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Acht Wochen vor der Priesterweihe verschwanden Iya und ich nach Mitternacht aus dem Tempel. Sie war nicht glücklich, mich mitnehmen zu müssen, aber ich ließ ihr keine Wahl: entweder mit mir oder nie mehr.

Noch nie hatte ich Mempi bei Nacht gesehen! Die Stadt war mit Fackeln und Öllampen hell erleuchtet. Selbst nach Mitternacht waren die Straßen nicht verlassen, sodass wir uns in einiger Entfernung vom Tempel nicht mehr verstecken mussten.

Wir gingen eine Weile, bis wir das Haus der Krieger erreichten. Vor dem Tor der Kaserne standen zwei Wachen, die uns widerstandslos durchließen. Mädchenbesuche nach Mitternacht schienen nicht ungewöhnlich zu sein.

»Bleib ganz dicht bei mir!«, befahl Iya. »Dann wird dir nichts geschehen.« Ich fragte mich, was mir allein geschehen sollte, was nicht uns beiden widerfahren konnte.

Hinter dem hohen Pylon lagen die Quartiere der Soldaten und Offiziere um einen großen Innenhof. Das Kriegerhaus war wie eine Festung von einer hohen Mauer umgeben.

»Wo finden wir deinen Verlobten?«, fragte ich Iya.

»Er ist Streitwagenführer und hat eine eigene Kammer. Aber er wird bei den anderen sein.«

Wir durchquerten die Kommandantur, ohne aufgehalten zu werden. Überall saßen und standen Krieger herum, manche noch in Rüstung, manche nur mit einem Schurz bekleidet, andere nackt. Je weiter wir in das Kriegerhaus vordrangen, desto lauter wurden das Geschrei, die Gesänge und die Musik. Im großen Hof fand eine ausgelassene Feier statt. Etliche Krieger vergnügten sich mit Liebesdienerinnen – es wurde gelacht, getanzt, gesungen und geliebt.

Iya nahm meine Hand und führte mich zwischen den Feiernden hindurch zu einem jungen Mann, der auf einer Binsenmatte lag und sich von einem Mädchen Dattelwein nachschenken ließ. Das Mädchen hatte einen Arm um seine Schultern gelegt, sein Kopf ruhte an ihrer Brust. Als er Iya sah, ließ er seinen Becher sinken, aus dem er gerade trinken wollte.

»Iya!«, rief er erfreut und scheuchte das andere Mädchen mit einer ungeduldigen Handbewegung fort, als wollte er eine Fliege vertreiben.

»Ich will dir jemanden vorstellen, Geliebter.« Iya schob mich nach vorne, und ich konnte sein Gesicht im Schein der Feuer sehen. Ich überwand meine Überraschung schneller als er. Wie viele Jahre waren vergangen, und doch erkannte ich ihn gleich!

»Djedef.«

»Nefrit? Bei Neith, was tust du hier?« Djedef sprang auf und nahm meine Hand, die er zärtlich mit seiner Nase berührte.

Djedef war ein Mann geworden: Sein Körper war athletisch, als könnte er mit einem Löwen ringen.

Iya sah verständnislos von mir zu Djedef. »Ihr kennt euch?«

»Wir kennen uns seit vielen Jahren. Aber ebenso lange haben wir uns nicht gesehen«, antwortete ich.

Iya und ich setzten uns zu Djedef und erhielten Becher mit Dattelwein gereicht und Brot und geröstete Ente.

»Was wird gefeiert?«, fragte ich Djedef.

»Der König hat einen Sohn bekommen.«

»Das feiert ihr? Dann müsstet ihr ja ständig betrunken sein.«

Iya sah mich wegen der Lästerung der Majestät sprachlos an. Djedef lachte amüsiert: »Was sollten deiner Meinung nach die Regimenter in Friedenszeiten wohl sonst tun?«

»Sich für den Krieg üben, nehme ich an.«

»Das tun sie, dafür sorge ich schon.«

»Du bist Streitwagenführer, hat Iya mir erzählt.«

»Ich bin vor Jahren in das Haus der Krieger eingetreten und habe Karriere gemacht. Ich bin jetzt im Rang eines Offiziers und kommandiere eine Hundertschaft Streitwagen.«

Iya saß gelangweilt und ungeduldig neben uns, als Djedef mir seine Erlebnisse im Heer des Königs während der vergangenen Jahre erzählte. »Djedef, ich bin nicht hergekommen, damit du Nefrit deine Heldengeschichten aus dem Krieg erzählst!«

Iya ergriff Djedefs Hand und bat ihn, ihr in seine Kammer zu folgen.

»Bitte entschuldige uns für einen Augenblick, Nefrit. Die Pflicht ruft ...«, grinste Djedef.

»Viel Vergnügen!«, rief ich ihm hinterher.

Ich blieb nicht lange allein auf dem Hof, wo sich die Feier mittlerweile zu einem nächtlichen Gelage entwickelt hatte. Die Zeugungskraft des Königs schien sich bei seinen Regimentern einer unerhörten Beliebtheit zu erfreuen, und viele der Krieger taten es ihm nach. Ein betrunkener Soldat mit einem Becher Bier in der Hand ließ sich neben mir auf die Matte fallen. »Hast du noch keinen der Helden des Ptah-Regiments an deiner Seite, der dich heute Nacht beschützt?« Seine Hand wanderte aufdringlich an meinem Bein hoch.

»Doch, mein Held. Kommandant Djedef wird gleich zurückkehren.«

Er zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. »Djedef? Der Kommandant hat ein Glück! Er bekommt immer die schönsten Mädchen.«

»Immer die schönsten Mädchen?«, fragte ich nach.

»Djedef schläft keine Nacht allein. Die Mädchen betteln um den Platz neben ihm auf der Matte.«

»Du musst dich irren!« Ich erinnerte ihn daran, dass Djedef mit Iya verlobt war.

