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ОглавлениеAperire beschloss, die Täuschung erst einmal fortzusetzen, zumindest bis zum nächsten Tag. Rein rechtlich war Kamose nun Königlicher Bauleiter der Baustelle von Pihuni, denn wer sollte es wagen, den Befehl des Königs anzuzweifeln?
Ich las meinem Vater die Formeln vor, die Api zur Berechnung der Statik der Pyramide benutzt hatte. Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben und stellte die meisten Berechnungen im Kopf an. Ich brachte sie zu Papyrus. Als wir fertig waren, begann ich mit der zeichnerischen Umsetzung der neuen Baupläne in einem Winkel von dreieinhalb zu eins. Mit diesem Neigungswinkel sei die Pyramide noch stabil, erläuterte mir mein Vater.
Kamose wich nicht von meiner Seite, während ich die Pläne zeichnete. Er hatte nun die Verantwortung für die Baustelle übernommen. Noch bevor der Mondgott in dieser Nacht den Horizont berührte, war der Bauplan für die neue Pyramide fertig.
Völlig verschwitzt kamen wir am nächsten Morgen in Pihuni an. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf einem Esel geritten: Ein herrliches Vergnügen!
Die Hauptstadt lag inmitten eines Palmenhaines an einem großen Oasensee.
Wie in Mempi bogen sich die Tische der Händler unter der Last der dargebotenen Früchte. Melonen, Zitronen, Granatäpfel und Weintrauben lagen neben wahren Bergen von Zwiebeln, Gurken und Salatköpfen. Die Stände der Bäcker quollen über von Broten aus Weizen und Gerste und von Honigkuchen. Ich sah Affen und Hunde, die als Haustiere verkauft wurden. Fasziniert starrte ich auf die Schmuckgegenstände aus Gold und dem kostbareren Silber, mit Türkisen aus dem Sinai und Lapislazuli aus dem Zweistromland.
Der Duft der Garküchen in den Straßen von Pihuni war überwältigend: Es roch nach Gänsebraten, gegrillten Enten und gekochtem Rindfleisch. An einem Stand nur wenige Schritte entfernt wurde Feigenmus angeboten, an einem anderen Bienenhonig. Welche Köstlichkeiten!
Als Re im Zenit stand, meldeten wir uns bei der Palastwache.
Der Königspalast war ein großer Gebäudekomplex am Rande der Stadt. Durch ein von Türmen flankiertes Tor betraten wir den großen Hof mit den Kriegerhäusern der Palastwache und der Kommandantur. Durch ein zweites Tor gelangten wir in den Palast des Königs, das Haus der Verehrung, wo der Göttliche mit seiner Familie wohnte. Nur wenige Schritte entfernt ragte der Palast des Wesirs auf, das Ministerium für fremdländische Angelegenheiten, flankiert von etlichen Schreiberbüros und einem Archiv.
Durch prachtvolle Gänge wurden mein Vater und ich in einen Wartesaal geführt. Die herrlichen Wandgemälde des Saales zeigten den König beim Opfer vor den Göttern Isis und Osiris, Horus und Maat, Amun und Re. Den neuen Gott Atum konnte ich nirgendwo entdecken. Auf der gegenüberliegenden Wand erkannte ich den König als siegreichen Feldherrn, der über die Feinde von Kemet triumphiert.
Am späten Nachmittag verkündete ein Schreiber: »Seine Göttlichkeit empfängt heute nicht mehr. Kommt morgen wieder.«
Die Wartenden erhoben sich und verließen schweigend den Saal.
Ich ging zum Schreiber hinüber.
»Ihr könnt gehen. Seine Majestät empfängt heute nicht mehr«, wiederholte er.
»Der König erwartet uns. Er hat uns gebeten, heute hier zu erscheinen und ihm die Pläne zu zeigen.«
»Seine Majestät bittet nicht, er befiehlt! Welche Pläne?«
»Der Königliche Bauleiter Kamose soll dem König die neuen Pläne für die Pyramide zeigen und die neuen Berechnungen vorlegen.«
Der Sekretär sah mich erstaunt an, und ich hielt seinem Blick stand. Dann durchsuchte er eine Liste mit angemeldeten Besuchern. »Hier steht: Bauleiter Kamose aus Tis. Wer bist du?«
»Seine Tochter.«
»Du kannst nicht mit hinein. Du musst hier warten.«
Die Sonne war schon lange untergegangen, als mein Vater in das Audienzzimmer geführt wurde.
Ich blieb allein zurück und beobachtete, wie der Schreiber seine Schreibbinsen zusammenpackte und die Schale mit den getrockneten und in Honig eingelegten Zitronenscheiben, von denen er während des Nachmittags immer wieder etwas stibitzt hatte, unter sein Schreibpult schob. Seine täglichen Pflichten als Staatsbeamter schienen erfüllt. Ab und zu warf er mir einen irritierten Blick zu, als hielte ich ihn davon ab, in sein Haus zurückzukehren.
Mein Vater blieb sehr lange fort, und ich wurde immer unruhiger. Was war denn bloß geschehen?
Sobald der Sekretär seinen Platz verließ, schlich ich mich bis zur hohen Tür aus Ebenholz, um daran zu lauschen.
Stille.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Dahinter fand ich einen Gang, der auf ein weiteres Portal mündete. Ich schloss die Türflügel leise hinter mir und huschte den Korridor entlang. Beunruhigt sah ich mich immer wieder um.
Vor dem nächsten Portal machte ich Halt und horchte.
Lautlos schob ich einen Türflügel auf und blickte durch den Spalt. Der Raum, das Schreibzimmer der Sekretäre des Königs, war verlassen. An der gegenüberliegenden Seite lag ein durch einen Leinenvorhang abgeteilter zweiter Raum. Der Audienzsaal!
»Die Berechnungen von Kamose sind völliger Unsinn!«, brachte Nefermaat gerade vor.
Durch das dünne Leinen konnte ich die Szene im Audienzsaal beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Prinz Nefermaat und mein Vater saßen in Schreiberhaltung vor dem König. Dieser schien verärgert darüber, dass der Wesir und sein Bauleiter sich nicht über den Neigungswinkel seines ehrgeizigen Bauprojektes einigen konnten.
»Schluss jetzt, Nefermaat! Du hast bisher kein vernünftiges Argument vorgebracht, das für den einen oder gegen den anderen Winkel spricht. Vergiss für einen Augenblick deine Stellung bei Hof und lass dich auf eine sachliche Diskussion mit Kamose ein!«, forderte der König.
»Jedes meiner Argumente ist sachlich!«, knirschte der Wesir. »Die Pyramide wird mit dem Winkel vier zu eins nicht einstürzen!«
»Das stimmt nicht«, sagte mein Vater ruhig. »Sie wird einstürzen.«
»Bei Imhotep«, fluchte der König. »Das kann doch nicht wahr sein! Muss ich mich denn wirklich mit euch beiden herumärgern?«
Als er sich erhob, sank mein Vater auf den Boden und verneigte sich tief vor dem Herrscher.
»Ich befehle euch, gut zusammenzuarbeiten. Das heißt für mich, nur um spätere Interpretationen auszuschließen, mein Grabmal in den vorgegebenen erweiterten Maßen mit dem größtmöglichen sicheren Neigungswinkel zu errichten. Die Audienz ist beendet!«
Am selben Abend – mein Vater und ich waren gerade erst aus Pihuni zurückgekehrt – erwartete uns Aperire im Zelt des Bauleiters. Neben ihm saß ein Priester des Re in Schreiberposition. Beide erhoben sich, als mein Vater das Zelt betrat.
