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Djedef

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Das Bildnis war ihm so ähnlich, dass ich für einen Augenblick vergaß, dass eine Figur aus Stein vor mir stand. Die Statue aus Diorit war nicht bemalt, aber das Gesicht war so lebendig, das Strahlen in seinen Augen durch den polierten schwarzen Stein so geschickt wiedergegeben und das feine Lächeln so gut getroffen, dass ich sein Ka in der Statue vermutete. Eine Weile stand ich und starrte ihn an. Dann küsste ich seine lächelnden Lippen.

»Das Volk liebt den Gott Seneferu!« Ich fuhr herum. Hinter mir stand ein Priester des Ptah mit langem Leinenschurz. »Du aber scheinst dich in den Menschen Seneferu verliebt zu haben. Ich werde dir ein Geheimnis verraten: Es gibt keinen Menschen im Königsornat.« Der Priester deutete auf die Reihe der Königsstatuen in der Großen Halle des Tempels. »Sie alle waren keine Menschen. Meni hat das Undenkbare zu Ende gedacht und das Obere und Untere Land vereinigt. Djoser hat das Unsichtbare sichtbar gemacht, als er die Strahlen des Re in die Form einer Pyramide einschloss. Seneferu Nebmaat ist der Herr der Weltordnung. Er darf kein Mensch sein, selbst wenn er es wollte.«

Der kahlgeschorene Priester, der sich mir als Sethi vorstellte, trug die traditionelle Amtstracht der Ptah-Diener mit aus Leinen gefaltetem Schurz und einem Pantherfell über der Schulter. Er hatte sich in die Würde seines Priesteramtes gewickelt wie in ein Leinentuch. Aber schützte sie ihn wirklich vor dem Gefühl der Einsamkeit?

Der Tempel des Gottes Ptah war ein Abbild der Natur des Landes. Aus dem fruchtbaren Land wuchsen die bunt bemalten Säulen der Lotus- oder Papyrusstängel in den Himmel hinauf, der mit Sternen auf dunkelblauem Grund bemalt war. Die Mauern mit Reliefs in Form von Schilfmatten symbolisierten die Schilfhütten des Sumpfgebietes, das hier in Mempi begann.

Wir durchquerten die Große Halle, und ich starrte an die Decke etliche Ellen über mir, während der Priester Sethi mit der Rezitation der Tempelregeln begann, als wären die Verbote die Weltordnung der Maat. »Regel eins: du verlässt den Tempel nie ohne Genehmigung. Verstanden?«

»Ja!« Warum sollte ich den Wunsch haben, den Tempel zu verlassen? Ich war doch gerade erst angekommen!

»Regel zwei: du verlässt den Tempel nie ohne Begleitung.«

»Niemals«, bestätigte ich.

»Regel drei: Während der Nachtstunden, während der Morgen- und der Abendriten, während der anderen kultischen Handlungen an Feiertagen und an normalen Tagen musst du dich still verhalten. Stille heißt im Tempel des Ptah: Schweigen.«

»Ich darf nichts sagen?«

»Du hast richtig verstanden, Nefrit. Schweigen heißt: nicht sprechen, nicht lachen, nicht flüstern. Stille bedeutet aber auch, dass du, solltest du Tempeldienst haben, diesen leise verrichtest und nicht mit den goldenen und silbernen Gefäßen klapperst.

Regel vier: du darfst im Tempelbezirk nicht rennen, auch wenn es dir in deinem Alter manchmal schwer fallen sollte. Die Priesterschaft und damit auch die Schüler der Tempelschule bewegen sich bedächtig und würdevoll.«

»Ich werde mich bemühen«, versprach ich.

»Regel fünf: Gehorsam gegenüber den Priestern.«

Das war wohl die Regel, die mir am meisten Ärger bereiten würde.

»Regel sechs: du verhältst dich den Priestern gegenüber so, wie du wünschst, dass sie dir begegnen: mit Respekt und Würde. Du wirst den Priestern keine schönen Augen machen und sie nicht zu Handlungen verführen, die nicht in ihrem Aufgabengebiet liegen. Hast du mich verstanden?«

»Klar und deutlich«, sagte ich.

»Regel sieben: Deine Ausbildung ist umfassend und teuer. Du wirst dir Mühe geben, das übermittelte Wissen aufzunehmen und anzuwenden. Du wirst dich bemühen, keine Frage zweimal zu stellen. Du wirst deinen Mitschülern helfen, wenn sie Probleme haben.«

Der Gottesdiener Sethi zählte zweiundzwanzig Regeln auf, die das Leben im Tempel in geordnete Bahnen lenken sollte. Mehr als zweihundert Priester und hundertzwanzig Tempelschüler lebten in den Mauern des Ptah-Tempels. Der Tempel war eine Stadt in der Stadt.

Wir erreichten den Großen Sonnenhof, in dem das Volk nach Bezahlung der erforderlichen Gebühr an die Priester seine Opfer bringen durfte. Links und rechts begrenzten Säulen den Hof, der auf einen Pylon, einen riesigen Torbau, mündete. Der Pylon war mit bunt bemalten Reliefs geschmückt, die den Gott Ptah und seine Gemahlin Sekhmet zeigten. Vor ihnen stand der König mit Opferschalen in der Hand.

Hinter dem Pylon durchquerten wir einen großen Hof mit Statuen und Säulenhallen, dann eine kleinere Vorhalle und einen großen Säulensaal vor dem zentralen Tempelbezirk.

