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2.2 Lernausgangslage: Mündliche Fähigkeiten in Produktion und Rezeption

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Kinder und Jugendliche mit DaZ sind ebenso kompetente Sprecher(innen) und Zuhörer(innen) wie gleichaltrige SuS mit DaE, jedoch zunächst nicht in der für den Unterricht in Deutschland relevanten Schul- und Unterrichtsprache. Bei einem konsequenten Verständnis des Lernbereichs Sprechen und Zuhören müssten diese SuS sowohl in ihrer L1 als auch ihrer L2 gefördert werden. Diese Idee scheitert jedoch bereits daran, dass es Lehrkräften nicht möglich ist, die vielen verschiedenen Erstsprachen der SuS zu beherrschen. Es stellt sich jedoch grundsätzlich die Frage, welcher Raum den Erstsprachen im (Deutsch-)Unterricht gegeben werden kann (für Umsetzungsvorschläge s. Kap. 6.4).

Verdeckte Sprachschwierigkeiten

Die Herausforderung, sprachliche Fähigkeiten ad hoc im Unterricht zu erfassen und zu beurteilen, ist riesig. Im vorangegangenen Abschnitt (2.1) wurde die Komplexität der (deutschen) Sprache nur angerissen. Dementsprechend ist auch die Herausforderung, mündliche Fähigkeiten zu erfassen, ohnehin groß, besonders jedoch mit Blick auf SuS mit DaZ. Knapp (1999) wies erstmals auf das Risiko hin, die sprachlichen Fähigkeiten von SuS mit DaZ zu überschätzen, und prägte den Begriff „verdeckte Sprachschwierigkeiten“. Er begründet dieses Verdeckt-Sein damit, dass die SuS durch ihre kommunikativen Kompetenzen (BICS) über spezifische Schwierigkeiten hinwegtäuschen und Vermeidungsstrategien anwenden könnten. Nicht zuletzt sieht er einen Grund für die verdeckten Sprachschwierigkeiten in der Komplexität der Unterrichtskommunikation, deren Fokus meist auf dem Inhalt und nicht auf der Form der gesprochenen Sprache liege.

Fachliches Wissen über die deutsche Sprache und den (Zweit-)Spracherwerb ist dringende Voraussetzung für Lehrkräfte, die ihre SuS sprachlich einschätzen, fördern und beurteilen möchten (u.a. Hopp et al. 2010). Für diesen Band haben wir einige wesentliche Bereiche ausgewählt, zu denen bereits detaillierte Untersuchungen vorliegen. Während Kinder mit DaE bis zum Eintritt in die Institution Schule bereits umfangreiche Fähigkeiten im Deutschen erworben haben1, sind Kinder mit DaZ (abhängig vom Alter bei Erwerbsbeginn) in den ersten Schuljahren teils noch mit den ersten Erwerbsschritten, in jedem Fall jedoch mit dem Erwerb typischer ‚Stolpersteine‘ des Deutschen beschäftigt.

Satzstruktur

Der Erwerb der Satzstruktur des Deutschen ist inzwischen nicht nur für den Erst-, sondern auch für den Zweitspracherwerb erforscht. Ergebnis mehrerer Studien ist, dass der Erwerb der Satzstruktur des Deutschen sowie der Subjekt-Verb-Kongruenz von Kindern mit frühem Zweitspracherwerb (wie EBRU) qualitativ dem Entwicklungsverlauf bei einsprachigen Kindern entspricht, jedoch wesentlich schneller erfolgt.

Schon früh werden beide Verbpositionen adäquat besetzt. Mit dem Erwerb des kompletten SVK-Paradigmas verschwinden nicht-finite Verbletztsätze innerhalb weniger Wochen oder Monate. (Rothweiler 2016: 16)

Ein früher Zweitsprachlerner namens Faruk produziert beispielsweise nach nur vier Kontaktmonaten (KM) im Alter von drei Jahren und zwei Monaten Mehrwortäußerungen wie (1) in Abb. 4. Bereits nach acht KM gelingen ihm Konstruktionen wie (2) und (3). Nach 15 KM produziert Faruk auch Nebensätze mit Verbendstellung wie in (4). Für den Erwerb der Satzstruktur ist im frühen Zweitspracherwerb kein Einfluss aus der jeweiligen L1 feststellbar (Thoma/Tracy 2006, Rothweiler 2016).