»Kamose, das ist Hemset, der neue Bauleiter aus dem Sonnentempel in Iunu«, stellte Aperire den Priester vor.
Mein Vater stand wie zur Statue erstarrt, bleich und zittrig. Sein Traum zerplatzte. Er presste die Baupläne zusammen, bis der Papyrus brach.
»Hemset, das ist Kamose, den Seine Majestät vor zwei Tagen zum Königlichen Bauleiter ernannt hat«, fuhr Aperire unerbittlich fort.
Hemset kam auf meinen Vater zu und warf sich ihm zu Füßen. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Kamose.«
Offensichtlich hatte mein Vater mehr Widerstand vom Sonnenpriester erwartet.
Warum klärte Aperire die Situation nicht auf?
»Bitte erhebe dich, Hemset!«, bat ihn mein Vater. »Du musst nicht vor mir knien. Ich bin erfreut, dich kennen zu lernen. Die hierarchische Veränderung muss dich bei deiner Ankunft überrascht haben.«
»Das hat sie, ehrlich gesagt. Aber ein Befehl des Königs …« Hemset ließ den Satz unvollendet.
»Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit. Es wäre schön, wenn du schon morgen deine Arbeit als stellvertretender Bauleiter aufnehmen könntest, Hemset. Wir erwarten morgen den Wesir hier auf der Baustelle. Prinz Nefermaat und ich werden die durch den König überarbeiteten Baupläne berechnen, bevor er zur Baustelle des Hathor-Tempels nach Yunet weiterreist.«
Hemset verneigte sich und verließ zusammen mit Aperire das Zelt.
»Das kann nicht lange gut gehen!«, flüsterte Kamose, als wir allein waren.
»Wofür bist du denn jetzt eigentlich verantwortlich?«, fragte ich meinen Vater, als wir am nächsten Morgen Apis Baupläne und Aufzeichnungen durchsahen.
»Für alles: die gesamte Baustelle«, antwortete mein Vater und sah sich die Pläne an. »Für die Versorgung der Arbeiter mit Nahrung und Kleidung, für die Verwaltung der Arbeiterhütten, für die Lagerhaltung der Lebensmittel wie Gemüse, Getreide und Fleisch, für den Bau der Transportwege für die Steinschlitten, für die Einteilung der Arbeiter und die Abstimmung der Arbeiten an der Baustelle. Und für die Menschen, die hier arbeiten: die Steinbrucharbeiter, die Steinschlepper, die Steinmetze, die Bauleiter, die Priester, die Lagerpolizei, die Bäcker und Schmiede und Schlachter und das Planungsbüro sowie die Verwalter. Außerdem bin ich zuständig für die Planung und Ausführung der Pyramide von den Fundamenten bis zur Pyramidenspitze sowie den Neigungswinkel. Ich bin verantwortlich dafür, dass alles reibungslos funktioniert, niemand Hunger leidet, niemandem ein Stein auf den Fuß fällt, niemand etwas stiehlt und die Pyramide rechtzeitig fertig wird und nicht einstürzt.«
Die letzten Worte hingen noch in der Luft, als Prinz Nefermaat das Zelt betrat.
Mein Vater und ich erhoben uns und warfen uns vor ihm zu Boden.
»Die Pyramide wird nicht einstürzen«, beharrte der Prinz. »Ich bin es leid, mit dir diese endlose Diskussion zu führen, Kamose!« Dann winkte er lässig. »Du darfst dich erheben.«
Ich nahm an, dass ich nicht ausdrücklich angesprochen werden würde, und stand ebenfalls auf.
»Der Befehl des Lebendigen Gottes war eindeutig, Kamose. Ich bin gekommen, um mit dir deine Berechnungen zur Statik der Pyramide durchzugehen. Ich hoffe, dass sich die weite Anreise gelohnt hat!«, sagte Nefermaat in ungeduldigem Tonfall.
»Die Pläne sind hier drüben, mein Prinz.«
Hinter dem Wesir war sein Gefolge aus Architekten und Bauzeichnern in das Zelt gekommen. Zwei Diener trugen einen Klappstuhl hinter dem Prinzen her, auf dem er sich in einiger Entfernung vom Zeichentisch niederließ.
Und so kniete mein Vater vor ihm und breitete den Plan aus, sodass der Wesir seine Berechnungen lesen konnte. Die Bauleiter sahen dem Prinzen über die Schulter und folgten aufmerksam den Erläuterungen: Kamose sprach von achthunderttausend Kubikellen Gestein und von über einer Million Tonnen Gewicht, das auf dem karstigen Wüstenboden lastete.
Hin und wieder zogen sich Augenbrauen zusammen, zuckten Mundwinkel, dann und wann brach ein leises Lächeln über die Unbeweglichkeit des Prinzen hervor. Im Grunde verstanden die Architekten des Wesirs die Bedenken meines Vaters. Aber würden sie sein Anliegen auch unterstützen? Prinz Nefermaat blieb skeptisch. Er tat so, als ob er schon Erfahrungen mit einem Dutzend Pyramiden gesammelt hätte. Dabei war dies das erste Königsgrab seit Djosers Stufenpyramide vor fast einem Jahrhundert.
Nefermaat wandte sich an seinen Beraterstab: »Was meint ihr dazu?«
Keiner der Bauleiter wagte das erste Wort, bis Nefermaat sie ansprach: »Asha?«
»Mein Prinz, ich glaube, dass die Berechnungen von Bauleiter Kamose unbedingt berücksichtigt werden sollten.«
»Was willst du damit sagen?«, regte Nefermaat sich auf.
»Mein Prinz, ich glaube, dass Kamoses Berechnungen im Großen und Ganzen richtig sind.«
»Drück dich nicht um eine konkrete Antwort!«
»Ich kann Kamoses Vorsicht nur unterstützen. Bei einem steileren Neigungswinkel besteht durchaus die Gefahr, dass sich die Deckplatten der Pyramidenhülle lösen könnten ...«
»Könnten?«, lauerte der Prinz.
»... lösen werden«, korrigierte sich Asha.