Wir betraten die Heilige Halle mit den angrenzenden Kulträumen. In der Halle war es beinahe dunkel, nachdem sich Re auf den Horizont gesenkt hatte. Während der Fußboden von Raum zu Raum ständig anstieg, verringerte sich die Deckenhöhe, die längs der Tempelachse symmetrisch angeordneten Innenräume wurden niedriger, schmaler und dunkler.

Die Tempelwände in diesem Gebäude waren mit Bronze- und Weißgoldblechen verkleidet, der Tempelboden mit Silber, das den Urozean darstellen sollte, die Decken als Himmel mit Lapislazuli und Gold. Auch die Götter- und Königsfiguren waren in diesem Teil des Tempels aus edleren Steinen als im Säulenvorhof, zu dem auch das Volk Zutritt hatte. Die Statuen waren aus Granit oder Basalt farblich wie Menschen gestaltet. Besonders die Augen dieser Statuen, die aus Bergkristall aus dem Sinai bestanden, faszinierten mich. Im Licht von Fackeln und Kohlebecken sah ich etliche Schritte vor mir Priester und Tempeldiener die Abendriten für Ptah und Sekhmet im steinernen Götterschrein durchführen. Von Nebenräumen, Magazinen, Sakristeien, Archiven, Kapellen für kleinere Götter umgeben, lag zentral und irgendwie zu klein geraten die Kapelle des Allerheiligsten mit dem Granitschrein für das Götterbild des Ptah, und auf einem Sockel in einem Nebenraum die tragbare Barke für Prozessionen des Gottes. Diese Kapelle war der Sitz der Gottheit inmitten des Tempels, der verkleinert dem Kosmos entsprach. Obwohl ich noch nie einen Tempel betreten hatte, erkannte ich sofort die Bedeutung der verschiedenen Räume und Bauelemente. Es hatte sich gelohnt, Imhoteps Schriften über Architektur mit meinem Vater zusammen zu lesen.

»Morgen Früh wirst du zum ersten Mal an den heiligen Morgenriten teilnehmen, Nefrit!«, erklärte Sethi. »Der Tag beginnt sehr früh bei uns im Tempel, bereits lange vor Erscheinen des Re. Du erhebst dich von deinem Lager, sobald du den Weckruf vom Tempeldach vernimmst. Dann gehst du mit den anderen Schülern hinunter zum Heiligen See und reinigst deinen Körper. Sobald Re den Horizont überschritten hat, wartest du mit den anderen, bis ein Priester euch abholt.«

Die Wohnräume für die Schüler und Schülerinnen der Tempelschule befanden sich im hinteren Teil des Tempels direkt am Heiligen See. Ich teilte meine Kammer mit Iya.

Iya war kaum älter als ich. Unter ihrem durchscheinenden Gewand zeichneten sich die Umrisse ihres Körpers ab. Sie war das anmutigste Wesen, das ich je gesehen hatte. Jedes ihrer Worte wurde von einer Bewegung ihrer Hände begleitet.

»Ich stamme aus der Residenz Pihuni«, sagte Iya. »Mein Vater ist General Horemhab vom Amun-Regiment. Er ist ein Cousin von Huni.« Iya kniff die Augen zusammen und beobachtete, ob ich angemessen auf ihre Verwandtschaft mit der königlichen Familie reagierte.

»Dann ist dein Vater ein wichtiger Mann!« Ich beschloss, erst einmal Freundschaft zu schließen. Das ging am einfachsten mit einem Lächeln. »Seit wann bist du hier, Iya?«

»Seit vier Tagen und sieben Stunden.«

»Du zählst die Stunden, seit du hier bist?«, fragte ich erstaunt.

»Ich werde die Stunden zählen, bis ich hier wieder herauskomme.« Iya seufzte. »Vielleicht mache ich nur das erste Jahr und lasse mich zur Tempeldienerin ausbilden. Dann höre ich auf und heirate.«

Iyas Augen waren in ständiger Bewegung. Sie sah mich nicht an, während sie mit mir sprach, sondern schien die Welt nach Dingen abzusuchen, die sie noch nicht kannte oder noch nicht genossen hatte. Die Welt durfte ihr nichts vorenthalten.

»Hast du schon einen Versprochenen?«, fragte ich.

»Mein Vater hat einen Offizier gefunden, den ich heiraten werde. Er glaubt, dass mein Verlobter eines Tages General sein wird. Er ist sehr ehrgeizig: Das gefällt meinem Vater.«

Die Morgenriten begannen mit der rituellen Reinigung am Heiligen See. Danach öffnete ein Priester, der einen Schurz aus plissiertem Goldstoff und ein Pantherfell über den Schultern trug, das Tor zur Großen Halle. Tempeldiener brachten die Götternahrung in goldenen und bronzenen Schüsseln und Gefäßen in die Nebenräume der Heiligen Halle, wo sie die Opferträger abholten und in die Säulenhalle vor dem Allerheiligsten brachten.

Nach dem Öffnen des Götterschreins weckten die Gottesdiener Ptah mit Morgengesängen und Sistrenmusik, stellten die Opfergaben vor ihn hin und zogen sich zurück, um den Gott nicht beim Göttermahl zu stören. Die goldene Statue wurde gewaschen und neu eingekleidet, die von der symbolischen Mahlzeit übrig gebliebenen Speisen entfernt.

