhof (1777/78) neben verwahrlosten auch zwei „schwachsinnige“ Kinder aus einem Tollhaus aufnahm. In seinem 1777 veröffentlichtem Werk „Bruchstücke aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit – Aufruf der Menschlichkeit zum Besten derselben“ hält er als ein Ergebnis dieser Erziehungsversuche fest:
„Und es ist tröstende Wahrheit, auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freiheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden“ (in Möckel 1997, 32).
J.-M.-G. Itard
Erste Angaben über gezielte Erziehungsversuche schwachsinniger Menschen stammen von Jean-Marc-Gaspard Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt in Paris, der über fünf Jahre „Victor“ oder das „Wildkind von Aveyron“ mit pädagogischen Mitteln zu kultivieren versuchte. Der im Wald aufgewachsene und völlig verwilderte Junge „Victor“ war zwar als psychiatrisch unheilbarer „Idiot“ diagnostiziert worden, dennoch war Itard davon überzeugt, seinen Zustand durch eine Form von Erziehung verbessern zu können.
„Dabei ging er von der für damalige Ansichten erstaunlichen Annahme aus, daß die Ursache für das verwilderte Verhalten des Jungen in sozialer und pädagogischer Vernachlässigung zu suchen sei, und daß deshalb durch gezielte Übungen und soziale Zuwendung eine soziale Eingliederung und eine Förderung der Intelligenz zu erreichen sei. Die – wenn auch begrenzten – Erfolge gaben Itard prinzipiell Recht“ (Speck 1979, 58).
E. Séguin
Mit seiner Erziehung versuchte er, die Sinne des Jungen zu entwickeln und dadurch seine intellektuellen Funktionen anzuregen. „Es war der Beginn der ,physiologischen Erziehung‘, deren Basis die Erweckung der Sensibilität der Sinne durch starke Reize, also eine Sinnesschulung darstellte“ (Mühl 1991, 11).
Itards Berichte beeinflussten spätere Erziehungsversuche und vor allem den Taubstummenlehrer, Arzt und Leiter einer Idiotenschule in Paris, Edouard Séguin (1812–1880), der ein erstes Lehrbuch über die Behandlung der „Idiotie“ schrieb. Diese Schrift hat die Schwachsinnigen- oder Geistigbehindertenpädagogik des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Séguin erkannte, „daß die Erziehung geistig behinderter Kinder auf wissenschaftlichem Niveau nur durchdacht werden kann, wenn zugleich die gesamte Erziehung mitreflektiert wird“ (Möckel 1997, 60).
Physiologische Erziehung
Séguin entwickelte das Konzept der „physiologischen Erziehung“, als Sinnes- und Funktionsschulung weiter. Es war prägend für die pädagogische Arbeit in den Anstalten und hat viele Pädagogen bis heute nachhaltig beeinflusst wie z. B. Maria Montessori, die den sensualistischen Standpunkt in ihre Pädagogik übernahm. Spuren dieser Methoden sind auch heute noch in Konzepten der Sinnesschulung wie z.B. bei J. Ayres oder A. Fröhlich zu finden.
Die „physiologische Erziehung“ diente den Philanthropen dazu, den Allgemeinzustand der Menschen mit Behinderung zu verbessern, ihre Bildungsfähigkeit und damit ihr Mensch-Sein unter Beweis zu stellen, womit sie letztlich die öffentliche Anerkennung des Lebensrechtes ihrer Schützlinge anstrebten.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die ersten Erziehungsversuche keine Einzelinitiativen blieben, da durch ihre Erfolge das Interesse an Menschen mit Behinderung wuchs. Aus der Fülle der im 19. Jahrhundert errichteten Anstalten sollen hier nur beispielhaft vier genannt werden:
1845 Gründung der „Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige“ in Berlin durch Carl Wilhelm Saegert (1809–1879, Direktor der königlichen Taubstummenanstalt Berlin,
1863 Gründung der Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg durch Pastor Dr. Heinrich Sengelmann (1821–1899),
1872 Gründung der Anstalt für Epileptiker in Bethel bei Bielefeld durch Pastor Dr. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910),
1884 Gründung der Ursberger Anstalten, eine der größten Einrichtungen mit lange Zeit über tausend behinderten Menschen und vielen hundert Betreuern.
Die meisten Anstaltsgründungen gehen auf private Initiativen zurück und waren kirchlich-karitative Institutionen, die von einem christlichen Ethos getragen waren. „Man würde ihnen aber nicht gerecht, wollte man sie nur unter diesem Aspekt betrachten. Sie waren vielmehr (…) mitgetragen von den pädagogischen und medizinischen Impulsen und Erkenntnissen, die sich in dieser Zeit allmählich verbreiteten“ (Speck 1999, 15). Die heilpädagogische Arbeit dieser Zeit war nicht nur eine praktische, eine Entwicklung und Erprobung von konkreten Behandlungs- und Erziehungsmethoden.
Es gab auch die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser neuen Form der Pädagogik, z.B. die von Georgens und Deinhardt, über die man sich auf Tagungen und Treffen austauschte. Jan Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) waren Pädagogen und gründeten in der Nähe von Wien die Heil- und Erziehungsanstalt Levana.
In ihren Vorträgen versuchten sie, ihre praktischen Erziehungserfahrungen systematisch zu begründen. Ihre Vorträge fassten sie in zwei Bänden mit dem Titel „Die Heilpädagogik“ zusammen. Möckel charakterisiert und bewertet dieses Werk folgendermaßen: „Heilpädagogik war ihrem Ansatz nach Kritik der bestehenden Pädagogik. Ihr Werk ist ein ernstzunehmender Reformversuch. Später schien es, als sei ihr Werk ausschließlich ein Beitrag zur Geistigbehindertenpädagogik“(1997, 244). Die Schriften von Georgens und Deinhardt haben die erzieherische Arbeit in den entstehenden Anstalten des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst.
Neue Anstalten entstanden oft auf Anregung und auf der Grundlage der Erfahrungen der bereits bestehenden. An der Erforschung des komplexen Phänomens des „Schwach-sinns“ waren Mediziner, Pädagogen und Theologen beteiligt, weil man schnell feststellte, dass eine mehrdimensionale Vorgehensweise notwendig war. Von 1860 an setzten sich die Pädagogen stärker durch und die Ärzte zogen sich aus der Anstaltsarbeit weitgehend zurück, weil man erkannt hatte, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung durch eine entsprechende Erziehung und Betreuung mehr zu erreichen war als durch medizinische Therapie.
Abb. 6: Unterricht mit dem Bilderlesebuch: Ursberger Anstalten um 1920
Staatliches Desinteresse
Trotz Verbesserung der Lebenssituation und der Erfolge in der Erziehung blieb das staatliche Interesse an den Belangen schwachsinniger Menschen gering. Von den bis 1870 vornehmlich in Preußen und anderen norddeutschen Ländern „erfolgten 27 Anstaltsgründungen sind lediglich 4 durch Regierungen oder Behörden erfolgt und von den ab 1870 bis um 1900 gegründeten 52 Anstalten nur 10“ (Mühl 1991, 14). Trotz der zahlreichen Anstaltsgründungen konnten nicht alle „schwachsinnigen“ Kinder hier Aufnahme finden. Der Großteil verblieb in den Elternhäusern. Für diese Kinder musste eine andere Form der Erziehung gefunden werden, und dies unter staatlicher Beteiligung, das heißt unter schulrechtlicher Absicherung. „Die Schulpflichtgesetze schlossen zwar grundsätzlich alle Kinder mit ein, aber von einer rechtlichen Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Kinder war das Schulwesen noch weit entfernt“ (Möckel 1988, 207).
Erste staatliche Beschulungsversuche
Ende des 19. Jahrhunderts suchte man nach Formen einer Beschulung für schwachsinnige Kinder und versuchte dies durch Angliederung von sog. Sonderklassen an Volksschulen zu realisieren. In diesen Klassen fasste man alle die Kinder zusammen, die dem normalen Unterricht der Volksschule nicht folgen konnten. Aufgrund der Unschärfe der zur damaligen Zeit verwendeten Begriffe „Idiot“, „Schwachsinniger“ oder „Blödsinniger“ ist anzunehmen, dass sowohl Kinder mit Lernbehinderung als auch mit geistiger Behinderung diese Sonderklassen besuchten. Dasselbe gilt für die ab 1880 entstandenen Hilfsschulen. In diesen zeigte sich aber schnell, dass es eine beachtlich große Gruppe von Schülern gab, die das Ziel der Schule nicht erreichen konnte. Für diese „schwer schwachsinnigen“ und „nicht hilfsschulfähigen“ Kinder, also für die geistig behinderten, entstanden ab 1910 spezielle Klassen, die sog. Vorklassen, Vorstufen, Vorbereitungsklassen oder Sammelklassen. Während der Weimarer Republik waren in den Hilfsschulen ca. 10% der Schüler Kinder mit geistiger Behinderung, die in den Sammelklassen ganztägig betreut wurden. Man empfand diese „bildungsunfähigen“ Kinder als Ballast und rückte sie mit der Bildung von Sammelklassen an den Rand der Hilfsschule.