Der Erwerb der Satzstruktur für SuS mit spätem Kontaktbeginn wie CLAUDIU und KARIM wurde inzwischen ansatzweise erforscht (u.a. Czinglar 2014, Dimroth 2008, Haberzettl 2005, Sopata 2009). Exemplarisch seien hier Äußerungen einer neunjährigen Schülerin mit Urdu als L1 und Deutsch als L2 nach nur acht KM in LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011) gezeigt. Sie produziert bereits Hauptsätze mit Verbzweitstellung (5 in Abb. 5) und Nebensätze mit (noch) abweichender Verbzweitstellung (6).2


Haberzettl (2005), Dimroth (2008) und Czinglar (2014) belegen Unterschiede zwischen Kindern mit DaZ im Alter von acht und vierzehn Jahren im Erwerb der Verbstellung, die die Differenzierung zwischen frühem und spätem L2-Erwerb stützen und eine Grenze um das zehnte Lebensjahr vermuten lassen.

Morphologie: Die Flexion in der Nominalphrase

In sprachlichen Bereichen, die sich durch Ausnahmen auszeichnen und für die – im Unterschied zu den grundlegenden syntaktischen Strukturen – kaum generalisierende Regeln gebildet werden können, verläuft der frühe L2-Erwerb nach bisherigem Forschungsstand nicht so problemlos wie beim Erwerb der basalen Satzbaumuster. Als Ursachen für die Variation in den Entwicklungsverläufen von Zweitsprachlernern werden z.B. unterschiedliche Erwerbsgelegenheiten diskutiert (Grimm/Schulz 2012). Es ist demnach zu berücksichtigen, „dass der Erwerb sprachlicher Phänomene eine unterschiedlich lange Kontaktdauer oder auch ein unterschiedliches Alter bei Erwerbsbeginn voraussetzen kann.“ (Grimm/Schulz 2012: 213)

Die Abweichung vom L1-Erwerb zeigt sich in mehreren Studien im Hinblick auf die Nominalphrase und Nominalmorphologie (Rothweiler 2016) (s. hierzu Kap. 2.1). „Viele Kinder [konzentrieren] sich im Erwerb des Artikelsystems erst einmal auf das Kasussystem […] und [ignorieren] das Genussystem vorübergehend […].“ (Ruberg/Rothweiler 2012: 133) So zeigen Schönenberger et al. (2012) anhand von Spontansprachdaten, dass für drei von vier Kindern mit frühem Zweitspracherwerb (wie EBRU) die Auslassung von Artikeln auch nach 30 KM noch bei über 20 % liegt, während im L1-Erwerb Artikelauslassungen nach drei Jahren nur noch in unter 10 % der Fälle auftreten. In einer Elizitierungsstudie wurde die Dativmarkierung an indirekten Objekten mit den ditransitiven Verben geben und schenken untersucht (z.B. Ich gebe dem Schaf die Brille.). Neben dem Schaf konnte das Kind zwei weiteren Fingerpuppen etwas geben, es waren alle drei Genera vertreten. Die exemplarischen Antworten der Kinder zeigen, dass sie Fehler am indirekten Objekt produzierten, indem sie dieses nicht als Dativ markierten. Deutlich wird auch, dass die Kinder Probleme hatten, das korrekte Genus zuzuweisen.

Ich schenke die Maus eine Blume. (Sergej, L 1 Russisch, 30 KM )

Auto geb ich zu Maus. (Patryk, L 1 Polnisch, 20 KM )

(Beispiele aus Schönenberger et al. 2012: 14ff.)