Der Krieger lachte und deutete an, dass das Djedef nicht davon abhalten konnte, verschiedene Geliebte zu haben.

»Du meinst, er betrügt Iya?«, fragte ich ungläubig.

»Wie nennst du es, wenn Djedef drei Geliebte gleichzeitig hat?«

»Drei?«

»Oder mehr, wenn du die Gespielinnen für eine Nacht mitrechnest. Meine Freundin hat er mir ebenfalls ausgespannt. Aber was soll ich tun? Er ist mein vorgesetzter Offizier. Er tut sowieso, was er will.«

Ich musste lange warten, bis Djedef und Iya aus seiner Kammer zurückkehrten. Iya strahlte über das ganze Gesicht und zupfte an ihrem Gewand herum.

»Hattest du deinen Spaß?«, fragte mich Djedef. »Ich hoffe, meine Offiziere waren dir zu Diensten.«

»Ich hatte einige tiefe Erkenntnisse über die Natur des Kriegers«, murmelte ich, und er lachte.

»Wir müssen zurück, der Morgen graut bereits«, sagte Iya und nahm meine Hand, um mich von ihrem Geliebten fortzuziehen.

Djedef verabschiedete sich von Iya durch Nasenreiben, von mir durch das Küssen meiner Hand. »Ich freue mich auf unser Wiedersehen, meine Schwester. Du solltest mir deine Erkenntnisse dann gelegentlich mitteilen.«

Der Weg zurück in den Tempel schien endlos.

Wieso benutzte Djedef für mich die Anrede Schwester, die nur der Geliebten vorbehalten war? Djedef hatte Iya erzählt, wir seien wie Bruder und Schwester aufgewachsen. Warum log er sie an?

In der nächsten Nacht schlichen Iya und ich erneut aus dem Tempel, dieses Mal jedoch lange vor Mitternacht. Djedef hatte den Abend für mich generalstabsmäßig geplant. Er stellte mich seinem Freund Ahmose vor, der wie er eine Hundertschaft Streitwagen kommandierte und die Kammer neben der seinen bewohnte.

Ahmose, mit dem ich den Abend verbrachte, konnte es an Witz und Charme durchaus mit Djedef aufnehmen. Wir führten eine geistreiche Unterhaltung, aßen Wachteln, tranken Dattelbier und liebten uns in seiner Kammer. Ich mochte Ahmose, aber während seine Lippen über meinen nackten Körper wanderten und seine Hände Stellen meines Körpers streichelten, die selbst Sekhem noch nicht berührt hatte, dachte ich an Djedef.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Nächte Iya und ich die Prügelstrafe riskierten. Die Gefahr berauschte uns ebenso wie die Lust, die wir mit Ahmose und Djedef empfanden. Ich hoffte auf Djedefs Treue gegenüber Iya, weil ich ihre Gefühle nicht enttäuscht sehen wollte. Aber bei der Häufigkeit unserer Besuche im Haus der Krieger hatte Djedef wohl kaum Gelegenheit, eine seiner anderen Geliebten regelmäßig zu treffen.

Wochenlang teilte ich das Bett mit Ahmose, aber wir sprachen nie über unsere Wünsche und Begierden oder wie wir uns die Zukunft vorstellten. Wir liebten einander und ließen voneinander. Meine Beziehung zu Djedef war anders. Wenn er mich ansah, entflammte ich in meinem Innersten. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Wir unterhielten uns über Dinge, die uns bewegten, während Iya Brot, Bier und Wein organisierte und Ahmose seinen Rundgang machte.

Eines Abends ergriff er meine Hand, als er sich unbeobachtet fühlte. »Ich habe mich verliebt, Nefrit!«

»Wann wirst du Iya heiraten?«

»Ich sprach nicht von Iya.«

»Ich weiß, Djedef. Ich wollte dich an deine Verpflichtungen erinnern.«

Iya und Ahmose kehrten gleichzeitig zurück, und Djedef und Iya verschwanden in seiner Kammer, während ich mich noch eine Weile mit Ahmose unterhielt. Dann stillte ich meine Lust an ihm – eine Lust, die nicht er entflammt hatte.

Eines Abends rutschte Iya beim rituellen Stieropfer in einer Blutlache aus und brach sich fast den Fuß. Ihr Bein wurde geschient, und sie wurde in das Haus des Lebens gebracht. Nach den Abendriten besuchte ich sie im Krankensaal. »Wie geht es dir, Iya?«

»Ich kann nicht laufen. Ich habe Schmerzen.«

»Dann kannst du heute Nacht nicht …?«

»Nein, Nefrit. Der Arzt sagt, ich darf einige Tage nicht auftreten. Ich weiß nicht, wie ich am Neujahrsfest tanzen soll!« Iya war eine der Tempeltänzerinnen, die die Neujahrsprozession durch Mempi anführen würden. Ich wusste, wie wichtig ihr diese Aufgabe war.

»Du wirst ihn treffen, nicht wahr, Nefrit?«

»Von wem sprichst du?«

»Von Djedef. Ihr werdet heute Nacht miteinander schlafen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe euch beobachtet in den letzten Wochen.«

»Das bildest du dir ein, Iya.«

»Ein Blinder kann erkennen, dass er dich liebt, und ich sehe auch, wie du ihn ansiehst.«

Die Nacht war still und heiß. Die meisten Krieger hatten die Kaserne verlassen und tummelten sich mit ihren Geliebten unten am Fluss. Im Schein von zwei Öllampen saß Djedef in der Kommandantur und machte Aufzeichnungen auf einer Tonscherbe.

»Djedef! Wo kann ich Ahmose finden?«

Djedef sah überrascht auf. Die Tempelwächter waren wegen der nächtlichen Schwüle schläfrig gewesen, und ich hatte meinen Weg durch das Labyrinth des Tempels schneller genommen als sonst.

