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1.2 Mehrsprachigkeit

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Weltweit werden 4000 bis 7000 Sprachen in etwa 200 Staaten gesprochen; in der Mehrheit der Länder ist demnach weit mehr als eine Sprache in Gebrauch. Global ist Mehrsprachigkeit also der Normalfall (Grosjean 1982). Trotz Arbeitsmigration, Flüchtlingsbewegungen und Globalisierung verharren aber nach wie vor viele Staaten in einer Nationalstaatenideologie vergangener Jahrhunderte (Tracy 2014). So wurde vonseiten der Politik (in der Vergangenheit) immer wieder eine ‚Deutschpflicht‘ für Migranten gefordert, die nicht nur für die Schule, sondern teils auch in privaten Kontexten gelten sollte (z. B. in der Süddeutschen Zeitung am 08.12.14). Solche Forderungen ignorieren Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung und verkennen den Fakt, dass Deutschland mehrsprachig ist. Schon lange sind in Deutschland Sorbisch (in Brandenburg und Sachsen) und Dänisch (in Schleswig-Holstein) anerkannte Minderheitensprachen; an den Grenzen gibt es, ebenso wie im Inland, bereits einige (wenn auch noch zu wenige) bilinguale Schulen; in Arbeitskontexten ist es selbstverständlich, neben dem Deutschen auf andere Sprachen zurückzugreifen. In deutschen Großstädten werden ungefähr 200 verschiedene Sprachen gesprochen (Tracy 2014: 15). Allerdings hat die Europäische Union im Zuge ihrer Mehrsprachigkeitspolitik die wenigsten dieser rund 200 Sprachen im Blick, sondern fokussiert fast ausschließlich die ‚großen‘ europäischen Sprachen. Ebenso wenig finden viele dieser Sprachen Aufnahme in Schule und Unterricht. Darin und nicht etwa in der Mehrsprachigkeit an sich liegt eines der Kernprobleme der Bildungspolitik: Zum einen haben die Sprachen, welche viele SuS bereits mit in die Schulen bringen, weder als Unterrichtsmedium noch als Unterrichtsgegenstand einen festen Platz. Zugleich wird allen Kindern bis zum Schuleintritt zu wenig Gelegenheit geboten, sich die in der Schule benötigten sprachlichen Repertoires anzueignen (Tracy 2014: 15).

Bevor genauer auf individuelle Mehrsprachigkeit und damit verbunden auf die Verwendung mehrerer Sprachen eingegangen wird, wird im Folgenden definiert, wen wir als mehrsprachig bezeichnen: Als mehrsprachig wird der- / diejenige bezeichnet, der / die regelmäßig mehr als eine Sprache verwendet (Grosjean 2008: 10) und in der Lage ist, in mehr als einer Sprache Alltagsgespräche zu führen (Tracy 2014: 17). Dass nicht alle Sprachen, über die eine Person verfügt, gleicherweise verwendet werden, ist in dieser Definition bereits enthalten. Darüber hinaus gelten in Anlehnung an die Unterscheidung innerer wie äußerer Mehrsprachigkeit (Wandruszka 1975) auch Dialekte und Ethnolekte als Sprachen. So zeigt Wandruszka, wie vielfältig bereits die „muttersprachliche Mehrsprachigkeit“ (ebd.: 322) in Form von Regio- oder Soziolekten ist, die uns von Kindheit an begegnen. Diese Definition von Mehrsprachigkeit umfasst nicht nur im engeren Sinn gesprochene Sprachen, sondern auch Gebärdensprachen (Becker / Jäger 2019), die ebenso wie gesprochene Sprachen regionale Unterschiede (Dialekte) aufweisen und sich weltweit unterscheiden.

„Individuelle Mehrsprachigkeit bringt kognitive, lernpsychologische, kreative, interkulturelle, metalinguistische und pragmatische Vorteile“ (Marx 2014: 8), die schulisch und gesellschaftlich zu nutzen sind. Das bedeutet beispielsweise, SuS ihre weiteren Sprachen im Unterricht verwenden zu lassen (s. hierzu u. a. Lengyel 2016). Bereits Dirim (1998) zeigte eindrücklich, wie sinnvoll Grundschulkinder ihre L1 im Unterricht einsetzen, um sich Inhalte zu erschließen, organisatorische Dinge zu klären und miteinander zu kommunizieren. Brandt und Gogolin (2016) belegen am Beispiel zweier Schülerinnen einer 10. Klasse den Nutzen der L1 für die inhaltliche Bearbeitung eines Textes im Geschichtsunterricht. In der Partnerarbeit wählen die SuS die Sprache(n) frei.


Die hier eingesetzten Sprachmischungen (Code-Switching) sind keinesfalls nur Füller sprachlicher Lücken, sondern ebenso, wie in außerschulischen Studien von Sprechern unterschiedlichen Alters gezeigt (Tracy / Lattey 2010), kommunikative Stilmittel. So finden Sprachwechsel zum Beispiel statt, um Veränderungen im Diskurs, Sprecherwechsel in einer Erzählung usw. zu markieren (s. hierzu auch Kap. 6, weiterführend Kersten et al. 2011, Tracy 2011 und 2014).