»Meketre?«
»Ich stimme der Einschätzung meines geschätzten Kollegen Asha zu, mein Prinz. Die Berechnungen von Kamose sind korrekt. Er hat alle maßgeblichen Formeln benutzt und sich nicht verrechnet.«
Nefermaats Gesicht verfärbte sich wie der Sand der westlichen Wüste bei Sonnenuntergang. »Horemakhet?«
»Vergib mir, mein Prinz, aber Asha und Meketre haben Recht. Die Pyramide des Kamose wird nicht einstürzen.«
»Und glaubst du, dass meine Pyramide einstürzen wird?«
»Mit deiner Erlaubnis, mein Prinz: Ich glaube, dass bei dem von dir bevorzugten Neigungswinkel die Gefahr besteht, dass nicht nur die Deckplatten weggesprengt werden, sondern ein Teil der Pyramide selbst weggleiten wird. Kamose hat die wirkenden Kräfte im Pyramidenkern auf dieser Skizze sehr deutlich gezeigt. Bei einem Neigungswinkel von vier zu eins und der Qualität der behauenen Steine, wie ich sie mir vorhin in den Steinbrüchen angesehen habe, befürchte ich, dass die Pyramide wie Hefeteig in sich zusammenfallen könnte. Vielleicht bleibt nur die zentrale Stufenpyramide stehen.«
Prinz Nefermaat war sichtlich enttäuscht, dass keiner seiner hoch bezahlten Berater ihn unterstützte. Aber er beugte sich ihrer Meinung, da er bei einer tatsächlichen Gefährdung des Grabmales seines göttlichen Bruders seine Karriere verwirkt hätte. »Ich entscheide hiermit, dass die äußere Pyramide mit einem Winkel von dreieinhalb zu eins errichtet werden soll, wie der Königliche Bauleiter Kamose vorgeschlagen hatte. Der in dieser Höhe entstehende Knick wird durch Abstützmauern und ein neues, breiteres Fundament aufgefangen.«
Als die Bauexperten das Zelt verlassen hatten, wandte sich Nefermaat erneut an meinen Vater, der sich mittlerweile erhoben hatte. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Kamose, wenn du dir den Bruder des Königs und den Wesir des Reiches zum Feind machst.«
»Es liegt mir fern, dein Feind zu sein, mein Prinz. Mein Bestreben ist es, den Befehl des Königs auszuführen und die Pyramide stabil zu errichten, damit der Lebendige Gott nach tausend Jahren glücklicher Herrschaft seine Jenseitsfahrt antreten kann.«
Meinen Vater das Lesen und das Schreiben zu lehren war wie einem Fisch zu erklären, dass er sich auf dem trockenen Land wohler fühlen würde. Jeden Tag versuchte ich, ihm die Bildzeichen zu erläutern. Das Lesen ging nach einigen Wochen schon recht gut, aber mit dem Schreiben stellte er sich schlimmer an als ein kleines Kind. Mein Vater entschuldigte sich damit, dass er bereits auf die dreißig Jahre zugehe. Ein alter Mann wie er müsse nicht mehr schreiben lernen.
Nächtelang lasen wir gemeinsam die Baubeschreibungen des Imhotep, die Aperire aus der Bibliothek von Pihuni entliehen hatte. Mein Vater las sehr langsam und konzentriert, und ich hatte jeden Abschnitt bereits zwei Mal überflogen und mir eingeprägt, bis er so weit gelesen hatte, dass ich den alten Papyrus weiterrollen konnte.
Wenn er keine Lust mehr hatte, stöhnte er, rieb sich die Augen und gähnte. Das sollte das Zeichen für mich sein, ins Bett zu gehen. Manchmal zwang ich ihn zu ein oder zwei weiteren Rollenabschnitten, und dann belohnte ich ihn für seinen Fleiß, indem ich klaglos in mein Bett kroch und mir die Decke über den Kopf zog. Das war besser so, denn ich wusste, was geschah, sobald er glaubte, dass ich schlief.
Fast jede Nacht schlich sich Satamun in das Zelt, das wir jetzt bewohnten. Vom Nachbarbett klangen tiefe Atemzüge und unterdrücktes Stöhnen zu mir herüber, obwohl Satamun sich bemühte, leise zu sein, um mich nicht zu wecken. Zwei heiße Körper rieben sich aneinander und schenkten sich gegenseitig Lust. Ab und zu hörte das leise Knarren der gespannten Seile am Bettrahmen auf, dann begann es von neuem in einem anderen Rhythmus. In manchen Nächten fand ich erst lange nach Mitternacht meinen Schlaf.
Am Ende der Flut, zu Beginn seines sechsten Regierungsjahres, besuchte der Lebendige Gott erneut die Baustelle seines Grabmales, bevor er seine Königsbarke zu einer Horusfahrt in das Untere Land bestieg. Die Pyramide hatte ein Drittel der endgültigen Höhe erreicht, und der Göttliche war mit dem Baufortschritt zufrieden.
Als er von der obersten Plattform zurückkam, betrat der König mit seinen Söhnen Rahotep, sechs Jahre alt, und Khufu, fünf Jahre alt, das Zelt meines Vaters und ließ sich auf einem Thronsessel nieder, um sich die Bauzeichnungen zeigen zu lassen. Prinz Rahotep war ruhig und besonnen, Prinz Khufu ein wilder, ungestümer Junge, der während der Besprechung im Bauleiterzelt nicht einen Moment still saß.
Mein Vater kniete mit gesenktem Gesicht vor dem Herrscher und dem Wesir und zeigte ihnen die Pläne. Der König schlug mit dem Krummstab, dem Symbol seiner Macht über die Beiden Länder, gegen das vergoldete Holz seines Reisethrones. »Die Pläne gefallen mir nicht, Nefermaat.«
»Was gefällt Euch nicht, Majestät?«, fragte der Wesir bestürzt.
»Die Form: Die Pyramide ist gar keine geometrische Pyramide, sondern eine riesige Stufenpyramide wie die des Djoser in Sokar, nur eben mit acht Stufen.«
Ich saß still am Zeichentisch und beobachtete Prinz Khufu, der von seinem Stuhl aufgesprungen war, um das Innere des Zeltes zu erkunden.
»So hat das Projektbüro von Anfang an geplant«, wandte Nefermaat ein.
»Das weiß ich selbst! Den ursprünglichen Plan habe ich ja eigenhändig entworfen. Aber es gefällt mir jetzt nicht mehr: Ich will eine wirkliche Pyramide bauen.«
»Ohne Stufen?«, fragte Kamose.
»Ohne Stufen. Ich will, dass die Steinlagen aufgefüllt werden und die fertige Pyramide eine glatte Oberfläche hat. Wie auf den Bauzeichnungen.«
»Die Kalksteinplatten werden bei dem jetzigen Neigungswinkel an der Außenseite der Pyramide nicht halten …«, wandte mein Vater ein.
»Das ist dein Problem«, sagte der König.
»… und die Kosten für dieses Bauprojekt werden ins Unermessliche steigen«, fügte Kamose hinzu.
»Das ist mein Problem«, erwiderte der Herrscher. »Willst du diese Pyramide nun bauen oder nicht?«
Prinz Rahotep saß still auf seinem Stuhl und sah seinem Bruder Khufu zu, der zu mir an den Zeichentisch getreten war.
»Wenn Eure Majestät die Änderung der Baupläne befiehlt, werde ich diese umsetzen«, versprach mein Vater. »Aber ich kann keine Garantie übernehmen, dass die Verkleidungsplatten an der Außenseite halten werden. Dafür ist der Bau der Pyramide nicht konzipiert.«
»Haben wir noch immer das Problem des Neigungswinkels?«, fragte der Lebendige Gott ungeduldig. »Ich dachte, darüber hättet ihr euch endlich verständigt! Zumindest habe ich das dem Baubericht von Prinz Nefermaat entnommen.« Er wandte sich an seinen Bruder. »Ihr habt euch doch geeinigt?«
»Euer Majestät, für mich stellt sich hier ein neues Problem«, führte mein Vater an. »Neigungswinkel hin oder her, aber die jetzige Form der Pyramide mit ihren geplanten acht Stufen hat nicht die Oberfläche, einen solchen Mantel aus Decksteinen aufzunehmen. Die Platten könnten abrutschen, wenn sie nicht sicher verankert werden.«
»Du kannst von mir haben, was du willst, um dieses Projekt zu vollenden.«
»Für die Decksteine benötige ich glatten und harten Stein, am besten aus dem Steinbruchgebiet von Tura stromabwärts von Mempi«, verlangte Kamose.