Sein Blick glitt an meinem Körper herunter. »Wo ist Iya?«

»Sie kann nicht kommen. Sie ist beim Stieropfer gestürzt und hat sich am Bein verletzt. Das Bein ist geschient, und sie liegt im Haus des Lebens auf einem weichen Bett und lässt sich von einem Krankenpfleger verwöhnen.«

»So.« Das war das Einzige, was er sagte. Das Schicksal von Iya schien ihn nicht weiter zu interessieren. »Dann können wir uns ja endlich ungestört unterhalten. Ich habe dir etwas zu sagen.«

Ich ahnte, was er mir sagen wollte. »Wo ist Ahmose?«, wiederholte ich meine Frage.

Djedef warf die Schreibbinse auf den niedrigen Tisch und erhob sich aus seiner Schreiberposition. »Ahmose hat heute Nacht die Wache im Stadtteil der Vornehmen übernommen. Er wird nicht vor dem Morgengrauen zurückkehren. Du musst heute Nacht mit mir vorlieb nehmen, Nefrit.«

»Ich werde Iya nicht mit dir betrügen, Djedef. Ich kenne zwar nicht die genaue Zahl deiner Geliebten, aber ich werde nicht dazugehören. Ich werde auf Ahmose warten.«

Djedef stand beunruhigend nah vor mir. »Nefrit, du und ich sind in der gleichen Form gegossen worden. Warum willst du dich mit dem Zweitbesten zufrieden geben? Ahmose ist es nicht, den du wirklich willst«, flüsterte er in mein Ohr. Sein Atem strich über meine Nackenhaare.

»Überschätz nicht deinen Charme, großer Heerführer!«

»Keine Angst, Nefrit! In dieser Beziehung habe ich mich noch nie übernommen.«

Ich weiß nicht, warum ich nachgab. Er schlug vor, am Hapi spazieren zu gehen und zu reden. Dann befahl er seinem Streitwagenlenker, seine Pferde anzuschirren.

Der Kommandant ließ die Pferde durch das nächtliche Mempi galoppieren. Das Gefährt schwankte und Djedef drängte seinen Körper gegen meinen und hielt mich mit der Kraft seiner Arme auf dem offenen Wagen. Ich genoss die Geschwindigkeit und seinen Körper an meinem.

Unten am Fluss zügelte er die Pferde. Wir gingen durch die Dunkelheit am Ufer entlang und redeten über die Dinge, die uns bewegten. Ich erzählte Djedef von meiner Ausbildung zum Schreiber, die mit der Priesterweihe und der Abschlussprüfung in wenigen Tagen beendet sein würde. Ich erzählte ihm von den Problemen mit meinen Mitschülern, die mich nach wie vor quälten, obwohl sie sich bei ihren Aufgaben gern von mir helfen ließen.

»Sind sie an dir interessiert?«, fragte Djedef.

»Was meinst du?«

»Hast du in letzter Zeit in einen Spiegel gesehen, Nefrit? Du machst deinem Namen die Schöne alle Ehre. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Deine Erscheinung ist vollkommen.«

»Hör auf, Djedef! Das ist maßlos übertrieben …«

»Du bist eine Frau geworden, Nefrit. Eine energische Frau, die genau weiß, was sie will. Das gefällt den Männern.«

»Dir offensichtlich auch.«

Er ergriff meine Hand, um sie zu küssen. »Ich war schon damals, als wir unsere Pyramide bauten, in dich verliebt.«

»So ein Unsinn, Djedef! Du warst damals gerade sieben Jahre alt. Jetzt bist du siebzehn.«

»Meine Gefühle für dich sind ewig, Nefrit.«

»Ich glaube dir kein Wort.«

Aber irgendwie verstand er es im Verlauf des Abends, mich von seinen wahren Gefühlen zu überzeugen, denn wir verbrachten die Nacht miteinander im Schilf des Hapi.

Djedef hatte seinen Leinenschurz ausgebreitet und wir lagen nebeneinander und starrten in den Himmel, der sich langsam grau verfärbte.

»Liebst du mich?«, fragte er mich plötzlich.

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt doch sonst immer, was du willst.«

»Das hier ist etwas anderes.«

»Du nimmst mich niemandem weg, Nefrit.«

»Aber ihr seid versprochen und werdet heiraten.«

»Weil Iyas Vater einen Offizier als Schwiegersohn haben will. Ihr Vater ist mein vorgesetzter General. Ich habe da wenig Mitspracherecht.«

»Du könntest zum Beispiel Nein sagen.«

»Wie sagt man das?«

Ich machte es ihm lachend vor, und er sprach es mir nach: »Nein.«

Es klang nicht überzeugender als mein Nein vor wenigen Stunden.

An den folgenden Abenden holte mich Djedef am Tempeltor ab, und wir verbrachten einige leidenschaftliche Nächte am Hapi, bevor ich mich zum ersten Mal an das Krankenlager von Iya wagte.

Unsere geflüsterte, aber nicht weniger heftige Auseinandersetzung war das Ende unserer Freundschaft und der Beginn einer Feindschaft, von der uns erst der Tod erlösen sollte.

Meine Affäre mit Djedef hatte meine Leistungen in der Tempelschule beeinflusst. Tagsüber saß ich müde und unkonzentriert im Unterricht. Ramses und seine Freunde machten sich über mich lustig: »Nefrit hat ihre wahre Bestimmung erkannt. Sie hält einem Krieger das Bett warm.«

War Ramses mir nachts gefolgt? Hatte er meine nächtlichen Streitwagenrennen mit Djedef beobachtet, oder wie er mir im Haus der Krieger das Bogenschießen beizubringen versuchte, bis wir beide lachend auf dem Boden lagen?

Niuser war besorgt: »Nefrit, die Abschlussprüfungen stehen unmittelbar bevor. Wenn du deinen Lebenswandel nicht änderst, wirst du die Prüfungen nicht bestehen.« Niusers Worte brachten mich zur Besinnung. Die nächsten Nächte, so beschloss ich, würde ich auf die Treffen mit Djedef verzichten, um mich auf die Prüfungen vorzubereiten.