Dann wurde ihm die Maat geopfert. Die Maat ist der im Schöpfungsakt gesetzte richtige Zustand in der Natur und der Gesellschaft von Kemet. Maat ist Recht, Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit. Indem die Maat rituell geopfert wurde, wurde der Kosmos in Gang gehalten. Die Welt bedurfte einer unablässigen Inganghaltung durch die Riten.

Was Ptah an diesem Morgen nicht zu sich genommen hatte, wurde unter den Priestern verteilt. Ich war hungrig und wartete sehnsüchtig auf das Ende der Zeremonie. Die Speisen waren dann zwar bereits kalt, aber sie schmeckten sehr gut.

Nach den Riten begann der Schulunterricht im hinteren Teil des Tempelbezirks. Nur die Priester des Amun in Weset, die des Osiris in Abodu, die des Sonnengottes Re von Iunu und die des Ptah in Mempi waren befugt, den höheren Unterricht zu erteilen, der über den der Erzieher hinausging. Der Tempel des Ptah beinhaltete neben den Kulträumen für den Gott auch eine Tempelschule für die jährlich hundertzwanzig Schüler, die sich zum Tempeldiener, zum Priester, und in einem weiterführenden Kurs zum Schreiber ausbilden ließen.

Der Schulraum war aus Schlammziegeln erbaut und wies keinerlei Verzierungen auf. Die Schüler saßen in Schreiberposition auf Schilfmatten. Vor uns hatten wir einen niedrigen Tisch, den sich jeweils zwei Schüler oder Schülerinnen teilten.

Acht Gottesdiener, die sich auf verschiedene Unterrichtsfächer spezialisiert hatten, unterrichteten uns. So hatten wir einen Lehrer für Ritenkunde und Liturgie, der uns auch die Göttermythen näherbrachte, einen anderen Lehrer für Lesen und Schreiben, was die meisten meiner Mitschüler noch nicht beherrschten. Ein Priester lehrte uns Mathematik, ein weiterer die Grundzüge der Architektur sowie der bildenden Künste wie Malerei, Reliefkunst, plastische Kunst und noch ein anderer versuchte selbst den Unbegabtesten das Musizieren mit Trompeten, Sistren, Schellen und Trommeln beizubringen. Die Mädchen hatten zusätzlich noch Übungsstunden in Tempeltanz, während die Jungen sich handwerklich als Steinmetze betätigten. Die Unterrichtsstunden bestanden jeweils aus einer Fachrichtung am Vormittag und einer anderen am Nachmittag.

Während der Mittagszeit, der Zeit des Gebetes im Tempel, saßen wir still in unseren Kammern. Die Lehrtätigkeit der Diener des Ptah ging bis zum frühen Abend, bis die Abendriten durchgeführt wurden.

Der Priester, der uns Mathematik lehren sollte, hatte an der Tempelschule des Ptah studiert. Er versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir an der Welt der Zahlen unser Vergnügen haben würden. In dieser ersten Unterrichtsstunde zwischen Mittagsruhe und den Abendriten versuchte der Gottesdiener, gelangweilten Schülern die Zahlzeichen beizubringen. Die meisten meiner Mitschüler konnten bisher weder lesen noch schreiben, und auch die Zahlen waren ihnen unbekannt.

Da ich bereits mit dreizehn Jahren Berechnungen an der Pyramide vorgenommen hatte, langweilte ich mich und zeichnete mit meinem Pinsel eine Pyramide auf die Tonscherbe, während die anderen mühsam eine gerade Linie nach der anderen zogen, einen Bogen, eine Schleife.

Ich war so vertieft in meine Pyramidenzeichnung, dass ich nicht bemerkte, wie der Lehrer hinter mir stehen blieb, um meine Skizze zu betrachten. Dann fuhr sein Stock auf meine Hände nieder. Mehr aus Überraschung als aus Schmerz ließ ich meinen Pinsel zu Boden fallen. Die Tintenschale kippte um, und die schwarze Tinte lief über das Schreibbrett auf meinen Knien.

»Was tust du da?«

»Ich zeichne.«

»Wir haben keine Zeichenstunde, sondern Zahlenkunde. Schreib wie alle anderen auch die Zahlen eins, zehn und hundert auf deine Scherbe.«

»Ich kann die Zahlen bereits lesen und schreiben. Bis eine Million.« Ich nahm mir eine neue Scherbe aus dem Korb vor mir, tauchte meinen Pinsel in Khais Tintenschale und begann zu malen. Ich konnte nicht sehen, was er hinter mir tat, und so verhielt ich mich still. Dreißig Augenpaare waren auf mich gerichtet.

In diesem Augenblick schlug er mit seinem Stock zu. Er traf meinen Rücken. »Du bist hochmütig, Nefrit! Du willst im Mittelpunkt stehen. Du bist hier, um zu lernen, und nicht, um mit deinen Kenntnissen vor deinen Mitschülern anzugeben! Du verstößt gegen die achtzehnte Regel!« Seine Stimme klang laut wie der Donner der nächtlichen Gewitter über der Oase von Pihuni.

Ich hob die Arme und fing die stärksten Schläge seines Stocks ab.

Die Erziehungsmethode der Tempelschule, die schlechte Leistungen ignorierte, mittelmäßige Leistungen belohnte und gute Leistungen mit dem Rohrstock bestrafte, statt sie weiter zu fördern, machte mich aufsässig.