»Du wirst sie bekommen.«
»Das Grabmal lässt sich nicht in nur fünf Jahren vollenden, Euer Majestät. Weder die große Pyramide noch die kleine Kultpyramide, der Taltempel mit Aufweg, der Totentempel oder das Stelenheiligtum. Ich benötige mehr Zeit.«
»Zeit ist das, was mir nicht unbegrenzt zur Verfügung steht«, entgegnete der König.
»Euer Grabmal, Euer Majestät, lässt sich in dieser Form nicht in weiteren fünf Jahren vollenden. Nicht die Pyramide, nicht die kleine Kultpyramide, nicht der Taltempel mit Aufweg, nicht der Totentempel, nicht das Stelenheiligtum. Völlig unmöglich.«
»Hast du nicht genug Arbeiter?« fragte der Wesir.
»Ich habe jetzt schon zu viele. Die oberste Plattform der Pyramide wird mit jeder Steinschicht kleiner, die Zahl der oben einsetzbaren Arbeiter wird von Monat zu Monat geringer, die Steinbrüche sind bald erschöpft. Ich kann nicht mehr Arbeiter einsetzen und ich habe nicht die Möglichkeit, so nahe an der Wüste und so fern von der Hauptstadt noch mehr Menschen zu versorgen. Völlig unmöglich.«
»Wie viele Menschen arbeiten jetzt auf der Baustelle?« wollte der Herrscher wissen.
»Während der Flut waren es fast fünfzigtausend. Ich schätze, dass es diese Woche noch fünfundzwanzigtausend sind. In den nächsten drei Wochen werden weitere zehntausend Saisonarbeiter die Baustelle verlassen.«
Prinz Khufu war zu seinem Bruder Rahotep zurückgekehrt und verfolgte aufmerksam die Diskussion seines Vaters und seines Onkels mit meinem Vater.
»Fünfzehntausend«, überlegte Netjer Seneferu. »Wenn Kamose nicht alle seine Arbeiter benötigt, dann können wir bereits in diesem Jahr mit der Grundsteinlegung des Atum-Tempels in Mempi beginnen.«
»Ich werde den Königlichen Bauleiter Rechmire mit den Vorbereitungen für die Grundsteinlegung beauftragen«, erklärte Prinz Nefermaat. »Er soll sich mit Kamose wegen der Überleitung der Arbeiter verständigen.«
»Ich befehle, dass du neue Baupläne für die Änderung der Pyramide zeichnest und mir zur Genehmigung vorlegst. Die achtstufige Pyramide soll vollendet und die Stufen aufgefüllt werden. Und ich erwarte, dass ihr euch endgültig über den Neigungswinkel einigt.«
Das Leben auf der Baustelle veränderte sich im Lauf der nächsten Monate kaum. Die Pyramide wuchs Steinlage um Steinlage in die Höhe, veränderte langsam ihre Form von einem breiten Sockel zu einer Stufenpyramide. Die Steinbrucharbeiter brachen jeden Tag die gleiche Zahl von Steinen, die registriert, geglättet und durch die Steinschlepper die Rampe hinaufgezogen wurden.
Mit neun Jahren war ich mehr oder weniger offiziell die Gehilfin des Königlichen Bauleiters Kamose. Irgendwann stellte ich wenig überrascht fest, dass ich nicht glücklich war. Wieso auch? Ich sehnte mich nach einem anderen Leben.
Ich hatte alles, was ich mir jemals gewünscht hatte: ein Zelt aus weißem Leinen, ein Bett zum Schlafen, ausreichend zu essen und zu trinken. Einen verliebten Vater. Aber da war noch etwas, das mir fehlte: eine Aufgabe. Ich wollte Priesterin werden.
Wenige Wochen nach dem Besuch des Herrschers kam der Königliche Bauleiter Rechmire aus Mempi, um sich mit meinem Vater über die Verlegung von mehreren tausend qualifizierten Steinmetzen und Künstlern von Pihuni nach Mempi zu beraten.
Rechmire war ein sehr höflicher und gebildeter Mann, der wie Aperire in Iunu studiert hatte. Er erzählte mir von seinem Studium, als wir gemeinsam auf meinen Vater warteten, der an jenem Tag zu einer Audienz bei Prinz Nefermaat in die Residenz gerufen worden war. Rechmire blieb vier Tage auf der Baustelle und besichtigte die Steinbrüche, die Schleppstraßen sowie die Baurampe und staunte über die gute Organisation und Koordination der Arbeiter in den verschiedenen Arbeitsbereichen.
»Die Arbeiter haben einen erstaunlichen Willen zur Arbeit. Ein solches Durchhaltevermögen habe ich auf keiner anderen Baustelle gesehen. Sie arbeiten tatsächlich bis Sonnenuntergang«, sagte Rechmire beim gemeinsamen Abendessen im Bauleiterzelt. Wir saßen mit unseren Schüsseln mit Gänsebraten und Brot am Zeichentisch. »Eine Pyramidenbaustelle ist eben etwas anderes als die Errichtung eines Tempels, auch wenn er für Atum gebaut wird.«
»Warum?« fragte ich mit vollem Mund.
»Die Arbeiter sind williger, weil sie genau wissen, dass sie für ihr eigenes Nachleben Verdienste erwerben, wenn sie das Haus der Millionen Jahre des Königs bauen. Außerdem ist die Bezahlung besser.«
»Für welchen Gott will der Netjer in Mempi einen Tempel bauen?«
»Für Atum-Re«, antwortete Rechmire. Er genoss sichtlich das hervorragende Essen auf unserer Baustelle. Die Gans hatte Satamun für Kamose und seinen Gast zubereitet.
»Nie gehört«, gestand ich, obwohl ich auf der Baustelle mit Priestern verschiedenster Gottheiten zu tun hatte. »Ist das ein neuer Gott?«
»Atum verbindet sich mit dem Sonnengott Re zum Schöpfergott Atum-Re. Er steht an der Spitze der Großen Neunheit von Iunu. Netjer Seneferu machte Atum-Re zum höchsten aller Götter. Es ist die Sonne selbst.« Rechmire schien als Diener des Re nicht voll hinter der Maßnahme des Königs zu stehen.
»Welche Form hat Atum-Re?« fragte ich, als ich ein Stück Fladenbrot in die fettige Sauce der Gans tunkte.
»Dargestellt wird er als Mensch mit Doppelkrone, Herr der Beiden Länder, mit Was-Zepter und Ankh-Zeichen, manchmal auch in Schlangengestalt.«
»Das klingt ein bisschen so wie ein persönlicher Personenkult des Netjer.« Ich steckte mir das Stück Brot in den Mund.
Mein Vater sah mich irritiert an. Rechmire ignorierte meine Tischmanieren und wies mich zurecht: »Bei Re, wie kannst du so etwas sagen! Netjer ist selbst Gott, er hat es gar nicht nötig, seine Person in den Vordergrund zu stellen. Er ist ganz Gott und eins im Wesen mit Atum-Re.
Netjer Seneferu hat einen neuen Titel angenommen, wenn dieser auch nicht Bestandteil seines Namens geworden ist: er nennt sich jetzt Sohn des Atum-Re. Er machte damit Atum-Re zum heimlichen Reichsgott und erhob ihn über alle anderen Götter.«
»Was sagen die anderen Götter dazu, dass der König nur den einen bevorzugt?« wollte ich wissen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Kamose in seinem Essen herumstocherte. Ihm war die Unterhaltung zwischen Rechmire und mir offenbar unangenehm.