Djedef hatte dafür kein Verständnis: »Warum, Nefrit? Du wirst auch ohne die Ausbildung zum Schreiber einen Mann finden. Eigentlich hast du schon einen.« Er küsste mich.

»Ich will keinen Mann, Djedef, ich will Schreiber werden. Ich habe das in den letzten Wochen aus dem Blick verloren.«

»Wie konntest du dich nur so gehen lassen?«, fragte er verstimmt. »Wann werden wir uns wiedersehen?«

»Nach den Abschlussprüfungen.«

»Du weißt immer genau, was du willst, nicht wahr, Nefrit? Du hast doch keine Chance, jemals Schreiber zu werden.«

»Danke für deine Unterstützung!«, schrie ich ihn wütend an. »Ich hatte gerade von dir Verständnis erwartet. Du hast die Armut kennen gelernt wie ich. Du bist Offizier geworden und hast dich aus deiner Situation befreit. Bitte gestatte mir, dass ich das Gleiche für mich tue! Es wird niemand sonst tun!«

Die nächsten Nächte verbrachte ich in meiner Zelle, die ich mit der Tempeldienerin Baketamun teilte. Die gemeinsame Kammer mit Iya hatte ich nach unserem Streit verlassen. Ich saß in Schreiberposition über eine Öllampe gebeugt und ging meine Aufzeichnungen aus dem vergangenen Jahr des Unterrichts bei Niuser durch. Ich lernte, bis meine Gedanken durcheinander irrten und mein Kopf zu rauchen begann. Gegen Mitternacht löschte Baketamun oft ungefragt meine Lampe, weil sie schlafen wollte. Ich saß dann im Dunkeln am Heiligen See und dachte über meine Zukunft nach, die so undeutlich vor mir lag wie Nebel über dem Hapi.

Mein nächstes Ziel waren die Prüfungen zum Schreiber, die wenige Tage vor Jahresende stattfinden würden. Wenig später würde ich die Weihe zur Priesterin empfangen. Danach wollte ich für zwei weitere Jahre im Tempel bleiben. Ich hatte mich für das Studium zum Architekten entschieden. Gegen den Widerstand der Tempelverwaltung hatte ich mich in die Liste der Studenten eingetragen.

Am Tag der Prüfung erhob ich mich zeitig, wusch mich im Heiligen See und nahm an den Morgenriten teil. Dann ging ich mit meiner Schreibunterlage zu Niuser, um die Prüfung zu absolvieren. Die Schüler wurden einzeln geprüft, ich war die letzte aus der Gruppe, die er mit seinen Fragen quälte.

Die Prüfung beinhaltete alle behandelten Themen des vergangenen Jahres. Niuser stellte mir Fragen zur Hierarchie in den verschiedenen Ministerien, zur Zusammenarbeit diverser Staatsämter, zu den Handelsbeziehungen von Kemet und präsentierte mir Rechtsfälle, die ich beurteilen sollte. Bei der Militärgeschichte zeigte er sich zurückhaltend, während er mir viele Fragen zu den Staatsformen unserer Nachbarstaaten Amurru und Sumer stellte. Es war Mittag, als er mich in meine Zelle schickte. Zwei Stunden wartete ich, bis ich wieder gerufen wurde.

Im Sonnenhof des Tempels verkündete Niuser die Ergebnisse der Prüfungen aller Schüler. »Ungefähr die Hälfte von euch hat bestanden!« Wer hatte nicht bestanden? Die meisten Blicke richteten sich auf mich. »Um genau zu sein, haben achtzehn von euch die Prüfungen nicht bestanden.«

»Wer?«, kam die Frage aus der Runde.

»Du zum Beispiel, Khai!«

Khai sah betroffen zu Boden. In den letzten Wochen nach dem Weggang von Senenmut war er mein Freund geworden. Aber er war nur einer von achtzehn anderen.

Jeden Augenblick rechnete ich damit, meinen Namen zu hören, aber Niuser fuhr fort: »Aber was soll ich mich damit abgeben, die Verlierer in diesem Spiel zu erwähnen? Ich sage euch nun, wer seine Karriere als Schreiber fortsetzen wird!« Langsam ging er an der langen Reihe von Schülern vorbei.

»Du hast bestanden, und du und du auch.« Die Gesichter der drei Angesprochenen entspannten sich. Niuser ging weiter in der Reihe.

Ich hatte nicht mitgezählt und dachte schon, die Aufzählung der Namen wäre vorbei. Enttäuscht hatte ich mich abgewandt und wollte den Säulenvorhof verlassen. Meine Karriere als Schreiber schien beendet, bevor sie begonnen hatte. Was sollte ich nun anfangen?

»Nefrit, willst du schon gehen?«

Ich drehte mich um. Meine Mitschüler sahen mich erwartungsvoll an.

»Hast du nicht gehört, was ich eben gesagt habe, Nefrit?«

»Bitte entschuldige, Niuser, ich war in Gedanken.«

»Das warst du in letzter Zeit häufig. Aber das hat dich, Thot sei Dank, nicht davon abgehalten, die Prüfung zu bestehen.«

Bestanden? Ich wusste nicht, wie mir geschah, als mir ein Mitschüler nach dem anderen um den Hals fiel und mich küsste und beglückwünschte.

Meine Initiation zur Priesterin fand kurz vor den fünf dunklen Tagen am Jahresende statt.

Nach den Abendriten legte ich die Kleidung der Tempeldienerinnen an, steckte meine langen Haare hoch und begab mich mit einem Priester Dritten Grades in die Heilige Halle.