Ich wurde oft geschlagen. Weil ich während des Mathematikunterrichts bautechnische Berechnungen vorgenommen hatte. Weil ich während des Schreibunterrichts ein Buch von Neferefre, das ich in der Bibliothek des Tempels entdeckt hatte, gelesen hatte. Weil ich während der endlosen Liturgien die Reliefs an den Tempelwänden skizziert hatte, die nicht den Regeln des Imhotep entsprachen. Der geniale Bauleiter des Djoser hatte genaue Proportionsvorschriften für das Zeichnen von Menschen und Göttern hinterlassen. Ein Quadratnetz, das auf die Wand aufgebracht wurde, diente zur Festlegung der absoluten Proportionen des menschlichen Körpers. Entsprechend dem alten Kanon maß der Mensch achtzehn Quadrate von den Fußsohlen bis zur Stirn, die Quadratgröße entsprach einer Faust oder eineindrittel Handbreiten. Davon liefen sechs Quadrate von den Füßen bis zu den Knien, weitere fünf Quadrate bis zum Gürtel, nochmals fünf Quadrate bis zu den gedrehten Schultern und drei weitere bis zum Scheitel des Dargestellten. Auch die Form der Darstellung war vorgeschrieben: Männer mit vorgestelltem Bein, Frauen im Stand, Männer mit brauner Hautfarbe, Frauen in Ocker. Der Netjer war immer größer als die anderen Dargestellten, es sei denn er stand vor den Göttern.

Und ich wurde geschlagen, weil ich mich gegen die Schläge wehrte.

Iya vibrierte vor Anspannung wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. »Wie kannst du nur so ruhig sein, Nefrit!«

Die fünf dunklen Tage am Jahresende waren ereignislos und ohne Versinken der Welt in der Isfet vergangen. Die Neujahrsprozession erschien mir nach einem Jahr Aufenthalt im Ptah-Tempel wie die Flucht aus einem Gefängnis.

Ich war alles andere als ruhig! Wie eine Blinde, die zum ersten Mal sieht, badete ich in einem Meer aus Farben: das dunkelblau schimmernde Wasser des Hapi, das satte Grün der Gartenanlagen von Mempi, das Weiß der Lotusblüten. Wie eine Verdurstende trank ich den Duft von frisch gebackenem Brot, von Ziegenkäse, gerösteten Zwiebeln, von gegrilltem Gänsefleisch und süßem Backwerk. Wie eine Gelähmte, die sich erhebt, schritt ich neben Iya durch die Straßen von Mempi.

Ich achtete auf alles, nur nicht auf meine rituelle Schrittfolge, und Sethis strafender Blick traf mich wie der Stock des Mathematiklehrers. Ich war geblendet von den Eindrücken einer Stadt, die sich zum Neujahrsfest geschmückt hatte.

Die Prozession bewegte sich durch die Viertel der Reichen und Vornehmen, am Hafen vorbei, durch die Gebiete der Armen. Auf der langen Straße näherten wir uns dem alten Königspalast. Ich freute mich darauf, den Platz wiederzusehen, wo mein Vater und ich vor elf Jahren zwei wundervolle Tage verbracht hatten. In diesem Augenblick war ich traurig, dass mein Vater mich jetzt nicht sehen konnte, inmitten der Prozession als Tempeldienerin des Ptah.

Als wir uns dem Platz vor dem Palast näherten, nahmen die Wohlgerüche von Weihrauch und Myrrhe zu. Es duftete nach gerösteten Lotussamen, nach in Öl gebackenen Honigkuchen und anderen Leckereien. Und dann hörte ich Geflüster zwischen den Gottesdienern, die vor mir gingen. Die Priester riefen sich etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Worte flogen wie Vögel über mich hinweg. Was sagten sie? In dem Augenblick, als ich verstand, was sie sagten, sah ich ihn.

Seneferu trug die Sechemti-Doppelkrone, einen mit Lapislazuli und Türkis bestickten Halskragen, darüber ein Amulett in Form eines Goldhorus und einen weißen Leinenschurz, der seine Beine eng umschloss. Seine Füße waren mit goldenen Sandalen bekleidet. Er war nun einunddreißig Jahre alt, aber als Gott war er unsterblich: Wie ein Götterbild saß er unbeweglich auf seinem Thron, die Hände in der traditionellen Haltung mit Heqat und Nekhakha, Krummstab und Wedel. Seine dunklen Augen waren mit Goldstaub geschminkt – sie blickten in die Ferne jenseits des Horizontes. Wie schön er war!

Neben dem König saß die Große Königliche Gemahlin, Hotephores, eine junge Frau von zierlicher Statur und großer Anmut. Sie trug ein Gewand, das ihre Brüste freiließ, und einen Schmuckkragen, ganz mit kostbarem Lapislazuli bestickt. Ihre Perücke war lang, und die kunstvoll geflochtenen Zöpfe lagen ihr schwer auf den schmalen Schultern. Ein Diadem und Armreifen aus Gold vervollständigten ihre elegante Garderobe.

Ich war so erstaunt über die Anwesenheit des Lebendigen Gottes in der Alten Hauptstadt, dass ich vergaß, die traditionelle Schrittfolge einzuhalten. Die hinter mir schreitenden Gottesdiener stießen beinahe mit mir zusammen, weil ich zu langsam ging. Ein Priester Ersten Grades eilte herbei und schlug mich mit einem kurzen Stock, um mich zu ermuntern, die Schrittfolge einzuhalten. Die Schläge brannten wie Feuer auf meiner nackten Haut. Aber ich war mir der Aufmerksamkeit der königlichen Familie sicher. Prinz Rahotep war aufgesprungen, als wollte er mir zu Hilfe kommen. Prinz Khufu sah mir in die Augen, als bereiteten ihm die Schläge Vergnügen.