Familien bilden den ersten Erwerbskontext von Sprache(n). Mehrsprachige Familien verwenden ihre Sprachen auf unterschiedliche Weise (s. hierzu ausführlich Brehmer / Mehlhorn 2018, 61ff.), die Romaine (1995) mit Blick auf den simultan bilingualen Erwerb in sechs Typen grob umschreibt. Spricht bspw. je ein Elternteil (von Geburt an) eine Sprache mit dem Kind, wobei eine der beiden Sprachen auch die Umgebungssprache ist, wird nach dem sogenannten Prinzip one person, one language verfahren. Mehrere Erwerbstypen umfassen die Situation, dass die Eltern ein oder zwei Sprachen mit dem Kind verwenden, jedoch keine dieser Sprachen die Umgebungssprache ist. Diese und weitere Typen suggerieren eine Form der Sprachentrennung, die so in Familien mit mehreren Kindern unterschiedlichen Alters eher ein Ideal als ein Abbild der Realität ist. Dieser sprachlichen Realität trägt der Typ mixed languages, in dem die Eltern selbst mehrsprachig sind und beide / mehrere Sprachen und Sprachmischungen in der Kommunikation mit den Kindern verwenden, Rechnung. Welche Sprache(n) wie intensiv in einer Familie verwendet wird / werden, variiert zwischen den Familienmitgliedern und / oder abhängig von Gesprächsthemen (z. B. Schule und Arbeit vs. Freizeit und Familie). So ist die Sprachverwendung auch abhängig vom Alter der Kinder; in frühen Lebensjahren wird möglicherweise zunächst intensiver in der Erstsprache kommuniziert, die Umgebungssprache (hier: Deutsch) nimmt erst ab dem Kindergartenalter mehr Raum ein. Aufgrund der Sprachmischungen innerhalb einer Kommunikationssituation ist die Frage nach der Gewichtung ggf. ohnehin kaum zu beantworten.

Sprachenverwendung in der Familie

Im Bildungsbericht 2016 wurden erstmals Zahlen zur vorrangigen Familiensprache der SuS aus acht Bundesländern veröffentlicht. Der Anteil an SuS mit nicht deutscher Familiensprache variiert regional (z.B. Bayern 12,2 %, Rheinland-Pfalz 12,6 % vs. Berlin 35,2 %, Bremen 29,7 %, Hessen 25,7 %) ebenso wie der Anteil der SuS mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl der SuS.

Ebenfalls wurden erstmals Ergebnisse zur vorrangigen Familiensprache von Kindergartenkindern berichtet. Auch hier gibt es große regionale Unterschiede. Während in Berlin, Gladbeck (Ruhrgebiet) und Offenbach (Hessen) über 77 % der Vier- und Fünfjährigen mit Migrationshintergrund zu Hause (überwiegend) kein Deutsch sprechen, weisen vor allem ländliche Gebiete Werte von unter 50 %, teils sogar unter 30 % auf (jedoch z.B. in Mecklenburg-Vorpommern an der Grenze zu Polen 66–77 %) (Bildungsbericht 2016: 167). Es gilt zu hinterfragen, ob sich tatsächlich die familiären Sprachpraktiken regional unterscheiden oder ob die Unterschiede auf die Problematik der engen Fragestellung zur (vorrangigen) Familiensprache zurückzuführen sind. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Familien im ländlichen Raum und in verstädterten Regionen? Bilden die Ergebnisse ab, dass Familien, die in Regionen/Städten mit vielen Menschen mit Migrationshintergrund und/oder vielen mehrsprachigen Menschen leben, die Erstsprachen eher (auch) als Familiensprache(n) verwenden? Fördert demnach das Erleben von Mehrsprachigkeit als Normal- und nicht als Sonderfall (auch) die familiale Mehrsprachkeit? Unberücksichtigt lässt die Stichprobe die 10 % der Kinder mit Migrationshintergrund, die keine Kindertagesstätte besuchen, sowie mehrsprachige Familien ohne Migrationshintergrund. Die Entscheidungsfrage „überwiegend eine andere Sprache oder überwiegend Deutsch“ spiegelt einen eingeengten Blick auf die Sprachenverwendung mehrsprachiger Menschen wider. Es ist gut vorstellbar, dass sich mehrsprachige Familien für eine Antwortmöglichkeit entschieden haben, die jedoch ihre Sprachenverwendung nicht vollständig abbildet.

In Erhebungen, die der Komplexität von Mehrsprachigkeit Rechnung tragen, wurden SuS als mehrsprachig kategorisiert, wenn sie angaben, mit mindestens einem Familienmitglied (auch) eine weitere Sprache außer Deutsch zu sprechen (Chlosta/Ostermann 2010: 19) (u.a. Fürstenau/Gogolin 2003 für Grundschulen in Hamburg, Chlosta/Ostermann 2006 für Grundschulen in Essen, Decker/Schnitzer 2012 für Grundschulen in Freiburg und Ahrenholz/Maak 2013 für Thüringen). Die Erhebung von Familiensprachen bzw. Mehrsprachigkeit ist dringend zu systematisieren (s. hierzu auch Ahrenholz/Maak 2013), um Ergebnisse vergleichen zu können und der tatsächlichen Mehrsprachigkeit der Familien gerecht zu werden.

Deutsch als Zweitsprache

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