Erschwerend kam hinzu, dass sich um die Jahrhundertwende der Zeitgeist änderte und das Nützlichkeitsdenken stärker zunahm. Vor dem Hintergrund gesellschafts- und sozialpolitischer Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte sich der Leistungsdruck auf die Hilfsschulen, was – Hand in Hand mit der Verbreitung nationalsozialistischer Wertmaßstäbe (siehe folgenden Abschnitt) – dazu führte, dass die speziellen Klassen für „schwer schwachsinnige“ Kinder in Deutschland 1933 aufgelöst wurden.
2.3Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus – Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung
Das nationale, staatlich bestimmte bürgerliche Zeitalter ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. In Europa entstanden rivalisierende Staaten, die in einem gewissen wirtschaftlichen und damit auch politischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander standen. Die Weltwirtschaft beeinflusste die einzelnen Staaten immer stärker. Die nationalen wie internationalen Veränderungen führten zu gesellschaftlichen Verunsicherungen, die letztlich nicht ohne Wirkung auf die Pädagogik blieben.
Reformpädagogik
Man suchte nach neuen Wegen der Erziehung von Kindern. Leitgedanken wie Demokratie und Gerechtigkeit sollten in und durch Erziehung realisiert werden. Die Rechte der Kinder auf Eigenentwicklung sowie sozialerzieherische Zielsetzungen rückten stärker ins Bewusstsein von Pädagogen und fanden in den verschiedenen reformpädagogischen Ansätzen ihren Niederschlag, wie zum Beispiel in der Odenwaldschule von P. Geheebs (1870–1961), in der Jena-Plan-Schule von P. Petersen (1884–1952) und in anderer Weise in den Waldorfschulen von R. Steiner (1861–1925). Mit Möckel lassen sich die Veränderungen im pädagogischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen beschreiben:
„Seit der Reformation stützte sich die Erziehung auf die christlichen Hausväter und auf die unter kirchlicher, später staatlicher Aufsicht stehender Lehrer. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden viele neue Einrichtungen. … Die Reformpädagogik (Berthold Otto, Fritz Gansberg, Heinrich Scharrelmann, Célestin Freinet, Peter Petersen, Maria Montessori) kann als Versuch gesehen werden, die Erziehungskraft der bestehenden Schule zu reformieren und zu stärken“ (211).
Es ist anzunehmen, dass die Reformpädagogik keinen großen Einfluss auf die Heilpädagogik hatte, zumal die zentrale Stellung des Kindes im Entwicklungsprozess von Anfang an zu den Grundsätzen der Heilpädagogik gehörte und für diese demzufolge nichts Neues war. Außerdem machte die Heterogenität der Behinderungen ein Denken „vom Kinde aus“ notwendig (Merkens 1988, 88).
Die Heilpädagogik und, genauer, die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger durch die reformerischen Veränderungen in der Allgemeinen Pädagogik beeinflusst als vielmehr durch die Zunahme nationalsozialistischen und sozialdarwinistischen Denkens, das in der Zeit von 1933 bis 1945, im sog. Dritten Reich, zur Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung führte.
Theorien Darwins und Mendels
Die nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung Behinderter, Kranker und „Randständiger“ basierte auf den Theorien, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Arbeiten des Biologen Charles Darwin und des Genetikers Gregor Mendel ihren Anfang nahmen (Rudnick 1985, 7). Darwin hatte 1859 ein Buch mit dem Titel „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um das Dasein“ veröffentlicht. In diesem Buch zeigte Darwin, dass durch natürliche Auslese und durch Selektion bei verschiedenen Pflanzenarten gute Entwicklungen erreicht werden konnten. Bestimmte Arten erwiesen sich für die Züchtung als geeigneter als andere. Darwin selbst hat seine Thesen nie auf den Menschen übertragen, also eine soziale Auslese angeregt. Dies geschah Mitte des 19. Jahrhunderts durch die sog. Sozialdarwinisten, wiez.B. A. Tille, E. Haeckel, A. Plotz und W. Schallmayer, vor allem durch die Übernahme und Übertragung des Selektionsgedankens auf den Menschen. Selektion bewirkt nach Ansicht Schallmayers, dass sich nur der Teil einer Art fortpflanzen kann, der besonders gut an die Lebensart angepasst ist. Dazu sei eine Auslese der Besten einer Art und eine Vernichtung der Minderwertigen notwendig. Selektion war nach Schallmayer die Bedingung für Fortschritt, und das eben nicht nur bei Pflanzen und Tieren, sondern auch beim Menschen.
Eugenik
Eine Erweiterung und Bekräftigung dieses sozialdarwinistischen Denkens erfolgte durch die Eugenik, die Erbgesundheitslehre des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Gregor Mendel schuf durch die Entdeckung verschiedener Vererbungsgesetze die Grundlage für eine wissenschaftliche Eugenik; er selbst gilt aber nicht als der eigentliche Begründer der Eugenik der Jahrhundertwende. Sie geht vielmehr auf den Engländer Francis Galton (1822–1911) zurück, einen Cousin Darwins, der 1895 ein Buch mit dem Titel „Erbliche Anlagen und Eigenschaften“ veröffentlichte. Hierin vertrat Galton die Meinung, dass es genau wie in der Pferdezucht möglich sei, durch wohlausgewählte Ehen in einigen aufeinanderfolgenden Generationen eine hochbegabte Menschenrasse hervorzubringen (Rudnick 1985, 13). Die Folgen, die sich aus diesem Denken für Menschen mit Behinderung zur Zeit des Nationalsozialismus ergaben, beschreibt Rudnick folgendermaßen:
„Der Sozialdarwinismus, die von Charles Darwin nicht gewollte Übertragung seiner Erkenntnisse auf das Zusammenleben der Menschen und die Eugenik waren die Haupttheorien, mit denen z.B. Adolf Hitler in seinem Buch ,Mein Kampf‘ (…) die ,Ausmerzung‘ Kranker, Behinderter und Randständiger begründete. Die organisatorische Umsetzung dieser Theorien wurde vor 1933, nicht nur von den Nationalsozialisten, im Rahmen der Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Diskussion theoretisch vorgeplant und teilweise praktisch erprobt. Die aussondernde Erziehung und Unterbringung von Behinderten, Kranken und Randständigen, die auch schon vor 1933 Realität waren, müssen als positive Voraussetzungen für die spätere Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Kampagne im Dritten Reich gewertet werden“ (13).
Euthanasie
Im Nationalsozialismus wurde durch die Vernichtung behinderter Menschen („Euthanasie“) das eingelöst, was in den 1920er Jahren begann, nämlich die Aberkennung des Lebensrechtes schwachsinniger und als schulbildungsunfähig gel-tender Menschen. Am 14.07.1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das am 01.01.1934 in Kraft trat und zur Selektion von ökonomisch brauchbaren und ‚minderwertigen‘ Hilfsschülern führte. Die Diffamierungskampagne gegen die Schwächsten verschärfte sich. Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ setzte 1934 eine Welle von Zwangssterilisationen ein, von der nicht nur behinderte Menschen betroffen waren, sondern alle Randgruppen der Bevölkerung. Die Hilfsschullehrer wurden zu Mitarbeitern an der ‚volksbiologischen Aufgabe‘, der Reinerhaltung der arischen Rasse, indem sie die Schüler meldeten, die dem völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft nicht entsprachen, also die Schüler, die wir heute als geistig behindert bezeichnen. Mit dem Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde für die Aussonderung dieser Kinder die juristische Grundlage geschaffen. In Paragraph 11 heißt es:
„Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit. Als bildungsunfähig sind solche Kinder anzusehen, die körperlich, geistig oder seelisch so beschaffen sind, dass sie auch mit den vorhandenen Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden können“ (nach Speck 1979, 67).
Auch wenn sich manche Hilfsschullehrer bemühten, die Bildungsfähigkeit all ihrer Schüler, auch der geistig behinderten, zu belegen, gelang es ihnen doch nicht, dem von 1939 an beginnenden systematischen „Euthanasie“-Programm wirkungsvoll zu begegnen. Die Gleichsetzung von bildungsunfähig und lebensunwert brachte für die schwachsinnigen Menschen Vernichtung und Tod. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Maßnahmen immer gezielter.