Der König sah mich an. Die wenigen Augenblicke, in denen unsere Blicke ineinander versanken, erschienen mir wie die Ewigkeit. Dann wandte er seinen Blick wieder in die Unendlichkeit seiner Gedanken und schloss die Welt aus. Das Lächeln blieb auf seinen Lippen.

Wie ich in den Tempel zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ein Priester empfing mich am Tempeltor und brachte mich in eine Zelle, in der ich stundenlang ausharren musste. Sethi erschien, um mich zu bestrafen. Er führte die Schläge nur mit halber Kraft aus: Er hatte den Blickwechsel zwischen dem König und mir bemerkt. Dann schickte Sethi mich in meine Zelle, die Kleidung für die Abendriten anzulegen.

In unserer Kammer traf ich Iya, die sich bereits umgezogen hatte. »Das ist ein aufregender Tag heute!« Ruhelos flatterte sie durch unsere Zelle. »Erst die Prozession und jetzt noch das!«

Ich dachte, sie meinte meine Bestrafung wegen der Majestätsbeleidigung.

Gemeinsam führten wir die Waschungen im Heiligen See durch, dann formierten wir uns am Tempeltor. Trotz meiner Strafe hatte Sethi mir die Aufgabe, den Gott zu waschen und zu kleiden, nicht entzogen.

Hinter mir standen die Tempeldienerinnen und Tempeldiener mit der Mahlzeit für den Gott: weißes Brot, Gänsebraten, Gemüse, Früchte, Bier und Wein. Dahinter warteten die Träger der neuen Kleidung und die Mädchen und Jungen, die die Schüsseln mit dem geweihten Wasser zur Waschung des Gottes trugen. Ich hatte in den letzten Wochen jede dieser Aufgaben durchgeführt, doch heute sollte ich die Prozession der Abendriten anführen.

»Der Tempel ist heute Abend hell erleuchtet!«, flüsterte ich Iya zu. Das Licht von Fackeln in der Großen Halle tauchte das Allerheiligste in tiefe Dunkelheit. Der Vorhang war beiseite geschoben, und der Gott stand im Licht. Vor ihm sah ich einen Mann auf dem Boden knien. Der Hohepriester? In der Dunkelheit vor der Statue des Ptah konnte ich weder die Statur noch das Gesicht erkennen.

Mit welcher Konzentration die Priester die Sistren schlugen und die rituellen Schritte durchführten! Die Tempeldiener standen in einer geraden Reihe, wie mit dem Lineal gezogen. Sie bewegten sich wie eine Person. Noch nie hatte ich eine solche Aufregung hier im Tempel erlebt.

Im Halbdunkel erkannte ich Männer und Frauen, die keine Priesterkleidung trugen. Als ich an ihnen vorbeiging, sah ich Nefermaat und Amenemhet sowie die Königin Hotephores und die Prinzen Rahotep, Khufu und Aserkaf. Die königliche Familie nahm an den Feierlichkeiten der Abendriten anlässlich des Neujahrsfestes teil!

Ich ging auf die Statue des Ptah zu und begann mit meinen rituellen Handlungen. Ich nahm die Schüsseln und Schalen mit der Götternahrung und setzte sie vor Ptah ab. Die Krüge mit Bier und Wein stellte ich etwas abseits neben die Kohlebecken mit den Weihrauchkegeln. Es war ganz still in dem kleinen Raum, als die Priester sich zurückgezogen hatten und abwarteten, dass ich die Figur waschen, salben und kleiden würde.

In diesem Augenblick erhob sich der Mann hinter mir. Im Schein der Öllampen konnte ich sehen, dass er keine priesterliche Kleidung trug.

Der König hatte seinen Blick auf das goldene Antlitz des Gottes gerichtet und beachtete mich nicht. Dann nahm er mir die Schüssel mit geweihtem Wasser aus der Hand, ohne mich zu berühren. Beinahe hätte ich das Gefäß fallen gelassen. Er ergriff den Rand, bevor das Wasser überschwappen oder die Schüssel zu Boden fallen konnte. Ohne ein Wort und einen Blick wandte er sich von mir ab und konzentrierte sich auf Ptah.

Er wusch den Gott mit einem weißen Leintuch, das er nach Benutzung zusammenfaltete und in die Schüssel mit dem Waschwasser legte. Das Tuch würde in Stücke geschnitten und am nächsten Morgen im Tempelhof verkauft werden. Das Waschwasser würde in kleine Phiolen abgefüllt und ebenfalls als Heilmittel gegen Krankheiten verkauft werden. Ich nahm die Schüssel aus seinen Händen entgegen.

Dann reichte ich ihm die Kleidung für den Gott, einen neuen Schurz, Sandalen und einen Halskragen sowie eine neue Kappe aus blauem Stoff. Als der Lebendige Gott die Zeremonie beendet hatte, nahm er einen Weihrauchkegel aus dem Kohlebecken und räucherte den Raum des Allerheiligsten, um den Gott für die Nacht vorzubereiten. Dann war die Zeremonie beendet, und ich zog mich vor dem König aus dem Raum zurück, um den Gott ruhen zu lassen. Als ich an ihm vorbeiging, berührten sich unsere Körper leicht und er flüsterte:

»Ich danke dir, dass du mich nicht wieder angestarrt hast.«

Ich wagte nicht, den Blick in das Antlitz des Herrschers zu richten und verneigte mich schweigend.