»Die Götter schwiegen bisher, die Hohenpriester nicht. Sie sind wütend auf den Lebendigen Gott und mit seiner Bevorzugung des Atum-Re nicht einverstanden. Einer nach dem anderen waren die Hohenpriester im Verlauf des vergangenen Jahres zur Audienz beim König, aber er ließ sich nicht umstimmen: nicht vom Hohenpriester des Osiris von Abodu, nicht vom Hohenpriester des Ptah aus Mempi. Von niemandem.«
»Was können die Hohenpriester denn dagegen tun?«
Rechmire nahm einen Schluck Bier. »Nichts. Ihre Wut bezähmen. Der Lebendige Gott kann tun, was ihm beliebt.«
Mein Vater brachte die Diskussion in eine andere Richtung.
»Wirst du morgen eine Audienz beim Göttlichen haben, Rechmire?«
»Ja, Kamose, ich werde morgen Nachmittag die neuen Pläne für den Atum-Tempel zur Genehmigung vorlegen. Dann werde ich auch berichten, dass wir uns auf dreitausend ausgebildete Arbeiter für die Baustelle in Mempi geeinigt haben. Und ich werde Seine Majestät über die gute Zusammenarbeit zwischen den königlichen Baustellen in Pihuni und Mempi berichten.«
Mein Vater schien zufrieden zu sein.
»Wie ist die Zusammenarbeit mit Prinz Nefermaat?« fragte er, ohne Rechmire anzusehen.
»Der Wesir Beider Länder ist sehr interessiert daran, dass die Grundsteinlegung noch dieses Jahr erfolgt«, sagte Rechmire vorsichtig. »Der Göttliche setzt ihn wohl sehr unter Druck. Der König will den Tempel innerhalb von fünf Jahren fertig stellen. Ein ehrgeiziger Wunsch. Prinz Nefermaat unterstützt die Baustelle durch viele Maßnahmen, sei es durch gut ausgebildete Arbeiter oder eine großzügige Finanzierung der Baumaßnahmen. Er hat mir für die Reliefs an den Außenpylonen die besten Reliefkünstler des Oberen Landes versprochen, die zur Zeit auf der Baustelle des Hathor-Tempels in Yunet eingesetzt sind. Ich habe deren Arbeiten gesehen, die kurz vor dem Abschluss stehen. Ich befürchte keine Probleme.«
»Aperire wird morgen nach Iunu zurückkehren. Entschuldige, ich vergaß, dir das zu erzählen. Es war sehr spät gestern Abend. Er hat mich um seinen Abschied gebeten«, erzählte mir mein Vater eines Tages überraschend.
Ich war betroffen. Aperire war in den sechs Jahren unseres Aufenthaltes ein guter Freund geworden.
Am nächsten Morgen suchte ich Aperire in seinem Zelt. Ich trat ein, als er gerade gehen wollte.
»Nefrit! Zu dir wollte ich gerade, um mich zu verabschieden. Ich kehre zurück in den Tempel.«
»Mein Vater hat es mir gestern Abend erzählt. Warum willst du fortgehen?«
»Meine Zeit auf der Baustelle ist vorüber, Nefrit. Ich hatte mich für sieben Jahre verpflichtet, und ich werde jetzt als Gottesdiener in den Tempel nach Iunu zurückkehren.«
»Aber warum?«
»Der Tempel ist meine Heimat. Ich habe mich schon vor Jahren entschlossen, Priester zu werden.«
»Aber du warst sieben Jahre hier auf der Baustelle!«
»Das war ein Auftrag des Hohepriesters auf Befehl des Königs Huni. Ich habe durch mein Studium an der Tempelschule von Iunu Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die für die Baustelle nützlich waren. Und so beschloss Seine Heiligkeit, der Große Schauende des Re, mich hierher zu entsenden.«
»Was hast du studiert?«
»Tempelriten, Architektur und Imhoteps Regeln, nach denen die heiligen Bilder in Reliefs oder Fresken auf die Wände gemalt werden.«
»Wie ist es im Tempel?«
»Anders als hier«, sagte er leise.
Seine Nachdenklichkeit und seine Traurigkeit übersah ich, weil er sagte, was ich hören wollte: Im Tempel war es anders als hier. Seit Monaten war ich unzufrieden: Alles war besser, als weiter auf der Baustelle zu leben, auch wenn ich mit neun Jahren mehr oder weniger offiziell die Gehilfin meines Vaters, des Königlichen Bauleiters Kamose war.
»Was ist anders?«, fragte ich.
»Wir Priester widmen uns im Tempel dem Wohlergehen der Götter. Der König versorgt uns dafür mit Nahrung, Kleidung, Gold und einer schönen Villa in Iunu.«
»Was muss ich tun, um Priesterin zu werden?«
Aperire lachte. »Du musst in die Tempelschule aufgenommen werden. Die Schule lehrt dich, was du als Priesterin wissen musst.«
»Wie lange dauert die Ausbildung?«
»Sieben Jahre. Zuerst wirst du Lesen und Schreiben lernen, Mathematik und Geometrie, Astronomie und Mythologie. Nach einem Jahr wirst du Tempeldienerin sein, nach einem weiteren Jahr Priesterin Ersten Grades. Nach der Priesterweihe kannst du deine Ausbildung fortsetzen. Du kannst dich zum Erzieher ausbilden lassen oder zum Architekten. Ein anderer Studiengang macht dich zum Offizier des Heeres.«
»Ich will kein General werden!«, scherzte ich. »Aber Priesterin könnte ich doch werden. Wo ist die nächstgelegene Tempelschule?«
»In Abodu wird für den Osiris- und Isis-Kult ausgebildet, in Mempi kannst du Priesterin des Ptah werden.«
»Wann kann ich in die Tempelschule eintreten?«
»Wenn du zwölf Jahre alt bist.«
»Das sind ja noch zwei Jahre!«, sagte ich bestürzt.
»Hast du es so eilig, von hier wegzukommen?«
»Ich kann es kaum noch erwarten! Liegt Mempi weit entfernt von Iunu?«
»Es ist nicht weit. Wir könnten uns besuchen.«
Der Abschied von Aperire fiel mir schwer. Ich begleitete ihn zu seinem Schiff und sah zu, wie es ablegte. Ich lief neben der Barke her und winkte ihm zu. Er stand am Bug, sah zu mir herüber und winkte zurück. Doch als die Pyramide hinter einer Biegung des Hapi verschwunden war, richtete er seinen Blick nach vorn, der Zukunft entgegen. Und ich fragte mich: Wovor fürchtete er sich?
Zwei Tage später schrieb ich heimlich einen Brief an die Verwaltung des Ptah-Tempels in Mempi und bewarb mich um die Aufnahme an der Tempelschule.
Dann verschloss ich den Brief und drückte das Siegel des Königlichen Bauleiters in das weiche Honigwachs. Ich ging hinunter zum Hafen und suchte eine Barke, die stromabwärts segeln würde.
»Bitte gib diesen Brief im Tempel des Ptah in Mempi ab!«, bat ich einen Kapitän.
Jeden Morgen ging ich zum Hafen hinunter, um zu sehen, ob ein Schiff aus Mempi mit einem Brief für mich angekommen war. Nach vier Monden traf die ersehnte Antwort ein.