Ich war mit meinen beinahe sechzehn Jahren noch so jung, dass ich wirklich gern glauben wollte. Es wurde behauptet, dass Ptah sich bei der Weihe jedem Priesterkandidaten offenbarte und zu ihm oder ihr spreche. Ich hatte in den letzten Tagen die unglaublichsten Geschichten über göttliche Offenbarungen gehört und machte mir meine eigenen Gedanken.

Den ganzen Tag hatte ich weder gegessen noch getrunken, um mich für den Gott zu reinigen. Zitternd vor Aufregung folgte ich dem Priester durch das Tempeltor, und die wirkliche Welt blieb hinter mir zurück. Ich hatte Angst. Dies war etwas, das ich mit meinem Verstand nicht kontrollieren konnte. Hier sollte etwas geschehen, dem ich ohnmächtig gegenüberstand.

Der Priester wies mir den Platz zu, an dem ich die Nacht mit dem Gott verbringen sollte. Ich breitete meine Schilfmatte direkt vor dem Allerheiligsten aus und nahm in Schreiberposition Platz. Er verschwand, das Licht nahm er mit.

Stundenlang saß ich in der Dunkelheit, die mich wie ein schwarzes Tuch einhüllte. Ich dachte an Djedef, den ich seit Tagen nicht gesehen hatte. Ob er sich mittlerweile mit einer anderen vergnügte? Dann dachte ich über meine Zukunft nach, an die bevorstehende Neujahrsprozession, die ich dann bereits als Priesterin begleiten durfte. Wenn ich die Begegnung mit dem Gott überstand.

Ich zuckte zusammen, als sich der Vorhang des Allerheiligsten bewegte und ich leise Geräusche aus dem Innersten des Schreins vernahm. Es klang wie Schmatzen, wie Geräusche der Nahrungsaufnahme. Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. War Ptah erwacht und nahm die Götterspeise zu sich? Meine Mitschülerinnen hatten berichtet, dass sie Ptah mit offenen Augen gesehen hatten, aber ich hatte ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, sie hätten gelogen, um geweiht zu werden.

Doch dann spürte ich, wie sich etwas neben mir bewegte. Irgendetwas streifte meine Hand und war dann verschwunden. War der Gott nachts in seinem Tempel unterwegs?

Was ich aus dem Allerheiligsten vernehmen konnte, waren Geräusche von jemandem, der aß und vom Opferwein trank. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Doch die Neugier siegte. Vorsichtig näherte ich mich dem Vorhang zum Allerheiligsten, den ich langsam zur Seite zog.

Ptah stand an seinem Platz und blickte mich geradezu vorwurfsvoll an, weil ich seine nächtliche Ruhe gestört hatte. Er trug wie üblich seine blaue Kappe, einen Leinenschurz, einen breiten Halsschmuck aus Türkis und Silber, den Iya ihm während der Abendriten umgelegt hatte, und seine Sandalen. Nichts war anders als sonst, nur die Geräusche …

Und dann entdeckte ich die Ratten auf den Opfertischen, die sich an Gänsebraten, Gemüse und Brot sowie an Bier und Dattelwein gütlich taten. Ich scheuchte die Tiere fort und ging zurück zu meiner Matte. Den Vorhang zum Allerheiligsten ließ ich offen, damit ich von meiner sitzenden Position aus den Gott betrachten konnte. Vielleicht war die Offenbarung leichter zu erreichen, wenn ich ihn ansah.

Es war unsinnig, auf dem kalten Steinboden in der Dunkelheit der großen Halle zu sitzen. Ich fror. Ich hatte Hunger und Durst. Im Schein der Öllampen nahm ich mir von den Früchten und vom Gänsebraten, welchen die Ratten in Ruhe gelassen hatten. Auch vom Dattelwein trank ich einige Schlucke. Vielleicht würde die Erleuchtung kommen, wenn ich nicht mehr so viel Angst hatte. Ich trank den Kelch leer, und mir wurde sehr warm. So warm, dass ich meine Kleidung ablegte und nackt auf den Gott wartete.

Er ließ mich nicht lange auf sich warten. Im Schlaf erschien er mir. Langsam stieg er hinunter von seiner Barke im Allerheiligsten, ganz in Gold und Blau gekleidet. Als er zu Boden hinabgeschwebt war, wurde sein Körper zu Fleisch und Blut. Ptah war ein Mann von großer Statur, gekleidet in einen gefalteten Leinenschurz und einen Halsschmuck, bestickt mit Edelsteinen. An den Füßen trug er weiße Sandalen. Solange ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hatte er Ähnlichkeit mit Djedef. Doch als er ins Licht trat, um sich mir in meiner Nacktheit zu nähern, erkannte ich den Lebendigen Gott Seneferu.

In diesem Augenblick erwachte ich.

Vor den Morgenriten erschien der Priester und befreite mich aus dem Allerheiligsten. »Hattest du deine Offenbarung, Nefrit?«

»O ja. Ich habe den Gott gesehen.« Ich sagte ihm nicht, welchen Gott ich gesehen hatte.

In einer langwierigen Zeremonie weihte mich der Hohepriester zur Gottesdienerin. Die rituellen Handlungen dauerten fast zwei Stunden. Endlos kniete ich vor Ptah und legte meine priesterliche Reinigungsbeichte ab: »Ich habe nichts gegessen, was verboten ist. Ich habe keinen Menschen getötet. Ich habe keinem Menschen die Freiheit genommen. Ich habe nicht mit dem Mann einer anderen geschlafen …« Ich zögerte. Hatte ich das wirklich nicht? Iya und Djedef waren sich zwar versprochen, aber noch nicht verheiratet.

Seine Heiligkeit sah mich irritiert an, und ich fuhr mit der Beichte fort: »Ich habe nicht geflucht. Ich habe nicht gestohlen. Ich habe den Tempel nicht geschädigt …«

Ich zählte vor Ptah alle zweiundfünfzig Vergehen auf, die ich nicht begangen hatte, bevor mich der Hohepriester mit sich nahm, um mich zu salben, zu kleiden und zu belehren.