»Was hat er dir gesagt?«, wollte Iya wissen, als wir später nebeneinander auf unseren Schlafmatten in unserer Zelle lagen.

»Ach nichts«, sagte ich. »Weißt du, warum der König in Mempi ist?«

»Nein, das weiß ich nicht. Aber ich habe doch gesehen, dass er dir etwas zugeflüstert hat«, beharrte Iya. »Und Sethi hat dich nicht geschlagen.«

»Lass mich in Ruhe, Iya. Ich bin müde«, murmelte ich. Schlafen wollte ich nicht. Ich wollte das Gefühl seines Körpers an meinem immer wieder spüren.

Am zweiten Tag des Neujahrsfestes hatte das Volk Zutritt zum großen Sonnenhof. Die Tempeltore öffneten sich und ließen Hunderte von Betenden ein, die bei den Priestern eine Spende abgaben. Ich stand mit Sethi im Sonnenhof und hielt für ihn die Schale, in der sich die Kupferbarren und Goldringe häuften.

Die Gläubigen näherten sich ehrfürchtig dem im Sonnenhof aufgestellten Schrein mit der Barke des Ptah, die am Vortag durch die Straßen von Mempi getragen worden war. Viele hatten an diesem Tag kleine Ptah-Statuen bei sich, die sie durch die Gottesdiener weihen ließen. Gegen ein geringes Entgelt nahmen die Priester die Statuen entgegen und brachten sie ins Allerheiligste, wo sie diese weihten und dann zu ihren wartenden Besitzern zurückbrachten.

Immer wieder verschwand Sethi mit einer oder zwei kleinen Figuren aus Holz oder Ton im Allerheiligsten und kam zurück. Die Statuen waren dann in weiße Leinentücher gewickelt.

»Sethi, was hat der König gestern Abend im Allerheiligsten getan?«

»Er hat Atum-Re zum Obersten Gott des Reiches erkoren, und das hat er gestern Abend Ptah im Gebet mitgeteilt. Ptah scheint die Oberherrschaft des neuen Gottes anerkannt zu haben, denn er akzeptierte die rituellen Handlungen durch den König, den Hohepriester des Atum.«

»Seneferu ist Hohepriester des neuen Gottes?«, fragte ich überrascht.

»Er hat sich selbst dazu ernannt.«

»Wann wird der Tempel des Atum fertig gestellt sein?«

Sethi zuckte mit den Schultern. »Die Fundamente sind gelegt, glaube ich. Ich war lange nicht draußen.« Mit draußen meinte er die Welt außerhalb des Tempels.

»Gehst du nie nach draußen, Sethi?«

»Nein, was soll ich da?«

Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Aber ich wusste, was ich dort wollte: Ich wollte das Leben suchen, die Liebe, das Glück, die Freude und die Zufriedenheit, die ich im Tempel nicht finden konnte. Ich wusste, ich würde in meinem Leben niemals an die Oberfläche gelangen, um das Licht zu sehen, wenn ich nicht fest an mich glaubte und bereit war, gegen die Strömung des Lebensflusses, die mich fortzureißen drohte, anzukämpfen. Immer wieder. Ohne müde zu werden.

Ich fühlte mich im Tempel eingesperrt und fragte mich, ob mir die Weihe zur Priesterin überhaupt Erfüllung geben konnte. Die Initiation zur Gottesdienerin würde bedeuten, dass ich den Tempel nur noch selten verlassen könnte. Also beschloss ich, Schreiber zu werden, und malte mir meine Zukunft in allen Farben aus, die Träume haben können.

Kemet war ein streng zentral geführter Staat, der über eine äußerst effektive Verwaltung in den Tempeln, den Palästen der Gaufürsten und den Ministerien der Hauptstadt verfügte. Die Grundkenntnisse der Schreiberausbildung hatte ich mir in der Tempelschule bereits angeeignet, die Priesterwürde Ersten Grades würde ich in einem Jahr erlangen. Nach der Priesterweihe wollte ich den Tempel verlassen, um mir eine Position zu suchen. Vielleicht würde ich Schreiber bei einer reichen Dame werden mit umfangreicher Korrespondenz im ganzen Land? Oder vielleicht würde mich ein Kaufmann einstellen, der in den Fremdländern Handel trieb.

Als Sethi mich fragte, aus welchem Grund meine Leistungen in der Tempelschule von einem Tag auf den anderen sprunghaft anstiegen, antwortete ich ihm: »Ich will Schreiber werden.«

»Der Beruf des Schreibers wird vom Vater auf den Sohn vererbt«, schüttelte er den Kopf. »Du kannst nicht Schreiber werden.«

»Aber warum denn nicht?«

»Weil du eine Frau bist. Frauen werden nicht Schreiber.«

»Aber es ist doch nicht verboten! Es hat schon Frauen gegeben, die Schreiber waren.«

»Ja, das ist wahr. Ganz besonders privilegierte und begabte Frauen hatten in der Vergangenheit das seltene Glück, die Prüfungen zu bestehen und Schreiber zu werden. Aber es waren nur zwei in den vergangenen hundert Jahren.«

»Dann werde ich die Dritte sein!«, nahm ich mir vor.