Ungeduldig riss ich das Siegel ab und entfaltete den Papyrus:
»Sethi, Priester des Ptah, an Nefrit von Tis, Tochter des Kamose. Ich bedaure sehr, dass der Tempel dich erst im zehnten Regierungsjahr des Königs Seneferu ausbilden kann. Das liegt nicht an deinen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern daran, dass der Tempel jedes Jahr nur hundertzwanzig Schüler aufnehmen kann. Es liegen fast vierhundert Anmeldungen vor, die zuvor berücksichtigt werden müssen. Ich habe dich für das zehnte Jahr in die Liste der Auszubildenden aufgenommen. Gruß, Sethi, Priester des Ptah.«
Ich saß am Ufer des Hapi und konnte mich nicht rühren. Noch vier Jahre! Zwei Jahre waren mir schon wie die Ewigkeit vorgekommen, aber doppelt so lange warten? Ich war verzweifelt und brach in Tränen aus.
Mein Vater bemerkte meine roten Augen nicht, als ich nach Hause kam. Den Brief versteckte ich monatelang unter meinem Bett.
»In den Tempel? Was willst du dort, Nefrit?«, fragte mein Vater mich fast zwei Jahre später beim gemeinsamen Abendessen zwischen Bauplänen, Tintenfässern und Winkelmessern.
»Ich will Priesterin werden«, antwortete ich und reichte ihm eine Papyrusrolle, die er während des Essens betrachtete. In diesem Jahr hatten wir so viele Steinbrucharbeiter, dass nicht alle gleichzeitig in den Steinbrüchen arbeiten konnten. Einige mussten zeitweise Steinschlitten ziehen.
»Das würde bedeuten, dass du in die Tempelschule gehen wirst«, vermutete er ohne aufzusehen. Die Organisation der Steinbrüche schien interessanter zu sein als meine Zukunft.
»In Mempi gibt es eine sehr gute Tempelschule. Ich will dort lernen.«
»Mhm.«
»Vater, hörst du mir überhaupt zu?«
Endlich blickte er auf. »Nefrit, du kannst bereits lesen und schreiben, du kannst exakte Bauzeichnungen anfertigen und die Stabilität einer Pyramide berechnen. Ich beteilige dich an organisatorischen Entscheidungen auf der Baustelle, und du nimmst mittlerweile an den Besprechungen mit den verantwortlichen Bauleitern teil. Was, bei Imhotep, willst du in der Tempelschule?«
»Ich will die Tempelriten erlernen, Mathematik und Philosophie, Kunst und Geschichte. Ich will Sistrum und Harfe spielen lernen und Tanzen. Ja, ich würde gern Tanzen lernen.«
»Das brauchst du alles auf der Baustelle nicht, Nefrit.«
»Ich will nicht mehr auf der Baustelle leben, Vater. Dies ist nicht mein Leben. Ich will ein anderes Leben leben. Mein eigenes Leben.«
»Dein eigenes Leben?«
»Vater, ich bin fast zwölf Jahre alt und will nicht mehr der Schatten des Kamose sein. Ich bin Nefrit.«
»Die Ausbildung kostet Gold.«
»Ich weiß, wie viel du verdienst, und ich weiß, wie viel wir gespart haben. Der Königliche Bauleiter Kamose zahlt seiner Gehilfin ein bescheidenes Gehalt von einem halben Kupfer-Deben.«
»Ich kann dich nicht allein nach Mempi lassen.«
»Das ist kein Argument«, begehrte ich auf.
»Es ist das beste, das ich habe: Ich verbiete es dir!«
In jener Nacht schlief ich nicht in meinem Bett. Nach unserem Streit hatte ich das Zelt verlassen und saß stundenlang am Ufer des Hapi.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Satamun sich still neben mich setzte. Ich wartete eine Weile, was sie mir sagen würde, doch sie schwieg.
»Schickt dich mein Vater, um mich zur Vernunft zu bringen?«
»Er hat mir von eurer Auseinandersetzung erzählt, und ich habe selbst entschieden zu kommen. Er ist wütend und enttäuscht.«
»Er ist wütend und enttäuscht?«, fragte ich ungläubig.
»Ich kann dich verstehen, Nefrit. Ich würde auch gern fortgehen«, gestand sie.
Ich versuchte, im Mondlicht ihr Gesicht zu sehen. »Warum tust du es nicht?«
»Weil dein Vater mich hier braucht. Und dich braucht er noch mehr: Er kann und will nicht auf dich verzichten. Du bist seine rechte Hand auf der Baustelle. Ohne dich wäre er nicht Königlicher Bauleiter.«
»Ein Grund mehr, mir seine Dankbarkeit zu zeigen und mich nach Mempi gehen zu lassen«, konterte ich.
»Dein Vater glaubt, dass er hier mehr für dich tun kann. Er hat dir verantwortungsvolle Aufgaben übertragen. Kamose ist der unbeschränkte Herr der Pyramidenbaustelle: Seine einzigen Vorgesetzten sind Prinz Nefermaat und der König. Was willst du mehr?«
Verstand Satamun, warum ich gehen wollte? »Ich will lernen.«
»Du hast doch schon so viel gelernt, Nefrit.«
»Ich will Wissen erwerben, das mir die Macht über mein eigenes Schicksal gibt. Ich will meinen eigenen Weg gehen. Und nicht in Kamoses Spuren laufen.»
Vier Monde später bat die Bäckerin Satamun um ein Gespräch beim Bauleiter Kamose. Sie sah traurig aus.
»Was ist denn, Satamun?«
»Ich will es deinem Vater zuerst sagen.«
»Was willst du ihm sagen?«
»Dass ich fortgehe.«
Satamun teilte meinem Vater mit, dass sie sich entschieden habe, fortan ihre Brote für den König zu backen. Sie könnte in der Bäckerei der Residenz in Pihuni arbeiten. Ich konnte nicht hören, ob mein Vater überhaupt etwas dazu sagte. Die Unterredung im Zelt dauerte nicht lange. Schon bald erschien Satamun und ging mit Tränen in den Augen zurück zur Bäckerei.
Ich betrat das Zelt, in dem mein Vater mit versteinerter Miene in Schreiberposition auf seinem Kissen saß. Mit leerem Blick starrte er auf den Tisch vor sich.
»Vater, die Abordnung der Steinbrucharbeiter kommt gleich wegen der Erhöhung der Bezahlung. Soll ich ihnen sagen, dass sie später wiederkommen sollen?«
Er besann sich und sah mich an. »Nein, nein. Ich werde sie empfangen.«
»Geht es dir gut, Vater?«, fragte ich besorgt.
»Ich bin ... müde, sehr müde.«
»Das hat nicht zufällig mit dem Besuch von Satamun eben zu tun?«
Es dauerte lange, bis mein Vater die richtigen Worte gefunden hatte. »Satamun hat mir erklärt, dass sie … mich verlassen wird.«
»Dich oder die Baustelle?«, fragte ich.
»Sie hat Arbeit im Palast gefunden.«
»Liebst du sie?«
»Nach dem Tod deiner Mutter … Vielleicht habe ich mich zu sehr an Satamun gewöhnt. Deshalb fällt es mir jetzt so schwer, sie gehen zu lassen.«
Ich beschloss, ihm noch nicht zu sagen, dass ich ihn in wenigen Monden verlassen würde, um meinen Platz in der Tempelschule in Mempi anzutreten. Ich hatte noch Zeit, um die unvermeidliche Diskussion über meine persönlichen Lebensziele wieder aufzunehmen.