„Ein Erlaß vom 18.08.1939 verpflichtete Hebammen, Geburtshelfer und Leiter von Entbindungsanstalten, alle ,idiotischen und missgebildeten Neugeborenen‘ beim zuständigen Gesundheitsamt zu melden. Nach einer ,Begutachtung‘ wurden sie zur ,Vernichtung‘ freigegeben. Am Ende dieser ,Kinder-Aktion‘ (1941) wurden auch ältere Kinder und Jugendliche erfasst. Die Gesamtzahl der Getöteten wird auf 5000 geschätzt. Von 1939 bis 1941 lief die ,Aktion T4‘ gegen erwachsene Geisteskranke, unter denen sich auch Menschen mit geistiger Behinderung befunden haben mögen; die Zahl der Getöteten wird auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Von 1941 bis 1943 lief die ,Sonderbehandlung 14f 13‘, die zur ,Ausmerzung‘ Kranker, auch geisteskranker Häftlinge, Schwachsinniger, Verkrüppelter und anderer als ,lebensunwert‘ Gekennzeichneter in den Konzentrationslagern führte. Die Zahl der Opfer wird auf 20 000 geschätzt“ (Mühl 1991, 16).
Situation zu Kriegsende
1945 waren die Anstalten leer, das Hilfsschulwesen existierte nicht mehr. Die nationalsozialistische Ideologie mit ihren sozialdarwinistischen Theorien und menschenverachtenden bzw. -vernichtenden Praktiken führte zu einer breiten Verunsicherung im Umgang mit behinderten Menschen und zum Verlust humaner Werte. Die Vorurteile gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung setzten sich nach Kriegsende weiter fort.
Beck, C. (1995): Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung „lebenswerten“ Lebens. 2. Aufl. Bonn
Dörner, K. (1967): Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 15, 121–152
Klee, E. (1985): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt/M.
Schmuhl, H.-W. (1992): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 2. Aufl. Göttingen
2.4Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik von 1945 bis 1989 in beiden deutschen Staaten
Es ist schwierig, eine gesamtdeutsche Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik nach Ende des Zweiten Weltkrieges nachzuzeichnen. Bislang gibt es keine systematische Erforschung der Nachkriegszeit in den vier Besatzungszonen bzw. den späteren beiden deutschen Staaten. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wie z.B. :
Konzentration auf den Wiederaufbau und die Wiedererrichtung des Bildungs- und Versorgungssystems für Menschen mit Behinderung,
Zukunftsorientierung bei gleichzeitiger Verdrängung der geschichtlichen Ereignisse, wie der systematischen Ermordung von Menschen mit geistiger Behinderung und Vernichtung von historischem Material in den Anstalten bei Kriegsende,
unterschiedliche ideologische Interessen in beiden deutschen Staaten mit der Ausbildung von Vorurteilen gegenüber den Entwicklungen im jeweils anderen Teil.
Aufbau des Bildungs- und Versorgungssystems
Da die historische Aufarbeitung im Sinne einer zeitgeschichtlichen Historiografie der Geistigbehindertenpädagogik erst beginnt, werden hier nur einige Aspekte der Entwicklung zwischen 1945 und 1989 in beiden deutschen Staaten so dargestellt, wie sie sich heute zeigen: Bildungs- und Versorgungssysteme für Menschen mit geistiger Behinderung wurden auf- und ausgebaut. Sie unterschieden sich auf ideologischer und juristischer Ebene von einander, während sie auf der Ebene der pädagogischen Praxis Parallelen aufweisen. Nach der Vereinigung in den 1990er Jahren setzte dann in der gesamtdeutschen Behindertenhilfe eine umfassende Neuorientierung, eine Periode des Umbaus ein, die bis heute andauert und auf die ich in Kapitel 2.5 näher eingehen werde.
Das Bildungswesen für Kinder mit geistiger Behinderung hatte durch die Ereignisse zwischen 1934 und 1945 „substantiellen Schaden“ (Speck 1979, 68) genommen. „Schwer schwachsinnigen“ Kindern, wie man geistig behinderte Menschen damals weiterhin nannte, gestand man keine Bildungsfähigkeit zu, obgleich Artikel 1 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik die Unantastbarkeit der Würde des Menschen festschreibt. Man betrachtete Kinder mit geistiger Behinderung vordringlich als pflegebedürftig, weil man davon ausging, sie könnten den kulturellen Inhalten des Unterrichtes in der Hilfsschule nicht folgen. Weder ihre Lebenssituation noch ihre humanen Ansprüche waren von gesellschaftlichem Interesse, was nicht verwundert, wenn man sich die Lebensbedingungen der Menschen im Deutschland der frühen Nachkriegsjahre vor Augen führt: „Zunächst dauerte es im kriegszerstörten Deutschland jedoch ein Menschenalter, bis die äußeren Trümmer und die seelischen Verwüstungen einigermaßen weggeräumt und im Sonderschulwesen auch nur der Stand aus 1933 wieder erreicht war. Die Sonderpädagogik knüpfte dort an, wo sie 1933 aufgehört hatte“ (Möckel 2007, 208). Die Anstalten setzten ihre Arbeit fort und bildeten den einzigen außerfamiliären Lebensort für Menschen mit geistiger Behinderung in der Nachkriegszeit. Obwohl die Instandsetzung des Bildungssystems, zu dem auch die Hilfsschulen gehörten, vordringliches Ziel war, rückten die Kinder und Jugendlichen mit geistiger Behinderung erst in den 1960er Jahren ins Blickfeld, weil sie noch immer für bildungsunfähig gehalten wurden.
„Unterschiede im Aufbau des Sonderschulwesens nach Kriegsende bestanden nicht nur in regionaler Hinsicht, sondern auch in Abhängigkeit von den jeweiligen Sonderschularten. Während Bildungseinrichtungen für Kinder mit einer geistigen Behinderung – von Anstalten abgesehen – auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren so gut wie nicht existierten, setzte beispielsweise der Wiederaufbau der Schulen und Klassen für schwerhörige Kinder rasch und zügig ein“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 300).
In der Zeit des Aufbaus des Hilfsschulwesens, der in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule“ und in den westlichen Besatzungszonen 1948 mit dem Hinweis der „Deutschen Erziehungsminister“ auf die schwierige Situation der Schul-kinder begann, versuchte man zunächst an die Tradition der Heilpädagogik während der Weimarer Republik, d.h. an das Bildungs- und Versorgungssystem, wie es vor 1933 bestand, anzuknüpfen. Dabei fand eine „Tabuisierung des ‚Dritten Reiches‘“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 294) statt. Während man im Westen die eigene Geschichte weitgehend verdrängte, grenzte man sich im Osten von ihr bewusst ab, um hierdurch die sozialistische Staatsideologie legitimieren zu können. Viele der in der NS-Zeit in den Einrichtungen tätigen Heilpädagogen nahmen ihre Arbeit in Anstalten, Hilfsschulen oder in den Verwaltungen wieder auf, ohne Verantwortung für ihr Handeln und das Geschehene zu übernehmen. Man wollte auch nicht die heute offensichtlichen Schwächen einer Sonderpädagogik der Vorkriegszeit sehen, die von einer Vorstellung ausging, dass „Heilerziehung ausschließlich die Fortsetzung ärztlicher Behandlung mit anderen Mitteln“ (Möckel 2007, 207) sei. Man musste erst zu einer Neubewertung von geistiger Behinderung und zu neuen humanen Werten gelangen, um die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung wahrnehmen und ihr Bildungsrecht durchsetzen zu können.
In der Bundesrepublik (BRD) geschah dies erst in den 1970er Jahren und nach Vorbildern aus den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten, wo neue Formen der Normalisation der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung sowie deren Integration realisiert wurden. Einen weiteren, wenn auch nicht direkten Einfluss hatte die von der Studentenrevolte 1968 angestoßene Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 304). Durch deren Forderung, auch unterprivilegierten Kindern mehr Bildungschancen zu bieten, gerieten die Folgen der Benachteiligung stärker ins Blickfeld. Man erkannte, dass Beeinträchtigung und Behinderung auch Folge soziale Benachteiligung sein können. Dies führte Mitte der 1970er Jahre zur Abkehr vom ausschließlich medizinischen Verständnis von Behinderung und zur Auflösung des weitgehend statisch-biologischen Begabungsbegriffs. Die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung setze ein. Diese Entwicklung wurde in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nicht vollzogen. Unter dem Einfluss der Defektologie, wie die Behindertenpädagogik und -psychologie in der Sowjetunion bezeichnet wurde, blieb die Orientierung am medizinischen Modell in den Rechtsvorschriften der DDR bis 1989 weiter bestehen.