Den Abend verbrachte ich allein am Heiligen See und starrte in das unbewegte Wasser. In fünf Tagen würde ich an der Neujahrsprozession des Ptah teilnehmen. Mein drittes Jahr im Tempel begann.

Ich aß die Gottesspeise, die von den Abendriten übrig geblieben war, als ein Priester sich näherte. Er hatte seinen Schurz sehr eng gebunden und konnte nur kleine Schritte machen, als er den Heiligen See umrundete. Er hielt etwas in der Hand. Einen Brief.

Umständlich setzte er sich neben mich auf die Stufen, die zum See hinabführten. Er ordnete die Falten seines priesterlichen Leinenschurzes, bevor er sprach. »Nefrit, ich habe hier etwas für dich.«

»Was ist es?«, fragte ich kauend.

»Das will ich von dir wissen.«

»Wenn du es mir nicht zeigst, dann weiß ich nicht, was es ist.« Ich biss erneut in das Fladenbrot.

»Nefrit, nur weil du nun Gottesdienerin bist, kannst du dir nicht jeden Regelverstoß erlauben. Du bist oft genug geschlagen worden während deiner Ausbildung. Es gibt härtere Strafen als Schläge mit dem Rohrstock.«

Der Priester hob den Brief, den er in der Hand hielt. Als ich danach greifen wollte, zog er ihn weg. »Du weißt, von wem dieser Brief ist?«

»Nein, natürlich nicht. Wer sollte mir einen Brief schreiben?«

»Dein Geliebter, Nefrit.«

Ich hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Wusste die Tempelverwaltung von Djedef? Ich war vorsichtig gewesen und hatte mich vergewissert, dass mir niemand folgte. War das Iyas Rache?

»Ich habe den Brief gelesen. Dein Geliebter schlägt dir ein Treffen vor. Er sei in wenigen Tagen in der Stadt und könne es nicht mehr erwarten, dich zu sehen.«

Ich verdammte Djedef wegen seiner Unvorsichtigkeit. Wie konnte er mir einen Brief schreiben, der von der Tempelverwaltung abgefangen werden würde? »Das muss ein Missverständnis sein. Ist der Brief vielleicht falsch adressiert?«

»Ich kenne nur eine Nefrit aus Tis, die hier ihre Ausbildung macht«, sagte der Priester. »Dein Geliebter muss ein wichtiger Mann sein. Mit eigenem Siegel.«

»Was dich offensichtlich nicht davon abhielt, es zu brechen.«

»Ich habe den Brief dieses Kamose gelesen.«

»Kamose?«, fragte ich und stellte die Schale mit den Bohnen auf die Stufen. »Hast du eben Kamose gesagt?«

»Ich dachte, du kennst die Namen deiner Liebhaber.«

Ich lachte, bis mir die Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich den Priester in Kenntnis setzen konnte, dass jener Kamose nicht mein Liebhaber, sondern mein Vater war.

»Nefrit, bring deinem Vater bei, dass er seine Briefe nicht mit Geliebte Nefrit beginnt. Hat er als Königlicher Bauleiter denn keine formale Ausbildung zum Schreiber erhalten?«

Als ich allein war, las ich den Brief:

»Geliebte Nefrit, zwei Jahre sind vergangen, seit ich Dich in den Tempel brachte. Auf der Baustelle und in meinem Herzen hast Du eine Leere hinterlassen, die so groß war, dass selbst die Pyramide darin hätte versinken können. Ich habe mich derartig in meine Aufgaben vertieft und mich auf einen Streit mit Prinz Nefermaat eingelassen, dass ich kaum Zeit zum Schlafen fand, geschweige denn, Dir einen Brief zu schreiben.

Letztes Jahr erreichte mich die Entscheidung des Königs, seine Residenz aufzugeben und die Hauptstadt nach Mempi zu verlegen. Das Grabmal für Seneferu ist fast fertig. Wir errichten gerade die achte Stufe. Eine wunderbare Pyramide! Du solltest sie Dir ansehen.

Seneferu hat zu meinem Bedauern beschlossen, dass Pihuni als Hauptstadt seines Reiches ungeeignet ist und dass Mempi die Alte und Neue Hauptstadt sein soll. Das Grabmal ist ihm trotz der Änderung der Baupläne und des steileren Neigungswinkels noch zu klein. Er hat beschlossen, dass vor den Toren von Mempi eine weitere, größere Pyramide für ihn errichtet werden soll. Das ist Wahnsinn!

Seneferu hat mich zum Bauleiter der neuen Grabanlage berufen. Außerdem werde ich die Bauarbeiten in der ganzen Gegend von Mempi überwachen, unter anderem das Projekt des neuen Atum-Tempels, der in den nächsten beiden Jahren vollendet werden soll.

Nefrit, ich habe Dir so viel zu erzählen! Bitte sende mir eine Nachricht! Ich komme am Neujahrstag in Mempi an. Ich hoffe, Dich dort zu sehen. Ich liebe Dich. Kamose.«

Ich war glücklich, obwohl er sich nicht ein einziges Mal in seinem Brief nach mir erkundigt hatte. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie allein ich war.

In der nächsten Nacht floh ich aus dem Tempel, obwohl es einer der dunklen Tage war. Was sollte schon passieren? Ich suchte Djedef im Haus der Krieger auf und fand ihn in der Kommandantur. Er schrieb an einem Bericht für seinen vorgesetzten General und war überrascht, mich zu sehen.