Obwohl mein Vater erst vierunddreißig Jahre alt war, sah er aus wie ein alter Mann: Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Satamuns Aufbruch hatte ihn verbittert. In den Monden nach ihrem Weggang gönnte keiner von uns dem anderen ein freundliches Wort oder eine liebevolle Geste.
Mein Vater nannte mich undankbar. Er war der Meinung, dass er mir als Königlicher Bauleiter das Leben bieten konnte, das für mich erstrebenswert sein musste. Ich wollte selbst entscheiden, was gut für mich war und was nicht. Er konnte nicht verstehen, dass die Verwirklichung seines Lebenszieles – die Vollendung des Grabmals – mir nichts bedeutete.
Wir sprachen nur noch selten miteinander. Wir hatten uns wenig zu sagen, was über den Bau der Pyramide oder die Organisation der Baustelle hinausging. Die versteinerte Gleichförmigkeit der Tage und seine Verständnislosigkeit ertrug ich mit eiserner Willenskraft.
Sekhem kannte ich schon einige Jahre. Er war dreiundzwanzig und seit sieben Monden Kommandant der Lagerpolizei. Ich sah ihn oft, weil er dem Königlichen Bauleiter regelmäßig Bericht über die Sicherheit der Baustelle erstattete. In den letzten Wochen war er während seiner Runde durch das Lager oft vorbeigekommen, um sich mit mir zu unterhalten.
»Ich will mit dem Bauleiter über einige Diebstähle in der letzten Zeit sprechen«, bat er mich.
»Du kannst heute Nachmittag kommen.«
»Ich werde da sein.« Sekhem machte noch keine Anstalten zu gehen.
»Ist noch etwas?«, fragte ich ihn unvorsichtigerweise.
»Du bist heute sehr hübsch, Nefrit«, sagte er.
Ich war geschmeichelt, denn das hatte noch niemand zu mir gesagt. Ich hatte bemerkt, dass mein Körper sich in den letzten Monden verändert hatte, aber ich hatte dem keine Bedeutung zugemessen.
»Wie alt bist du? Fünfzehn oder sechzehn?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Sah ich so viel älter aus als beinahe vierzehn?
Durch mein Schweigen ließ ich ihn in seinem Glauben.
»Hast du einen Geliebten?«
Ich senkte den Blick und errötete unwillkürlich.
»Bitte entschuldige, die Frage war wohl etwas zu direkt.«
Fand er das wirklich? Ich sah ihm in die Augen, und er lächelte. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte. »Hast du Lust, heute Abend mit mir am Fluss spazieren zu gehen?«
Bei Sonnenuntergang erschien er vor dem Zelt, um mich abzuholen.
Sekhems Gesicht hatte die dunkle Hautfarbe der Menschen aus dem Süden. Er trug sein Haar offen. Seinen nackten Oberkörper hatte er mit duftendem Öl eingerieben, sein Leinenschurz war makellos gefaltet, und er hatte sogar Sandalen angezogen. Hatte er sich wirklich für mich so herausgeputzt, nur um mit mir in der Dunkelheit am Flussufer entlangzugehen?
Wir gingen hinunter zum Fluss, und er erzählte mir von seiner Familie, die in Weset lebte. Sein Vater sei wie er Soldat und der Kommandant der Stadtfestung von Weset. Seine Mutter habe sechs Kindern das Leben geschenkt. Ich fragte ihn nach seinen Geschwistern, da ich mir nicht vorstellen konnte, wie es wäre, Brüder und Schwestern zu haben. Am Ufer nahm er meine Hand, und wir gingen stromabwärts.
Nach einer Weile blieb er stehen, umarmte mich und strich mit seiner Nase zärtlich über mein Gesicht. Ich war erregt von seiner Nähe und seinen zärtlichen Liebkosungen. Sekhem war überrascht, als ich ihn auf die Lippen küsste.
»Hast du wirklich keinen Geliebten?«, fragte er atemlos.
»Nein. Küss mich, Sekhem!«, forderte ich.
Er ließ sich auf den Boden sinken und zog mich zu sich herunter.
Ich weiß nicht, was mich trieb. Ich liebte Sekhem nicht. Aber ich hasste meinen Vater, und wenn ich mich auf Sekhem einließ, würde ihm das wehtun.
Am nächsten Abend holte mich Sekhem wieder kurz nach Sonnenuntergang ab. Wir verschwanden im Schilfdickicht des Hapi und liebten uns.
Sekhems Liebe war ein völlig neues Gefühl für mich. Niemand hatte sich in der Vergangenheit so mit mir beschäftigt, wie er es mit Hingabe tat. Erst in den frühen Morgenstunden brachte er mich zum Zelt zurück. Den ganzen nächsten Tag über war ich so müde, dass es sogar meinem Vater auffiel.
»Wo warst du letzte Nacht?«, fragte er mich.
»Das geht dich nichts an!«, antwortete ich.
»Hast du mit Sekhem geschlafen? Ich habe euch zusammen weggehen sehen.«
»Und wenn es so wäre?«
»Er ist nicht der richtige Mann für dich.«
»Ich entscheide selbst, wer der Richtige ist!«, erklärte ich trotzig.
Mein Vater beobachtete, wie ich mich abends für den Spaziergang am Fluss fertig machte. Während ich mir die Haare kämmte, sah ich ihn das Zelt verlassen.
Durch den Spalt am Zelteingang beobachtete ich, wie er sich mit Sekhem unterhielt, der sich aus seiner knienden Position erhoben hatte. Mein Vater ging einige Schritte mit Sekhem vom Zelt weg und hatte den Arm freundschaftlich um die Schultern des jüngeren Mannes gelegt. Sie schienen sich angeregt zu unterhalten. Worüber sprachen sie? Sekhem war doch erst vorgestern Nachmittag zu einer Besprechung ins Zelt des Bauleiters gekommen. Hatte es weitere Diebstähle im Lager gegeben?
Später gingen Sekhem und ich am Fluss entlang, doch an diesem Abend hielt er nicht einmal meine Hand. Er schwieg.
Ich fragte ihn, was los sei. Nichts, antwortete er einsilbig. Ich fragte ihn, ob er Probleme habe. Nein, antwortete er, er habe keine Probleme. Ich fragte ihn, ob seine Einsilbigkeit mit dem Gespräch mit meinem Vater zu tun habe. Nein, antwortete er, nicht direkt.
»Jetzt sag mir endlich, was los ist! Was hat mein Vater dir gesagt, Sekhem?«
»Er hat mir verboten, mich weiter mit dir zu treffen und ...«
»Er hat es dir verboten?«, unterbrach ich ihn.
»Das waren seine Worte: Sekhem, wenn du meine Tochter noch einmal auch nur ansiehst, wirst du deine Position als Kommandant auf dieser Baustelle verlieren.«
»Das hat er gesagt? Und was hast du ihm geantwortet?«
»Was hätte ich sagen sollen? Er ist mein Vorgesetzter!«
»Du meinst, du hast ihm nicht widersprochen?«
»Nein.«
»Ich dachte, du liebst mich!«, schrie ich ihn an.
»Nefrit, das ist alles nicht so einfach …«
»Doch, offensichtlich ist es das!«
»Es ist für mich nicht so einfach, wie du denkst, Nefrit!«, unterbrach er mich. »Ich bin kein reicher Mann.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Dein Vater hat mir Gold gegeben, damit ich nicht mehr mit dir schlafe.«
»Wie viel Gold?«
Sekhem holte einen Goldring aus der Tasche seines Leinenschurzes. »Mehr als ein Jahresgehalt.«
Ich entriss ihm den Goldring und rannte zu unserem Zelt.