Schaut man noch einmal genauer auf die Anfänge der Bildungs- und Versorgungssituation der Menschen mit geistiger Behinderung, so ist die Lage der Sonderschulen nach 1945 im Vergleich zu anderen Bildungseinrichtungen als besonders katastrophal einzuschätzen (Ellger-Rüttgardt 2008, 298). Es fehlte an allem, an Lehrerinnen und Lehrern, an Räumen und an Lehrmaterialien. Die Klassen waren überfüllt. Regelmäßiger Unterricht war kaum möglich. Die Kinder waren oft unterernährt und in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Die Hilfsschulen waren Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen vorbehalten und nahmen das Konzept der Leistungsschule wieder auf. Nur einzelne Schüler mit geistiger Behinderung fanden in den angegliederten Sammelklassen Aufnahme, so z. B. in Berlin, wo 1949 die erste Sammelklasse entstand. In den folgenden zehn Jahren wurden dort 205 Schüler in zehn Klassen unterrichtet (Mühl 1991, 16). Die Bildung von Sammelklassen blieb anfänglich jedoch eher die Ausnahme, da wenig Interesse an der Integration von Schülern mit geistiger Behinderung in die Hilfsschulen bestand. Für die bislang ‚Bildungsunfähigen‘ fand keine schulische Erziehung statt, „beschränkten sich die Ansätze für eine pädagogische Hilfe auf einzelne mehr oder weniger private Initiativen“ (Speck 1979, 69). Diese erstreckten sich im Westen auf hortähnliche Einrichtungen, die auf Anregung von Hilfsschullehrern oder Sozialpädagogen entstanden, über Sammelklassen bis zu Tagesheimschulen.
Ausschluss von Schülern mit geistiger Behinderung in beiden Staaten
Eine systematische Beschulung begann hier aber erst Anfang der 1960er Jahre. Erschwerend kam hinzu, dass das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 weiterhin Gültigkeit besaß und Schüler mit geistiger Behinderung darin für bildungsunfähig erklärt wurden.
In der DDR erfolgte die Ausschulung von Schülern mit geistiger Behinderung auf der Grundlage des Schulgesetzes für Groß-Berlin, „in dem das eingeschränkte Bildungsrecht für Schwerbehinderte in den Punkten 6 und 8 festgeschrieben wurde und in fataler Weise an das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 erinnert“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 314). Auf dieser Grundlage sprach man denjenigen Kindern und Jugendlichen ein Recht auf schulische Erziehung und Bildung ab, die nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten. Hier heißt es:
„Kinder mit geistigen, körperlichen und sittlichen Ausfallerscheinungen und Schwächen, die aber noch bildungs- und erziehungsfähig sind, werden besonderen Schulen und Heimen zugewiesen (Hilfsschulen, Sonderschulen für Schwererziehbare, Blinde, Taubstumme, Krüppel usw.) […] Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit“ (Köhlitz 1949, 20f nach Ellger-Rüttgardt 2008, 314).
Eine Befreiung von der Schulpflicht aufgrund von Bildungsunfähigkeit sahen auch die in den 1960er und 1970er Jahren in der BRD erlassenen Gesetze vor. „Das traf Eltern schwer geistig behinderter Kinder. Sie sollten sich allein behelfen, obgleich gerade sie die Hilfe des Staates brauchten“ (Möckel 2007, 233f). Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Einstellung gegenüber Kindern mit geistiger Behinderung in beiden deutschen Staaten soll nun die Entwicklung der Bildungs- und Versorgungssysteme bis 1989 genauer betrachtet werden. Vorab ist zu bemerken, dass Kinder und Jugendliche im Vordergrund standen, schließlich gab es wegen der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen nur noch wenige Erwachsene mit geistiger Behinderung.
2.4.1Entwicklung in der BRD
Gründung der „Lebenshilfe“
Gegen das staatliche Desinteresse wandten sich in den 50er Jahren vor allem in Anstaltsschulen tätige Pädagogen, forderten eine öffentliche Schulbildung für diese Schülergruppe und die Aufhebung der unteren Bildungsgrenze, die sich am bestehenden Hilfsschulsystem und dem Erlernenkönnen von Kulturtechniken orientierte. Doch es erfolgte noch keine Umsetzung dieser Forderung, der Bildungsanspruch dieser Kinder war nicht allgemein anerkannt. Selbst im „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulwesens“ von 1960 wird im letzten Abschnitt zwar die Bildbarkeit dieser Kinder bestätigt, „aber diese wird als so gering angesehen, daß der angenommene Personenkreis weder in Schulen noch in Heilpädagogischen Kindergärten gefördert werden kann“ (Speck 1979, 70). Es waren vor allem die Kritik und die Initiative von betroffenen Eltern, die zu einer entscheidenden Veränderung der Bildungssituation für geistig behinderte Kinder führte und den Aufbau eines Bildungs- und Versorgungssystems ermöglichte. Die Intention der Eltern war es, ihre Kinder familiennah versorgt zu wissen und nicht in abgelegene Anstalten abgeben zu müssen. In Anlehnung an Elternvereinigungen, wie sie bereits in England, den Niederlanden oder den USA bestanden, schlossen sich Eltern um die kreative Gründungspersönlichkeit des Niederländers Tom Mutters zusammen und gründeten 1958 in Marburg die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.
„Aufgabe und Zweck des Vereins ist die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen bedeuten. Dazu gehören z.B. Heilpädagogische Kindergärten, heilpädagogische Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und ‚Beschützende Werkstätten‘“ (§2 der Satzung des Vereins vom 18.1.1959 nach Möckel 1999, 158).
Auf Initiative der „Lebenshilfe“ entstand in den Folgejahren eine Vielzahl von Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung. Die Zahl der Kindergärten für geistig Behinderte stieg im Zeitraum von 1962 bis 1982 von 10 auf 410, die von Schulen bzw. Tagesbildungsstätten im selben Zeitraum von 50 auf 550.
Aufbauphase
In den 1960er Jahren, der Aufbauphase, wurde in fast allen westlichen Bundesländern die Schulpflicht für Kinder mit geistiger Behinderung gesetzlich verankert. Es wurden weitere Schulen gegründet und bestehende hortähnliche Tagesbildungsstätten in Sonderschulen für Geistigbehinderte umgewandelt. Es entstanden Richtlinien und Lehrpläne für den Unterricht. Mit der Forderung des Deutschen Bildungsrates, dass die Grundschule für die Bildung aller Kinder zuständig sei, begann 1973 die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen und zwischen 1970 und 1987 die ersten integrativen Schulversuche in München, Berlin, Hamburg, Bonn und Köln.
Ausbauphase
Mit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 wurde das Recht auf Sozial- und Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung festgelegt, womit sie nicht länger auf Fürsorge angewiesen waren. Dieses Gesetz schaffte die Grundlage zum Ausbau des Versorgungssystems für Menschen mit geistiger Behinderung in den 1970er und 1980er Jahren. Es entstanden Frühfördereinrichtungen, Werkstätten für Behinderte, Wohnheime, Erwachsenenbildungs- und Freizeiteinrichtungen, auf deren Entwicklung ich in den nachfolgenden Kapiteln noch genauer eingehen werde. Das Aufgabengebiet der Geistigbehindertenpädagogik weitete sich immer mehr aus und ließ ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen entstehen, wie es im ersten Kapitel beschrieben wurde. Entwickelt wurde es in der Praxis, d.h. es geht auf Menschen zurück, die sich in besonderer Weise für die Belange dieses Personenkreises eingesetzt haben. Sie bewirkten, dass Einrichtungen, Erziehungs- und Betreuungskonzepte entstanden und die juristischen Grundlagen hierfür geschaffen wurden.
2.4.2Entwicklung in der DDR
Der Wiederaufbau des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone war geprägt vom Streben nach Demokratisierung des Bildungswesens (vgl. §6 des „Gesetz[es] zur Demokratisierung der deutschen Schule“ von 1946).
„Es war zweifellos die historische Erfahrung der menschenverachtenden Behindertenpolitik des Nationalsozialismus und das damit verbundene Bestreben einer sich selbst legitimierenden Abgrenzung gegenüber dieser Epoche deutscher Geschichte, die bewirkte, dass die Interessen behinderter Schüler von Anfang an Eingang in die allgemeine Debatte um den Bildungsaufbau in der Ostzone fand“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 311).
Aufbauphase
„Die revolutionären Veränderungen im Bildungswesen bewirkten auch im Bereich der Sonderschulen einen Wiederaufbau in historisch neuer Qualität“ (Baudisch et al. 1987, 16). Doch die ab 1948 einsetzende ‚Sowjetisierung‘ und ‚Ideologisierung‘ hatte für die Hilfsschulen im Gegensatz zu den allgemeinen Schulen kaum Bedeutung. Ab den 1960er Jahren wurden, so meint Barsch, sonderpädagogische bzw. rehabilitationspädagogische Theorie „auf der Basis des Sozialismus entwickelt, auch wenn dies für die praktische Arbeit in den Schulen und Fördereinrichtungen nur von geringer Bedeutung war“ (2007, 52f).