»Hast du dich entschieden, Nefrit?«

»Entschieden? Ich verstehe nicht, Djedef.«

»Ich sehe, dass du die Kleidung der Priesterinnen trägst. Dein Gesicht ist auch nicht verheult, also nehme ich an, dass du die Prüfungen bestanden hast.«

»Du scheinst dich darüber nicht zu freuen, Djedef. Um es mit deinen Worten zu sagen: du suchst eine Frau für das Bett.«

»Ich hätte es nicht treffender formulieren können.«

»Lassen sich aus deiner Sicht nicht beide Aspekte vereinen? Schließt denn meine Funktion als Priesterin und Lernende im Tempel eine weitere Beziehung zwischen uns aus?«

»Es tut mir Leid, Nefrit. Ich wollte nicht warten.«

»Du hast eine neue Geliebte?«

»Keine neue.«

»Wirst du sie heiraten?«

»Ihr Vater wünscht das so.«

»Djedef, du heiratest Iya und nicht ihren Vater!«

Die Tür der Kommandantur knallte hinter mir zu, als ich den Raum verließ. Auf dem Rückweg zum Tempel fragte ich mich, wer eigentlich wen betrogen hatte.

Die Beziehung zu Djedef war so schnell beendet, wie sie begonnen hatte. Ich war nun wieder allein. Iya hatte ich verloren, und nun auch Djedef. Wer blieb mir noch, an dem ich mich in meinem Unglück festhalten konnte?

Die Barke des Gottes auf den Schultern der Priester schwankte, als würde sie auf den Wellen des Hapi dahinsegeln. Das Blattgold funkelte im Sonnenschein. Die ellenhohe Götterstatue war mit einem durchscheinenden Königsmantel bekleidet.

Mempi, das ich seit einem Jahr nicht mehr bei Sonnenlicht gesehen hatte, war im letzten Jahr noch schöner geworden. Die Alte Hauptstadt hatte sich darauf vorbereitet, Pihuni als Residenz des Königs abzulösen. Ob er in diesem Jahr wieder an der Neujahrsprozession teilnehmen würde?

Die zeremonielle Schrittfolge der Priester vor mir ließ mir viel Zeit, mich in der Stadt umzusehen. Der Festzug durchquerte die Viertel der Wohlhabenden und Wichtigen, die Stadtteile der Armen und Unwürdigen und den Hafen, um endlich den Platz vor dem Palast zu erreichen.

Schon von weitem sah ich das Podest aus Zedernholz, das auf dem Platz aufgebaut worden war. Dieses Jahr war die Tribüne sogar noch größer und höher als im Vorjahr, denn der versammelte Hofstaat nahm an den Neujahrsfeierlichkeiten teil, nicht nur die königliche Familie.

In der Mitte der Tribüne, auf einem erhöhten Podest, saß der Herrscher in seiner zeremoniellen Haltung als menschlicher Gott. In seinen gekreuzten Händen hielt er die beiden Zepter Krummstab und Wedel, auf seinem Kopf trug er die Doppelkrone.

Ich sah in sein Gesicht. Er lächelte nicht. Wie in Stein gemeißelt saß er auf seinem Thron.

Die Prozession bewegte sich an den Prinzen und Würdenträgern vorbei, alle mit den Insignien ihrer Ämter. In der ersten Reihe saß jemand, an dessen Erscheinung ich zuerst nicht glauben wollte. In unmittelbarer Nähe des Prinzen Nefermaat sah ich meinen Vater auf der Tribüne sitzen! Er war überrascht, mich als Priesterin in der Prozession zu sehen.

»Vater!« Ich beging den gleichen Fehler wie im Vorjahr und blieb stehen. Doch bevor das hinter mir getragene Götterbild des Ptah zum Stillstand kam und der Festzug sich staute, lief ich zu meinem Vater hinüber.

»Nefrit! Ptah sei Dank.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass der König zu mir herübersah. Aber in diesem Augenblick war mir alles egal, denn ich war nicht mehr allein!

Wir fielen uns in die Arme und hielten uns aneinander fest. »Meine geliebte Nefrit! Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«

»Es tut mir Leid, Vater! Es tut mir Leid, was ich dir angetan habe.«

»Schon gut, meine kleine Nefrit. Schon gut.«

Die Prozession zog an uns vorbei, während wir uns in den Armen hielten und unsere Nasen aneinander rieben.

Wir hatten uns viel zu erzählen. Ich berichtete ihm von meiner Weihe und meiner bestandenen Abschlussprüfung als Schreiber. Er erzählte mir vom Leben auf der Baustelle, das sich nach meinem Weggang nur unwesentlich verändert hatte. Prinz Nefermaat hatte die Arbeiter auf der Baustelle gnadenlos angetrieben, um den gewaltigen Bau wie vom König befohlen innerhalb von fünf Jahren fertig zu stellen. Kamose hatte daraufhin um eine Audienz beim Herrscher gebeten und sich über dessen Bruder beschwert. Erneut musste der König zwischen dem Wesir und dem Bauleiter vermitteln. Die Differenzen zwischen Nefermaat und meinem Vater schienen unüberbrückbar zu werden.

»Hast du Satamun wiedergesehen?«, fragte ich ihn, als ein Bote uns fand:

»Bist du Kamose von Tis?«

»Der bin ich.«

»Der Zeremonienmeister Seiner Majestät, Thotmes, will dich sehen. Sofort!«

Mein Vater bat mich, ihn in den Palast zu begleiten, da er nicht wusste, wie lange die Audienz bei Thotmes dauern würde.

Der Palast von Mempi war wesentlich kleiner als die Residenz von Pihuni. Die Ministerien und das Archiv mussten sich außerhalb des Areals befunden haben, als die Könige in diesem Palast residiert hatten. Der Bote führte uns durch ein großes Tor, über einen Hof zum Haus der Verehrung. Hier wohnte und regierte der König während seines Aufenthaltes in Mempi.

Während mein Vater von Thotmes empfangen wurde, lief ich im Wartesaal der Bittsteller auf und ab. Re senkte sich bereits auf den Horizont, und noch immer hörte ich nichts von meinem Vater. Hatte mein Verhalten Thotmes derart gereizt, dass er meinen Vater bestrafte? Warum dauerte die Unterredung so lange?