Sethi sah mich nachdenklich an. »Wenn es jemand schaffen kann, dann du, Nefrit!«

Noch am gleichen Tag informierte ich die Tempelverwaltung darüber, dass ich meinen Ausbildungsgang ändern wollte. Angesichts der ungläubigen Gesichter zweier Tempelschreiber trug ich mich aus der Liste der Kandidatinnen aus, die Priesterin Fünften Grades werden wollten, und schrieb meinen Namen in eine kürzere Liste von Schülern, die die Ausbildung zum Schreiber absolvierten. Als ich die Namen durchsah, stellte ich fest, dass nur junge Männer den Unterricht besuchten.

Am nächsten Morgen brachte mich Sethi zu Niuser und verabschiedete sich von mir. Sethi war zuständig für den Lehrgang zum Priester Ersten Grades, nicht für den Ausbildungsgang zum Schreiber. Niuser war ein ehemaliger Minister in der Regierung von Huni, der sich nach der Thronbesteigung Seneferus in den Tempel zurückgezogen hatte.

In der letzten Reihe nahm ich auf einer Schilfmatte Platz und legte mein Schreibbrett auf die Knie. Ich war die einzige Frau unter fast dreißig jungen Männern. Ich betrachtete sie, während Niuser über grammatikalische Feinheiten und offizielle Höflichkeitsfloskeln in Briefen an die Verwaltung referierte.

Khai war wie ich fünfzehn Jahre alt. Ramses war sechzehn oder siebzehn, ein sehr attraktiver junger Mann. Neben mir saß Senenmut, der mir von Anfang an sympathisch war: Sein Lächeln konnte verzaubern.

Ramses beugte sich zu mir herüber, als Niuser uns gerade den Rücken zuwandte, um mit Holzkohle etwas an die Tempelwand zu schreiben.

»Was, bei Thot, willst du hier, Nefrit?«, flüsterte er.

»Ich werde Schreiber.«

»Du kannst nicht Schreiber werden! Du bist eine Frau: Verschwinde!«

Ich war entsetzt über seine Worte. Fühlte er sich als Mann mir überlegen?

»Du hast mich nicht verstanden, Ramses!«, klärte ich ihn auf. »Ich sagte nicht: Ich will Schreiber werden. Ich sagte: Ich werde Schreiber!«

In der Mittagspause saß ich allein auf den Stufen, die zum Heiligen See hinunterführten. Die Jungen beratschlagten im Schatten des Tempels, wie sie mich loswerden konnten. Einerseits machte mir ihr Verhalten Angst, denn ich war allein, andererseits war ich stolz auf meinen Mut, es mit neunundzwanzig Jungen aufzunehmen, besonders jetzt, da sie sich offensichtlich gegen mich verbündeten. Als Senenmut zu mir herüberkam, wusste ich, dass sie noch einmal vernünftig mit mir reden wollten.

»Überbringst du mir die Kriegserklärung?«, fragte ich ihn kaltblütig.

»Wir sind der Meinung, dass du nicht Schreiber werden kannst.«

»Und warum nicht?«

»Weil du eine Frau bist.«

Ich setzte die unbewegliche Maske auf, die ich bei Seneferu beobachtet hatte und die ich in den folgenden Jahren bis zur Perfektion beherrschen sollte. »Ja, und?« Ich sah ihm direkt in die Augen, als erwartete ich von ihm eine ausführliche Begründung.

Er konnte meinem Blick nicht standhalten. »Frauen werden nicht Schreiber!«

»Ich schon, Senenmut. Ich werde Schreiber!«

»Das werden wir sehen!«

Am Nachmittag saß ich allein in der letzten Reihe. Senenmut hockte sich auf der anderen Seite des Raumes auf den Boden, um Niusers Unterricht zu folgen. Niuser registrierte diesen Platzwechsel mit einem amüsierten Grinsen und fuhr mit seinem Unterricht fort.

Den späten Nachmittag verbrachten die Schüler in einer Gruppenarbeit damit, ein Konzept zu erarbeiten für die Verteilung von Feldfrüchten und Getreide aus den Magazinen auf die Landbevölkerung im Umkreis von zwei Tagesmärschen. Es bildeten sich fünf Gruppen. Keine von ihnen wollte mich aufnehmen, und so löste ich meine Aufgabe, die meiner früheren Tätigkeit auf der Baustelle meines Vaters ähnelte, allein.

Die Gruppen mussten ihre fertigen Pläne den anderen vorstellen. Die meisten Verteilungspläne dauerten aufgrund nicht organisierter Transportwege über vier Tage. Niuser kritisierte sehr sachlich und wies auf die Schwächen der verschiedenen erarbeiteten Lösungen hin.

Als ich mich erhob und meine Ergebnisse vorstellen wollte, war die Unruhe in der Klasse so groß, dass ich meine eigenen Worte nicht verstehen konnte. Doch dann verschaffte mir Niuser die nötige Ruhe für meinen Vortrag: Meine Lieferungen erreichten die Bevölkerung innerhalb von zweieinhalb Tagen nach Verpackung, und Niuser war zufrieden, weil nicht eine einzige Melone verloren gegangen war.

In der Klasse war es nach seiner abschließenden Bewertung still. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und doch hatte ich das Gefühl, dass mich keiner meiner Mitschüler wirklich ansah. Sie sahen durch mich hindurch, wie man den Feind in der Schlacht ansieht, um seine Fähigkeiten und seine Gefährlichkeit abzuschätzen, ihm aber nicht ins Gesicht sieht, um selbst keine Angst zu bekommen.