Kinder mit geistiger Behinderung wurden im Aufbau des Hilfsschulwesens zwar mitgedacht, aber in der Praxis nicht integriert, weil sie bis 1989 als bildungsunfähig galten. Diese Separierung nimmt das Schulpflichtgesetz von 1950 vor, indem es körperlich und geistig behinderte Schulpflichtige, die als schulbildungsunfähig galten, dem Ministerium für Gesundheitswesen der DDR zuordnete.
Professor Sigmar Eßbach von der Humboldt-Universität in Ost-Berlin beschreibt diese Entwicklung 1985: „Für die schulbildungsunfähigen Kinder und Jugendlichen war nicht die Volksbildung, sondern das Gesundheitswesen zuständig. Auf Grund einer mangelnden Quellenlage ist nur wenig über die Bildungs- und Betreuungsbedingungen dieser Population bekannt. Es gab in der SBZ (So-Besatzungszone, Anm. B. F.) noch keine Fördereinrichtungen, die sich sinnigen“ nachder ‚schulbildungsunfähigen‘ förderfähigen Kindern annahm. Der überwiegende pädagogischen Teil dieser Gruppe wurde in speziellen Klassen in den Hilfsschulen beschult, bis seit etwa Mitte der 1950er Jahre zunehmend die Forderung laut wurde, ‚im Interesse der Optimierung des Unterrichts in den Hilfsschulen die sog. ‚bildungsunfähigen‘ schwachsinnigen Kinder auszuschulen‘“ (nach Barsch 2007, 50). Während die leicht geistig behinderten Kinder weiter in den Hilfsschulen (in den Abteilungen II) unterrichtet und so weit als möglich in die sozialistische Gesellschaft integriert wurden, gab es für die Gruppe der Kinder mit schwerer Behinderung (IQ <20) weder Recht auf Beschulung, noch auf Betreuung (Barsch 2007, 50). Sie fanden, wenn sie nicht von der Familie versorgt werden konnten, Aufnahme in psychiatrischen und neurologischen Abteilungen von Krankenhäusern. Diese Personengruppe war in mehrfacher Hinsicht benachteiligt, weil für sie neben fehlenden Bildungseinrichtungen auch kein flächendeckendes Wohnangebot bestand (Barsch 2007, 216). Viele Menschen mit geistiger Behinderung lebten unter schlechten Bedingungen in psychiatrischen Einrichtungen, ohne dass dafür medizinische Indikationen vorlagen. Die Bildungs- und Freizeitangebote für sie waren überaus gering. In den wenigen verbliebenen kirchlichen Einrichtungen waren die Versorgung und das pädagogische Angebot besser.
Abb. 7: Klassifikation der „Schwachsinnigen“ nach pädagogischen Gesichtspunkten in der DDR (Baudisch et al. 1987, 36)
Ausbauphase
In den 1970er Jahren begann die Einrichtungen von ‚geschützten Arbeitsplätzen‘. Hierzu führen Baudisch et al. aus:
„Sehr schwer intelligenzgeschädigte Jugendliche oder solche mit stark leistungsmindernden Mehrfachschädigungen erhalten eine Ausbildung und üben produktive Tätigkeiten unter Bedingungen der ‚geschützten Arbeit‘ aus. ‚Geschützte Arbeit ist eine von physisch schwerstgeschädigten oder psychisch schwergeschädigten Menschen in einem besonders ausgestalteten Arbeitsverhältnis unter spezifischen Bedingungen ausgeübte Tätigkeit.’ (‚Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden‘ vom 26. August 1969, GB1. II, Nr. 75/1969, §1)“ (1987, 182).
Nachdem die geschützte Arbeit fester Bestandteil der Arbeitsgesetzgebung wurde, standen für geistig behinderte Jugendliche, die Hilfsschulen besuchten, 1989 über 30 Berufe zur Verfügung. Sie konnten eine Ausbildung als Teilfacharbeiter absolvieren. Die Ausdifferenzierung der Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung resultierte „aus dem großen Stellenwert, der der Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft zukam und der auch für die ‚Rehabilitanden‘ gelten sollte“ (Barsch 2007, 218).
Dispensaire
Nach dem Vorbild der Krankenversorgung in der Sowjetunion wurden Ende der 1960er Jahre auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses „Maßnahmen zur Förderung, Beschulung und Betreuung geschädigter Kinder und Jugendlicher sowie psychisch behinderter Erwachsener“ (1969) sogenannte ‚Kreisdispensaire‘, interdisziplinär arbeitende Ambulanzen, eingeführt. Ihre Aufgabe bestand in der Prophylaxe, Diagnostik, Therapie/Rehabilitation und Nachsorge psychisch entwicklungsgestörter Kinder und Jugendlicher sowie der Dokumentation und Planung von Maßnahmen. Die Arbeit der pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachkräfte bezog die Familien mit ein. Die Dispensairebetreuung wurde auch in Form von Hausbesuchen durchgeführt.
Ende der 1960er Jahre wurden an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Halle-Wittenberg die theoretischen Grundlagen für die pädagogische Arbeit mit geistig behinderten Menschen, die Rehabilitationspädagogik, entwickelt. „Das in Berlin entstandene ‚Grundlagenmaterial‘ bot den Fördereinrichtungen in Form einer Richtlinie mit Stoffplan detaillierte und praxisnahe Erziehungs- und Bildungsziele, die sich im wesentlichen an der Lebenswirklichkeit der in ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen orientierten und nur marginal im theoretischen Unterbau von der sozialistischen Ideologie beeinflusst waren“ (Barsch 2007, 216). Die Rehabilitationspädagogik war von einem medizinischen Menschenbild geprägt. Dennoch glichen die didaktischen Grundsätze und Methoden denen der Sonder- bzw. Heilpädagogik der Bundesrepublik.
In der DDR führten die zahlreichen Entwicklungen in der Erziehung und Betreuung von Menschen mit Behinderung zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Lebensbedingungen geistig behinderter Menschen, wobei diese Entwicklungen jedoch nicht stringent verliefen. Das heißt, während sich die Bedingungen für lernbehinderter und leicht geistig behinderter Kinder und Jugendlicher verbesserte, „gelang dies für schwer behinderte Menschen nur in Ansätzen“ (Barsch 2007, 215). Der sozialistische Leistungs- und Gesellschaftsgedanke spielte anders als in Hilfsschulen für die Förderungseinrichtungen des Gesundheitswesens, also für Menschen mit geistiger Behinderung keine Rolle.
Zusammenfassung
Barsch fasst das Ergebnis seiner Untersuchung „Geistig behinderte Menschen in der DDR“ (2007) wie folgt zusammen:
1.„In der DDR existierte ein differenziertes, aber territorial unterschiedlich weit ausgebautes Rehabilitationssystem.
2.Die Behindertenpädagogik in Form der Rehabilitationspädagogik erlebte eine zunehmende Professionalisierung.
3.Die Orientierung an medizinischen Modellen resultierte aus dem Grundverständnis der Rehabilitationspädagogik als einer Pädagogik bei Schädigung. Trotz geforderter interdisziplinärer Gleichberechtigung konnte auch auf der Ebene der Rechtsvorschriften die Dominanz des medizinischen Urteils nicht abgeschwächt werden.
4.Aspekte wie Selbstbestimmung, Integration und Elternaktivität wurden kaum thematisiert. … Auf der praktischen Ebene entsprangen aus der Rehabilitationspädagogik Richtlinien und Stoffteile, die eine kindorientierte und effektive Förderung ermöglichten. Bildungs- und Fördermöglichkeiten für geistig schwerstbehinderte Menschen waren trotz einiger Ausnahmen so gut wie nicht vorhanden. Ihre Betreuung und Pflege basierte auf minimalen Standards.
5.Der Qualitätsgrad der Lebensbedingungen von geistig behinderten Menschen war stark abhängig vom Engagement von Einzelpersonen.
6.Geistig behinderte Menschen konnten – sofern die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur vorhanden war und das soziale Umfeld positiv wirkte – ein gesellschaftlich integriertes, beruflich und in ihrer Freizeit erfülltes Leben führen“ (Barsch 2007, 218f).
Abb. 8: Verwaltungsstruktur als Grundlage für unterschiedliche Systementwicklungen der Geistigbehindertenpädagogik in den beiden deutschen Staaten/System der DDR (Barsch 2007, 101)
Abb. 9: Verwaltungsstruktur als Grundlage für unterschiedliche Systementwicklungen der Geistigbehindertenpädagogik in den beiden deutschen Staaten/System der BRD
Unterschiede in der Entwicklung der beiden deutschen Staaten
Der historische Aufriss zeigt, dass die Geistigbehindertenpädagogik in beiden deutschen Staaten ihren Ursprung in der Praxis hat. Die Entwicklung von Konzeptionen und Theorien der Erziehung und Bildung war erst der zweite Schritt. Die ersten Lehrstühle für Geistigbehindertenpädagogik wurden in den 1970er Jahren an verschiedenen Universitäten in der BRD und DDR eingerichtet. Inzwischen hat sich die Geistigbehindertenpädagogik durch die verstärkte Forschung in den verschiedenen schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern als Erziehungs- und Bildungswissenschaft etabliert (Kap. 5). Und als solche nimmt sie Einfluss auf die Praxis.