Die Tür öffnete sich, und ein Schreiber kam auf mich zu. »Bist du Nefrit aus Tis, Priesterin des Ptah?«

Ich folgte ihm durch die Gänge des Palastes. Mit jedem Schritt wurde ich unruhiger. »Wohin gehen wir?«

»Wohin wohl? Was soll die Frage?«

Mein Schicksal war besiegelt! Mein Vater und ich würden für die Lästerung des Lebendigen Gottes bestraft werden. Und ich wusste nicht einmal, wie ich mich verteidigen sollte. Ich war schuldig: Es gab Tausende Zeugen.

Der Schreiber betrat nach mir den Audienzraum. Die untergehende Sonne warf ein goldenes Licht in den Raum. Als sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte ich den König auf einem Stuhl direkt vor mir. Ich warf mich ihm zu Füßen und küsste den Boden unter seinen Sandalen. Mein Vater kniete neben mir. Neben ihm standen Wesir Nefermaat und ein hoher Beamter mit einer aufwändigen Perücke und einem durchscheinenden Mantel über dem plissierten Leinenschurz.

Der Herrscher sah mich schweigend an, bis ich den Blick hob. Da ich mein Leben ohnehin verwirkt hatte, wagte ich es, ihm direkt in die Augen zu sehen.

Es war ein schönes Gesicht mit leicht geschwungenen, geschwärzten Brauen unterhalb einer hohen Stirn, über der Geier und Kobra der Königswürde thronten. Seine Nase war wie von Imhotep gemeißelt, genauso wie die Lippen, die mit Henna gerötet waren. Die Augen waren mit Lapispulver blau geschminkt und ruhten auf mir. Der Göttliche schien überrascht, dass ich ihn direkt ansah. Sein Blick tauchte in meinen, aber mein Geist hielt seinem stand. »Sie entspricht ganz deiner Beschreibung, Kamose. Und sie scheint von den Göttern begünstigt, wenn sie so klug ist, wie du sie mir beschrieben hast, denn sie ist noch dazu sehr schön. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. – Steh auf, Nefrit!«, befahl Seneferu, und ich stand auf.

Auch er erhob sich von seinem Stuhl und ging um mich herum, als wollte er mich von allen Seiten betrachten. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. »Du bist Priesterin?«

Was sollte die Frage? Das konnte er doch sehen. »Ja, Euer Majestät.«

»Dein Vater hat mir berichtet, du hättest vor kurzem die Prüfung zum Schreiber abgelegt? Stimmt das?« Sein Ton war befehlsgewohnt, und ich wusste nicht, ob er eine lange oder eine kurze Antwort erwartete.

»Ja, das stimmt.«

»Entspricht es auch der Wahrheit, dass du die Stabilitätsberechnungen meines Grabmals in Pihuni mit deinem Vater zusammen vorgenommen hast?«

»Ja, auch das ist wahr«, sagte ich zögernd.

»Dann kennst du die Schwierigkeiten bei der Errichtung einer Pyramide.«

»Ich hatte genug Gelegenheit, mich mit der Bautechnik während meiner Anwesenheit auf der Baustelle von Pihuni vertraut zu machen. Zudem beginne ich nach meiner Ausbildung als Schreiber ein Studium der Architektur, Euer Majestät.«

Er stand hinter mir, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Das machte mich unruhig. »Du hast einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen, Nefrit.«

»Ja, Euer Majestät.«

»Warum?« Ich spürte seinen Atem auf meinem Nacken.

»Weil ich immer tue, was ich will.«

Die Antwort amüsierte ihn. »Immer?«

»Immer!«, sagte ich, als er direkt vor mir stand. »Euer Majestät.«

Er sah mir in die Augen und glaubte mir.

»Weil die kluge und schöne Nefrit immer das tut, was sie will, werde ich ausnahmsweise meinen Befehl als Bitte formulieren.«

»Eine Bitte, Euer Majestät?«, fragte ich verunsichert.

»Du hast sicherlich davon gehört, dass ich entschieden habe, die Residenz von Pihuni nach Mempi zu verlegen. Mempi liegt strategisch günstiger für Kriege mit unseren Nachbarländern Amurru und Sumer. Außerdem hat Mempi einen ausbaufähigen Hafen. Ich habe Kamose befohlen, eine neue Pyramide zu erbauen. Außerdem ist er zuständig für die Baustelle des Atum-Tempels, der nächstes Jahr vollendet werden soll. Kamose hat von deinen herausragenden Kenntnissen der Bautechnik gesprochen.« Hoffentlich hatte mein Vater nicht übertrieben! Doch dann erfuhr ich, warum er diese Formulierungen gewählt hatte: »Der Wesir Nefermaat und mein Zeremonienmeister Thotmes hatten andere Pläne mit dir, Nefrit. Beide waren sehr aufgebracht über dein Verhalten während der Prozession. Thotmes ist immer noch der Meinung, dass nach dem Hofzeremoniell die Todesstrafe über Kamose und dich verhängt werden sollte. Doch dann sprach dein Vater von deinen Kenntnissen und Fähigkeiten. Da ich Kamose schätze, verzeihe ich dir dein Verhalten, obwohl Thotmes nun mir zürnt.«

Thotmes verneigte sich demütig vor dem Lebendigen Gott.

Dann fing ich wieder den Blick des Königs ein. Er drang wie ein Dolch in mich ein, doch ich hielt ihm stand.

»Du bist wirklich eine ungewöhnliche Frau! Du erstaunst mich immer wieder«, flüsterte Seneferu, um dann mit normaler Stimme fortzufahren. »Nun zu meiner Bitte an dich: du wirst während deiner Ausbildung an der Tempelschule deinem Vater auf den Baustellen helfen. Auf diese Weise kannst du während deines Studiums praktische Erfahrungen sammeln.«

»Ich werde Eurer Bitte entsprechen, Euer Majestät.«

»Das freut mich, Nefrit. Ich danke dir.«

Die Baumeisterin

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