Mein Vater lag auf seinem Bett, als ich den Vorhang zur Seite riss.
Ich warf ihm das Gold vor die Füße. »Was glaubst du eigentlich, was du damit erreichst?«, schrie ich ihn an. »Wie konntest du!«
Mein Vater hob den Goldring vom Boden auf.
»Nefrit, ich will dir helfen, aus dieser Situation wieder herauszukommen.«
»Aus welcher Situation?«
»Sekhem hat dich verführt. Du bist noch zu jung für eine solche Beziehung.«
»Wieso bist du so sicher, dass er mich verführt hat? Ich werde bald vierzehn Jahre alt, Vater. Ich kenne das Leben außerhalb dieser Zeltwände. Vergiss nicht, dass ich auf einer Baustelle aufgewachsen bin!«, schrie ich.
Traurig vergrub er sein Gesicht in den Händen. »Ich wollte dir immer ein besseres Leben bieten, Nefrit. Ich habe hart dafür gearbeitet, um genug Kupfer zu verdienen, damit wir eines Tages von hier fortgehen könnten. Das Schicksal hat es anders gemeint. Glaub mir, Nefrit, ich habe lange überlegt, ob ich die Stelle als Bauleiter aufgeben sollte, damit wir zusammen woanders hingehen. Aber was hätte ich machen sollen? Ich habe keinen Beruf erlernt außer Gemüsebauer und Steinschlepper. Welches Leben hätte ich dir bieten können, das dich zufrieden gestellt hätte? Und so entschloss ich mich, auf der Baustelle zu bleiben und das Beste daraus zu machen.« Er sah mich nicht an und rang mit den Tränen.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Er hatte Opfer gebracht, das stimmte. Aber in meinem Zorn verkannte ich seine Argumente. Ich sehnte mich nach meiner Freiheit, und er stand mir dabei mit seinem Verhalten und seiner Position im Weg.
Ohne ein Wort zu sagen, verließ ich das Zelt und ging zurück zum Flussufer. Ich fand Sekhem, wo ich ihn verlassen hatte.
Wir liebten uns so leidenschaftlich, als wüsste er, welch hohen Preis er für diese Nacht mit mir zahlen würde.
Am nächsten Morgen befahl mein Vater Sekhems Versetzung auf eine Baustelle in Mempi. So endete unsere Affäre, jedoch nicht ohne Nachspiel. Zwei Tage später bekam ich heftige Schmerzen im Bauch und Blut lief an der Innenseite meiner Beine hinab.
Ich war verwirrt: War das Blut eine Folge unserer Vereinigung? Die Schmerzen nahmen im Verlauf des Tages noch zu, und auch der Blutfluss ließ sich nicht stillen. Ich wusch mich zweimal am Fluss.
Am darauf folgenden Tag hörten weder die Schmerzen noch die Blutungen auf. Ich bekam Angst, innerlich zu verbluten. Wen sollte ich um Rat fragen? Meinen Vater? Niemals! Satamun? Sie war in Pihuni. Einen Arzt? Die Ärzte auf der Baustelle kannten sich, wie ich vermutete, besser mit Amputationen und gequetschten Gliedmaßen aus.
Trotz meiner Zweifel ging ich zu einem der Ärzte, die mit ihren Tragekisten voller Instrumente über die Baustelle liefen, um Verletzten sofort helfen zu können. »Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Bist du verletzt?«
»Ich glaube schon …«
»Du glaubst schon?«, fragte er mich. »Du siehst nicht verletzt aus.«
»Ich blute seit zwei Tagen.«
Er sah mich vom Scheitel bis zu den Füßen prüfend an, während er seine Messer und Skalpelle auf einem sauberen Tuch ausbreitete. »Wo?«
Ich deutete auf meinen Schoß.
»Und du hattest noch nie solche Blutungen?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie alt bist du?«
»Ich werde bald vierzehn Jahre alt.«
Er räumte die Instrumente wieder in seine Tragekiste ein.
»Was ist denn nun?«, fragte ich ungeduldig, als er mir seine Antwort schuldig blieb.
»Du bist nicht verletzt. Du hast deinen Mondzyklus.«
Der Arzt erläuterte mir in unfarbigen Worten, welches Schicksal Frauen am Ende ihrer Kindheit ereilt. Er nahm mir die Angst vor dem Verbluten. Was er mir nicht nehmen konnte, war der Hass auf meinen Vater, der mich auf diese Veränderung in meinem Leben nicht vorbereitet hatte.
Im Frühsommer, zur Zeit der Getreideernte, gestand ich meinem Vater, dass ich mich bereits vier Jahre zuvor für die Aufnahme in der Tempelschule in Mempi beworben hatte, und zeigte ihm die Zusage des Priesters Sethi.
Im zehnten Regierungsjahr des Seneferu, wenige Tage nachdem ich vierzehn Jahre alt geworden war, gab er endgültig auf.
Macht entsteht aus Ohnmacht und dem unbeugsamen Willen, nicht aufzugeben. Für mich war die Barkenfahrt ein Triumphzug, für meinen Vater, der den Aufenthalt in Mempi mit einem Besuch auf der Baustelle des neuen Atum-Tempels verband, schien sie eine Niederlage zu sein. Die Fahrt stromabwärts dauerte bei leichtem Gegenwind weniger als einen Tag. Während ich ungeduldig am Bug saß, ging meinem Vater selbst das noch viel zu schnell. Wie für ihn meine ganze Kindheit zu schnell vergangen war.
Ich kauerte auf meinem Sack, in dem ich alle meine Sachen verstaut hatte. Ich besaß einen Pinsel und einen Tintenstein, drei Kleider und einen Leinenschurz, ein paar alte Sandalen, einen Kamm und einige Kupferbarren. Mein Vater hatte mir noch heimlich drei Goldringe ins Gepäck gesteckt. Aber ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Denn dann hätte ich mich bei ihm bedanken müssen.
Am frühen Abend kamen wir in der Alten Hauptstadt an. Wir gingen von Bord und mein Vater brachte mich zum Haus des Ptah. Ich wurde erwartet, weil ich meine Anreise durch einen Brief angekündigt hatte.
Mein Vater stellte meinen Sack auf den Boden und siegelte den Ausbildungsvertrag mit dem Tempel.
»Können wir den Abend zusammen verbringen, bevor ich morgen wieder nach Pihuni zurückkehre?«, fragte er. In seinen Augen sah ich den Wunsch nach Versöhnung.
»Vater, wir haben seit Monden keinen einzigen Abend zusammen verbracht. Ich wüsste nicht, was wir heute Abend tun sollten.«
»Wir könnten uns unterhalten.«
»Worüber?« Meine Wortwahl war sicherlich nicht ermutigend.
»Über uns.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gäbe. Es ist alles gesagt.«
Warum bloß hatte ich so heftig reagiert? Ich sah sein betretenes Gesicht: Er tat mir Leid. Als ich die Hand heben wollte, um ihm wie früher zärtlich über die Wange zu streichen und mich bei ihm zu entschuldigen, drehte er sich abrupt um und verschwand.
Allein stand ich mit meinem Sack im Büro des Tempelschreibers.
Mein Vater kehrte zu seiner Pyramide zurück.