Vergleicht man die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten mit einander, so ist festzustellen, dass etwa 10 Jahre nach deren Gründung (1949) die Gemeinsamkeiten der Entwicklung überwiegen.
„Eine unterschiedliche Entwicklung des Sonderschulwesens von BRD und DDR deutet sich seit den späten 70er Jahren an. Während das Sonderschulsystem der DDR unter stärkeren Leistungsdruck geriet, was sich in der Ausschulung schwer schwachsinniger Kinder aus der Hilfsschule … niederschlug, erfolgte in der Bundesrepublik ein tiefgreifender Veränderungsprozess“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 327).
Der Wandel in der BRD zeigte sich an der Abkehr vom medizinischen Verständnis von Behinderung, an der Schulpflicht für Kinder mit geistiger und schwerer Behinderung, an der beginnenden Integrationsdiskussion, der Normalisierung der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung sowie an der verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der geistigen Behinderung. Diese positiven Entwicklungen in der BRD wurden durch die wirtschaftliche Situation und die Öffnung für internationale Entwicklungen in der Behindertenhilfe möglich. Barsch nennt drei Aspekte, die in der DDR für die Stagnation der Entwicklung verantwortlich sind:
„Die geringe Wirtschaftskraft der DDR verhinderte den Ausbau der Infrastruktur des Bildungs- und Betreuungswesens.
Es fehlten Interessen- und Elternverbände – wie in der Bundesrepublik etwa die Lebenshilfe –, die sich für die Belange geistig behinderter Menschen einsetzten.
Die verhältnismäßig geringe Zahl von Personen, die beruflich oder privat in engem Kontakt mit geistig behinderten Menschen waren, reichte nicht aus, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und Druck bei politischen Entscheidungsträgern aufzubauen“ (2007, 218).
Eine vergleichende Gegenüberstellung der Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten zwischen 1946 und 1989 befindet sich im Anhang.
Mit dem Einigungsvertrag von 1990 geht die „Nachkriegszeit auch der Sonderpädagogik“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 329) zu Ende. „Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wurde das System sonderpädagogischer Hilfen in den neuen Bundesländern weitgehend nach dem Muster der alten Bundesrepublik neu gestaltet“ (ebd.). Dies wird heute kritisch gesehen:
„Abschließend bleibt zu sagen, dass viele der teils guten Ansätze der Rehabilitationspädagogik mit der Wiedervereinigung verloren gegangen sind. Dies ist insofern bedauernswert, als dass ihre Erkenntnisse und Entwicklungen ein Gewinn für eine gesamtdeutsche Heilpädagogik hätten sein können“ (Barsch 2007, 218).
Barsch, S. (2007): Geistig behinderte Menschen in der DDR. Oberhausen
Ellger-Rüttgardt, S. L. (2008): Geschichte der Sonderpädagogik. München
Möckel, A. (2007): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart
2.5Geistigbehindertenpädagogik im Umbruch
Innerhalb des Systems der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung haben sich seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Veränderungen vollzogen. Sie beziehen sich auf das Verständnis von Behinderung, auf Behindertenrecht und -politik sowie auf die erkenntnis- und handlungsleitenden Prinzipien der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation. Während in der Aufbauphase erst ein Bewusstsein für die Belange von Menschen mit geistiger Behinderung geschaffen werden musste, wurde bis Ende der 1980er Jahre das System der speziellen Hilfen differenziert ausgebaut.
Phase des Umbaus
Segregation
In den 1990er Jahren mehrte sich die Kritik an der mit dem Ausbau verbundenen Segregation. Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe markieren einen Prozess der Umgestaltung, des Umbaus des Versorgungssystems, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist und der sich mit Dederich folgendermaßen beschreiben lässt:
„Schrittweise hat sich ein Prozess der Humanisierung vollzogen, hin zu verbesserter rechtlicher Gleichstellung, sozialer Eingliederung und sozialer Teilhabe. Die Kritik an Segregation und Diskriminierung sowie die Forderung nach Nichtaussonderung und Selbstbestimmung durch die Behindertenbewegung waren für diesen Prozess ebenso bedeutsam wie die Bemühungen um schulische, berufliche und soziale Integration (neuerdings zunehmend abgelöst durch Inklusion), die Rezeption des Empowermentkonzeptes und die Entwicklung neuer Hilfekonzepte, das grundgesetzlich verankerte Diskriminierungsverbot sowie das im Sozialgesetzbuch IX festgeschriebene Prinzip der Teilhabe“ (Dederich 2008, 31).
Dieser Entwicklungsprozess hat zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung geführt und zeigt sich beispielsweise in der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Schulformen (staatliche oder private Sonderschulen oder integrative Schule), der Möglichkeiten zur Mitbestimmung (in Wohnheim- oder Werkstattbeiräten), der Selbstbestimmung durch ‚Persönliches Budget’ und Mitsprache bei der individuellen Lebens- und Hilfebedarfsplanung, dem Leben in der Gemeinde oder in Partnerschaft und begleiteter Elternschaft, der Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt mit Hilfe von Arbeitsassistenz, in der Beteiligung an der Fußballweltmeisterschaft der Behinderten und den Paralympics sowie im Leben der eigenen Kultur (Theater, Musikvereine, Schreib- und Leseklubs) und vieles andere mehr (Fornefeld 2008, 14f).
Die pädagogischen und rehabilitativen Leitgedanken, die diese positive Entwicklung begleiteten, sind neben den in den 1970er Jahren eingeführten Prinzipien der ‚Normalisierung‘ und ‚Integration‘, die Idee der ‚Selbstbestimmung‘, des ‚Empowerments‘ und der ‚Teilhabe‘.
Normalisierung
Unter Normalisierung versteht man den 1959 von dem Dänen Bank-Mikkelsen entwickelten Leitgedanken zur Angleichung der Lebensmuster und Alltagsbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung an die üblichen Bedingungen der Gesellschaft, in der sie leben (normaler Tagesrhythmus, normaler Wochen- und Jahresablauf, normale Erfahrungen eines Lebenszyklus, normaler Respekt, in einer zweigeschlechtlichen Welt leben, normaler Lebensstandard, normale Umweltbedingungen). Das Normalisierungsprinzip will zur Humanisierung der Lebensbedingungen beitragen und ist das erste Konzept der Heilpädagogik und Behindertenhilfe, das sich konsequent „von der Leitidee der Fremdbestimmung“ (Greving/Ondracek 2005, 158) abwendet. Es wurde durch die wissenschaftliche und konzeptionelle Weiterentwicklung des Schweden Bengt Nirje und des Amerikaners Wolf Wolfensberger in den 1960er und 1970er Jahren zu einer handlungsleitenden methodischen Orientierung. In Deutschland hat vor allem Walter Thimm das Prinzip eingeführt und weiterentwickelt. Wie in Kapitel 4.5 noch gezeigt wird, war das Normalisierungsprinzip bei der Auflösung und Umgestaltung der großen Anstalten von Bedeutung.
Integration
Die Leitidee der Integration geht zum Teil aus dem Normalisierungsprinzip hervor und will die Eingliederung ausgesonderter Personengruppen in die Gesellschaft erreichen. Wie in Kapitel 3.5 gezeigt wird, entstand die Leitidee Mitte der 1970er Jahre als Folge der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates zur gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. Integration versteht sich heute sowohl als Wertbegriff (Bejahung des Lebenswertes behinderter Menschen, Bejahung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Teilhabe am sozialen Leben und Aufhebung künstlicher Trennung) als auch als Handlungsbegriff (räumliche, funktionelle, soziale, personale, gesellschaftliche und organisatorische Integration). Die Leitidee liefert somit die anthropologische Grundlage für ein verändertes Erziehungsverständnis (Fornefeld 2008, 108f). Obwohl die Integration zurzeit stark im schulischen Kontext diskutiert wird, ist sie auch in anderen Lebensbereichen von Bedeutung (z.B. in den Bereichen des Wohnens und Arbeitens oder in der Integrativen Erwachsenenbildung, Kap. 4).