Manche Kinder mit DaZ nutzen Präpositionalphrasen, um das indirekte Objekt zu markieren. Schönenberger et al. (2011) finden diese Strategie überwiegend bei Kindern mit Türkisch als L1, die verschiedene Präpositionen, jedoch überwiegend für, verwenden. Die Unregelmäßigkeit des Genussystems und dessen Einfluss auf den Kasus führen offenbar dazu, dass der frühe L2- vom Erstspracherwerb abweicht.

Sprachverständnis: W-Fragen

Nur wenige Studien beschäftigten sich bisher mit dem Sprachverständnis von Zweitsprachlernern, unseres Wissens nach liegen noch keine Studien zum Hörverständnis von SuS mit DaZ vor (international Vandergrift 2007). Für den Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören ist jedoch die Kenntnis dessen, was SuS tatsächlich verstehen, unabdingbar. Gerade beim Sprachverständnis wirken sich für Knapp (1999) die „verdeckten Sprachschwierigkeiten“ von SuS mit DaZ in besonderem Maße aus. In einer empirischen Studie konnte dies zwar für die W-Fragen nicht belegt werden, jedoch lag das möglicherweise daran, dass die Kinder zu einem großen Teil das Verständnis für einfache W-Fragen3 bereits erworben hatten (lediglich 17 % der Items im Untertest W-Fragen wurden von den 42 Kindern mit DaZ nicht zielsprachlich verstanden). Für die wenigen Kinder, die noch Schwierigkeiten im Verständnis von W-Fragen hatten, zeigte sich eine tendenzielle Überschätzung (Geist 2013).

Im Unterschied zu vielen anderen sprachlichen Phänomenen geht die Produktion von W-Fragen dem Verständnis voraus (Produktion L2: u.a. Tracy/Lemke 2012, Verständnis L2: Schulz et al. 2008). Anhand des Untertests W-Fragen im Verfahren LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011) konnte gezeigt werden, dass Kinder mit frühem L2-Erwerb im Alter von 5;8 die zielsprachliche Interpretation einfacher W-Fragen erworben hatten (Schulz 2013: 331).4 Die Erwerbsstufen in der Interpretation der verschiedenen Fragetypen werden sogar schneller durchlaufen, als dies bei Kindern mit DaE der Fall ist. Derselbe Untertest zeigte im Fall der neunjährigen Schülerin (s. oben), dass sie nach acht KM bereits acht von zehn W-Fragen zielsprachlich interpretiert. Dies betrifft Fragen nach dem Subjekt (a), Akkusativobjekt (b), Dativobjekt (c) und Adjunktfragen (d).

Untersucher (U): Wer schimpft mit dem Hund? – Schülerin (S): Ibo.

U: Wen finden Lise und Ibo im Park? – S: Den Hund.

U: Wem hilft Ibo aus der Tonne? – S: Den Hund.

U: Womit sägt der Bauarbeiter die Äste ab? – S: Mit der … mit das Säge.

Verdeckte Sprachfähigkeiten

Mindestens ebenso ungünstig wie die erwähnten verdeckten Sprachschwierigkeiten sind „verdeckte Sprachfähigkeiten“ (Geist 2013: 228): Lehrkräfte überschätzen SuS mit DaZ nicht nur, sondern sie haben häufig auch die Tendenz, diese zu unterschätzen. So gingen Lehrkräfte bei 30 % ihrer Vorschulkinder, die sie intensiv im Rahmen eines Vorlaufkurses sprachlich förderten, davon aus, dass die Kinder noch keine Nebensätze mit Verbletztstellung äußern konnten. Die gleichen Kinder produzierten jedoch in der Elizitierungsaufgabe in LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011) jeweils mindestens drei solcher Strukturen (Geist 2013). Klein mahnte bereits 2000, in der Beschreibung sprachlicher Fähigkeiten herrsche viel zu oft eine „Rotstift-Perspektive“ (Klein 2000: 540) vor. Diese gilt es im Sinne einer Kompetenzorientierung abzulegen.

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