Abb. 10: inklusiver Lea-Leseklub®
Selbstbestimmung
Das Prinzip der Selbstbestimmung geht auf die Independent-Living-Bewegung von Menschen mit Körperbehinderung in den USA zurück, die in den 1960er Jahren gegen die entmündigenden Lebensbedingungen in den Großanstalten protestierten und mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten forderten. Die internationale Diskussion um mehr Selbstbestimmung griff die Bundesvereinigung Lebenshilfe 1994 mit dem Duisburger-Kongress „Ich weiß doch selbst, was ich will“ auf. Seitdem ist die Realisation von Selbstbestimmung Thema in weiten Bereichen der Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung.
Empowerment
Der Begriff des ‚Empowerments’ stammt aus den USA und ist nicht leicht ins Deutsche zu übersetzen. Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse, „in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen“ (Herriger 2002, 18). Mit Empowerment ist die Entwicklung eigener Fähigkeiten und Kräfte zur Durchsetzung einer selbstbestimmten Lebensführung gemeint. Damit dies geschehen kann, müssen entwicklungsfördernde Bedingungen für benachteiligte Menschen geschaffen werden.
Inklusion
Das Konzept der Inklusion ist eine Weiterführung der Leitgedanken Normalisierung, Integration und Empowerment. In seiner konsequenten Umsetzung soll Inklusion die Integration ablösen. Das Konzept wird meist systemtheoretisch begründet und geht von der Vorstellung der Verbesserung der Gesellschaft hin zur Überwindung von Exklusion und Aussonderung aus. Sander hat hierzu ein fünfstufiges Modell entwickelt, das von Exklusion ausgeht und über Segregation, Integration auf Vielfalt als Normalfall zielt (Greving/Ondracek 2005, 178).
Teilhabe
Die Teilhabe ist das zuletzt eingeführte Leitprinzip der Behindertenpädagogik und -politik und wurde im Sozialgesetzbuch IX festgeschrieben (2001).
„Hilfe ist auf soziale Teilhabe ausgerichtet. Wenn der Andere nicht Erfüllungsobjekt der persönlichen und beruflichen Rollen und Normen des Helfenden sein soll, und wenn der Beteiligte sich als Werte verwirklichendes Subjekt dem Anderen mit-teilen will, so muss diese Beziehung auf Teilhabe oder Partizipation abzielen. Es geht um etwas Gemeinsames, um die zwar geteilte, aber verbindende Sorge um ein sinnvolles, gutes Leben und Zusammenleben“ (Speck 2008, 180).
Anerkennung
Der Tatsache, dass ein jeder Mensch auf den anderen angewiesen und insofern immer ein bedürftiger Mensch ist, trägt das Leitprinzip der Anerkennung Rechnung. Keiner kann ohne andere leben. Jeder benötigt zu einem würde- und qualitätsvollen Leben die Achtung und Anerkennung seiner Person durch andere. Das Prinzip der Anerkennung geht in gewissem Sinne den anderen Leitprinzipien voraus, weil es bei der „Verantwortung für die Verantwortlichkeit“ (Bauman 1999, 84) dem anderen Menschen gegenüber ansetzt. Ohne Anerkennung ist die Einlösung der anderen Leitprinzipien nicht möglich (Fornefeld 2008, 143). In Kapitel 3.7 wird vertiefend auf das Prinzip der Anerkennung eingegangen.
Heute gelten die Modelle des Normalisierungsprinzips, der Integration, des Empowerments und der Inklusion als aktuelle Handlungsansätze für die Heilpädagogik. Sie lösen die lange Zeit bestehende Leitidee der Verwahrung und Des-integration der Menschen mit geistiger Behinderung ab. Sie bauen historisch und inhaltlich aufeinander auf, wobei sie in ihren Konkretisierungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Der Abschluss des (Ver-)Wandlungsprozesses dieser Modelle ist nicht absehbar und wird in den nächsten Jahren sicherlich zu weiteren Diskussionen, Visionen und Modellen führen“ (Greving/Ondracek 2005, 178). Eine Geistigbehindertenpädagogik, die sich der Anerkennung ihrer Klientel stellt, bleibt selbst glaubwürdig. Die Verantwortung für die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig von Grad ihrer Beeinträchtigungen ist ernst zu nehmen, um ihre Lebensqualität zu sichern.
Abb. 11: Rolle der Leitprinzipien im Spannungsfeld gesellschaftlich-kultureller Erwartungen, Institutionen der Behindertenversorgung und pädagogischer Praxis
Die genannten Leitprinzipien charakterisieren einen umfänglichen Reformprozess im Bereich der Behindertenversorgung und einen Paradigmenwechsel in der Geistigbehindertenpädagogik, d.h. eine Änderung von Lehrmeinungen und Theorien. Der Paradigmenwechsel entsteht in Relation zu den aktuellen rechtsstaatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben. Sie führen dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung in ihren Belangen heute ernst genommen werden und ihnen Wege zur Integration und Selbstbestimmung offen stehen, wie es sie zu keiner Zeit gab. Menschen mit geistiger Behinderung können ein qualitätsvolles Leben führen, doch sie bleiben immer auch abhängig von einem Versorgungssystem, das ihnen die Möglichkeiten dazu eröffnet. Man muss schon genau hinschauen, um zu sehen, dass das System kein Garant für Lebensqualität aller Menschen mit geistiger Behinderung ist. Nach einer Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren, die optimistisch stimmte, verschlechtert sich die Lebensqualität für Menschen mit schwerer Behinderung oder für diejenigen mit zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen seit Beginn der 2000er Jahre. Warum es heute trotz der leitenden Prinzipien von Integration/Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe zur Segregation bestimmter Personengruppen kommt, wird deutlich, wenn man die Hintergründe der geänderten Behindertenpolitik mit ihren Vorschriften genauer betrachtet.
Diskriminierungsverbot
In der deutschen Geistigbehindertenpädagogik war man sich sicher, dass man aus den Fehlern der eigenen Geschichte gelernt habe und eine systematische Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr möglich sei. Man hielt ihr Lebensrecht für gesichert. Die Schriften des australischen Philosophen Peter Singer, in denen er das Lebensrecht von Menschen mit schwerer Behinderung unter Nützlichkeitserwägungen in Frage stellt, führten Anfang der 1990er Jahre zu starker Verunsicherung, zu Protestkundgebungen von Selbsthilfegruppen und zu zahlreichen Diskussionsforen und Tagungen, auf denen die utilitaristischen Thesen Singers kritisch diskutiert wurden. Diese sogenannte ‚Singer-Debatte‘ schärfte das Bewusstsein für die Gefahren, die für Menschen mit geistiger Behinderung von der Bioethik und den Biotechnologie ausgeht. Unter dem Druck der Behindertenverbände konnte 1994 das so genannte ‚Diskrimierungsverbot‘ durchgesetzt werden, indem das Grundgesetz um den Art. 3 Absatz 3 Satz 2 ergänzt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden.“ Das ‚Diskriminierungsverbot‘ war zwar ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft, doch seine Wirkung blieb zu gering, um die Frage nach dem Lebenswert und dem Lebensrecht von Menschen mit geistiger oder gar mit schwerer Behinderung in einer von ökonomischem Denken bestimmten Leistungsgesellschaft verhindern zu können. Es bleibt weiterhin Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik sich mit aktuellen ethischen und lebensrechtlichen Fragen zu befassen und sich zum Schutz ihrer Klientel gegen diskriminierende Tendenzen zu Wort zu melden.
Einführung der Sozialgesetzbücher
Für den aktuellen Umbau-Prozess der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation entscheidender als das ‚Diskriminierungsverbot‘ war die Einführung des Sozialgesetzbuches IX: Rehabilitation und Teilhabe (2001) und XII: Sozialhilfe/Eingliederungshilfe (2003). Diesen Sozialgesetzen liegt das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 eingeführte systemische Verständnis von Behinderung zugrunde, wie es in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) festgehalten ist. Sie wird in Kapitel 3.2 genauer dargestellt.
Nachdem das Bundessozialhilfegesetz von 1961 vierzig Jahre in der BRD Gültigkeit hatte, begann mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe – der Umbau der gesetzlichen Vorgaben, den der ‚Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen‘ so erläutert: „Es fasste das bis dahin geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen, das vorher auf mehrere Gesetze verteilt war, zusammen und entwickelte es weiter. Damit wurde auch der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet. Bis dahin war sie geprägt von dem Fürsorgedanken, mit der Zielsetzung: dem behinderten Menschen muss geholfen werden“ (www.behindertenbeauftrag te.de vom 28.12.2008).
Mit der Einführung des SGB IX stelle die Behindertenpolitik folgende Aspekte in den Mittelpunkt:
„Anerkennung behinderter Menschen als Experten in eigener Sache
Zusammenarbeit mit den Verbänden behinderter Menschen
Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ermöglichen
Behinderte Menschen stehen im Mittelpunkt“ (www.behindertenbeauftragte.de vom 28.12.2008).
Kernelemente und ziele des SGB IX
„Leistung aus einer Hand
Schnelle Zuständigkeitserklärung
Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes behinderter Menschen bei Inan spruchnahme der Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe
Kooperation, Koordination und Konvergenz des Leistungsgeschehens, d.h. Abstimmung und Zusammenarbeit der Träger bei der Leistungserbringung
Stärkung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘
Besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Frauen und Kinder
Das SGB IX beinhaltet u.a.
Definition von ‚Behinderung‘
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe, unterhaltssichernde Leistungen
allgemeine Grundsätze: Welche Hilfen gibt es? Wie werden sie erbracht? Wer ist zuständig?
Zusätzlich gibt es Verordnungen, Richtlinien, gemeinsame Empfehlungen und sonstige Durchführungsvorschriften der jeweiligen Leistungsträger. Leistungen zur Teilhabe werden erbracht als
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, als
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, als
Unterhaltssichernde Leistungen sowie als
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (www.behindertenbeauftragte.de vom 28.12.2008).
Abgeschlossen wurde der Umbau durch die Einfügung des Bundessozialhilfegesetzes in das Zwölfte Sozialgesetzbücher (SGB XII) –Sozialhilfe/Eingliederungshilfe –, das in seinen wesentlichen Teilen am 1. Januar 2005 in Kraft trat.
Heute sind es vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten- und Sozialpolitik bestimmen:
Teilhabe verwirklichen
Gleichstellung durchsetzen
Selbstbestimmung ermöglichen
Lebensqualität sichern.
Diese Neuerungen finden ihren Niederschlag in der Gestaltung von gemeindeintegrierten Wohnräumen und industrienahen Arbeitsangeboten, aber auch bei der Diagnose individueller Hilfe- und Unterstützungsbedarfe. Menschen mit Behinderung sollen heute möglichst selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Für viele Menschen mit geistiger Behinderung ist dies inzwischen Wirklichkeit geworden.
Doch diese für die Menschen mit leichter geistiger Behinderung positive Entwicklung hat auch ihre Grenze, denn sie muss in einem gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess gesehen werden, der mit Forderungen nach Selbstbestimmungsund Integrationsfähigkeit zum Ausschluss von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung führt (Fornefeld 2007a). Eine Kritik ist notwendig, weil sich Anzeichen mehren, „die nicht nur eine Fortführung des bisher Erreichten entgegenstehen, sondern dieses umgekehrt wieder in Frage stellen können“ (Dederich 2008, 31). Auf diese Entwicklungen wird in Kapitel 3.6 näher eingegangen und dabei gezeigt, dass sich heute eine ‚Restgruppe‘ innerhalb der Population der Menschen mit geistiger Behinderung herausbildet, die als Menschen mit Komplexer Behinderung bezeichnet werden.
UN-Konvention Rechte der Menschen mit Behinderung
Dass die Rechte von Menschen mit Behinderung schützenswert sind, wird auf internationaler Ebene u.a. von den Vereinten Nationen (UN) in New York diskutiert. Um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung weltweit zu verbessern, haben die Vereinten Nationen die „Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen“ in jahrelangen Bemühungen, an denen deutsche Vertreter staatlicher und privater Organisationen beteiligt waren, entwickelt und Ende 2006 veröffentlicht. Ende März 2007 wurde das Abkommen von der Bundesrepublik unterzeichnet und am 19. Dezember 2008 ratifiziert. Damit war der Weg frei für das Inkrafttreten der Konvention am 1. Januar 2009. Deutschland ist nunmehr verpflichtet, die Vorgaben der Konvention in nationales Recht umzusetzen. An dieser Entwicklung haben Behindertenverbände maßgeblich Anteil. Die Grundsätze der Konvention werden in Artikel 3 formuliert:
a)„Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, der Autonomie des Einzelnen, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie der Unabhängigkeit der Person;
b)Nichtdiskriminierung;
c)Volle und wirksame Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben;
d)Respekt vor der Unterschiedlichkeit und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt und des Menschseins;
e)Chancengleichheit;
f)Barrierefreiheit;
g)Gleichberechtigung von Mann und Frau;
h)Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderung und Achtung des Rechts von Kindern mit Behinderungen auf Wahrung ihrer Identität“ (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Vereinte Nationen, 16.2.2007)
Zusammenfassung
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich in der Geistigbehindertenpädagogik ein umfassender Paradigmenwechsel vollzogen, der zum einen zu mehr Lebensqualität für die Mehrzahl der Menschen mit geistiger Behinderung geführt hat. Die Entwicklung steht in einem globalen Zusammenhang wirtschaftlicher Interessen und wird heute stärker als zuvor von der internationalen Behindertenpädagogik und Rehabilitation beeinflusst. Obwohl sich diese für die Akzeptanz und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderung einsetzt, sind in Deutschland neue Formen der Diskriminierung und Aussonderung von Menschen mit Komplexer Behinderung zu beobachten. Der Prozess der Umgestaltung des Versorgungssystems für Menschen mit geistiger Behinderung dauert an. Die Zielrichtung dieses Prozesses ist nicht selbstverständlich aus der bisherigen Entwicklung abzuleiten. Sie bleibt offen und ist wie alle Lebenszusammenhänge an Konjunkturen und Krisen gebunden.
Dederich, M. (2008): Der Mensch als Ausgeschlossener. In: Fornefeld, B. (Hrsg.): Menschen mit Komplexer Behinderung. München, 31–49
Fornefeld, B. (2007a): Was geschieht mit dem Rest? – Anfragen an die Behindertenpädagogik – Teil I und II. In: Dederich, M., Grüber, K. (Hrsg.): He rausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben. Frankfurt, Teil I: 39–53, Teil II: 75–85
6.Fassen Sie die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung vor dem 19. Jahrhundert zusammen.
7.Nennen Sie die gesellschaftlich-ideologischen Veränderungen, die im 19. Jahrhundert zu Anstaltsgründungen geführt haben.
8.Welche Motive hatten die Anstaltsgründer?
9.Wie veränderte sich die Heilpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und welche Konsequenzen hatte das für Menschen mit geistiger Behinderung?
10.Nach welchen Vorbildern entwickelte sich die Geistigbehindertenpädagogik nach dem 2. Weltkrieg in den beiden deutschen Staaten?
11.Entstammt das nachfolgende Zitat einem west- oder ostdeutschen Lehrbuch der Nachkriegszeit? Begründen Sie die Zuordnung.
„Das leistungsmäßige Zurückbleiben eines Kindes allein berechtigt den Unterstufenlehrer somit noch in keiner Weise, die Vorstellung des Kindes im Hilfsschulaufnahmeverfahren zu erwägen oder das Kind gar als schwachsinnig zu bezeichnen und es – möglicherweise noch durch unbedachte Bemerkungen vor der Klasse – ‚abzustempeln‘. Das bereits durch den schulischen Mißerfolg beeinträchtigte Selbstvertrauen des Kindes kann durch solche Äußerungen völlig zerstört werden. Was sollte nun der Unterstufenlehrer tun? Zuerst sollte er die Verbindung zum Elternhaus suchen, um sich eingehend mit den häuslichen Lebensbedingungen des Schülers und mit dessen bisherigen Entwicklungsverlauf vertraut zu machen. Er sollte gemeinsam mit den Eltern beraten, wie eine möglicherweise vorhandene pädagogische Vernachlässigung zu beseitigen ist. Liegt noch kein ärztlicher Befund vor, so sollte er die Eltern veranlassen, mit ihrem Kind einen Facharzt aufzusuchen. Im Rahmen seines Unterrichtes sollte er gezielte Fördermaßnahmen für das Kind vorsehen, ohne dabei etwa die anderen Schüler seiner Klasse zu vernachlässigen. … Weiterhin sollte er sich bemühen, die ‚starken Seiten‘ des Kindes zu erkennen und das Interesse des Kindes, z.B. für bestimmte Tätigkeiten, bewußt in den Dienst seiner Fördermaßnahmen stellen. Alle diese Bemühungen sollte er möglichst schriftlich fixieren und bestimmte Arbeitsergebnisse des Kindes, wie Zeichnungen, schriftliche Arbeiten usw., sammeln. Geht er so vor, dann ist er in der Lage, z.B. seinen Vorschlag, das Kind dem Hilfsschulaufnahmeverfahren vorzustellen, konkret zu begründen und damit gleichzeitig zur Entscheidung über den weiteren Bildungsweg des Kindes beizutragen.“
12.Nennen Sie Merkmale der Auf- und Ausbauphase der Geistigbehindertenpädagogik in beiden deutschen Staaten.
13.Wodurch zeichnet sich die Umbau-Phase der Geistigbehindertenpädagogik seit Mitte der 1990er Jahre aus?
14.Wie lauten die vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten- und Sozialpolitik bestimmen?