»Willst du mir etwas sagen?«, fragte ich ungeduldig. Während der Mahlzeit nach den Abendriten hatte sich Senenmut neben mich gesetzt und aß seinen Braten. Hin und wieder riss er von dem weißen Brot ab und tauchte das Stück in die fettige Sauce.

»Ich bewundere dich, Nefrit«, gestand er leise.

Ich war überrascht. Ich hatte mit einer verletzenden Bemerkung gerechnet, aber nicht mit einer Bezeugung seiner Anerkennung.

»Du bist stärker als ich.«

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber sie verachten nicht nur dich.« Senenmut sah mich nicht an.

Tatsächlich war es mir in meiner Konzentration auf meine Aufgaben nicht aufgefallen, dass Senenmut unter der Verhaltensweise der anderen Jungen litt. »Was tun sie dir an?«

»Sie ignorieren mich, weil ich nicht so bin wie sie.« Senenmut zögerte. »Ich bin nicht an Mädchen interessiert.«

»Na und? Du bist ein Jahr jünger als die anderen.«

»Das meine ich nicht. Es ist so furchtbar schwierig, darüber zu sprechen, Nefrit! Die anderen sind verliebt in einige von den Mädchen der Tempelschule, und manche treffen sich mit ihnen …«

»Das ist doch verboten!«

»Ramses hat mich schon einige Male mitgenommen, aber ich ... Bei Hathor! Nefrit, ich habe mich in den Priester Sethi verliebt. Ich würde ihn gern treffen.«

»Und liebt Sethi dich?«

»Ich hoffe es! Er hat mich einmal auf eine besondere Art angelächelt. Aber ich habe keine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Kannst du mir helfen, ihn zu treffen? Kannst du ihm eine Nachricht von mir überbringen?«

»Du bist verrückt!«, sagte ich voller Überzeugung.

»Das habe ich immer von dir behauptet, Nefrit! Ich werde dir immer dankbar sein, wenn du mir diesen Gefallen erweist.«

Wenn ich gewusst hätte, welche Konsequenzen sich für mich aus diesem Gefallen ergeben würden … Ich hätte es trotzdem getan.

Mein Schatten war nicht der einzige, der in jener Nacht zwischen den Säulen des Tempels umherirrte. Aus einigen der Kammern drang unterdrücktes Lachen, und so vermutete ich, dass Ramses und seine Freunde sich auf einem Eroberungsfeldzug auf der falschen Seite des Tempelareals befanden. Ich hielt Senenmuts Brief fest in der Hand und schlich zu den Kammern der Priester hinüber.

Sethi schlief nicht, und ich war überrascht, als ich ihn in Schreiberhaltung auf dem Boden sitzen sah. Er war nicht minder verblüfft. »Nefrit, bei allen Göttern, was tust du zu dieser Nachtzeit außerhalb deiner Kammer? Verschwinde sofort, man darf dich hier nicht sehen.«

»Ich habe eine Frage, die mich beschäftigt, Sethi. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?«

»Was quält dich, Nefrit?«

»Darf ich mich setzen?«

Sethi deutete auf die Schilfmatte neben sich, und ich nahm in Schreiberhaltung Platz. Seine Kammer war nur wenig größer als meine eigene. Eine Schlafmatte, eine Truhe und ein Klappstuhl waren die Einrichtung. An der Wand hingen an zwei Haken mehrere priesterliche Leinenschurze und Teile des Königsornats für die Riten. Auf der Truhe sah ich einen Bronzespiegel liegen, den ich zu gern betrachtet hätte.

»Hast du Probleme bei deiner Ausbildung als Schreiber?«

»Nein, Sethi, ich komme gut voran. Es ist nur …«

»Akzeptieren dich deine Mitschüler?«

»Mittlerweile habe ich mir ihren Respekt verdient, und Niuser unterstützt mich in meinem Wunsch, Schreiber zu werden.«

»Was führt dich dann mitten in der Nacht zu mir?«

»Ich benötige deinen Rat als Mann, nicht als Priester.« Mit diesen Worten legte ich meine Hand auf sein Knie. Ich war für Senenmuts Freundschaft zu jedem Opfer bereit.

»Meinen Rat als Mann?«, fragte Sethi und rückte einige Handbreit von mir ab. Meine Hand wischte er mit einer fahrigen Bewegung weg. »Was ist geschehen? Bist du verliebt?«

»Es geht nicht um mich, Sethi. Es geht um einen meiner Mitschüler.«

Ein Lächeln huschte über Sethis Lippen. »Ist er verliebt?«

»O ja, und wie! Er hat mir erzählt, dass er keine Nacht mehr schlafen kann. Er hat mich um Rat gefragt, aber ich habe ihm gesagt, dass ich in dieser Beziehung keine Erfahrungen habe. Deshalb wollte ich dich um Rat fragen. Als Mann.«

»Ich verstehe nicht, Nefrit.«

»Mein Freund möchte einen Rat, wie er sich der geliebten Person nähern soll.«

»Das kannst du ihm als Frau doch viel besser erläutern.«

»Mein Freund liebt keine Frau, sondern einen Priester. dich.«

»Mich?«

»Er hofft, dass auch du dich in ihn verliebt hast.«

Ich habe nie wieder einen Mann auf derart bezaubernde Weise erröten sehen wie Sethi. »Wer ist es?«, flüsterte er heiser.

»Senenmut.«

Als Sethi, den Blick abgewandt, über die Möglichkeiten nachdachte, die diese Beziehung für seine Stellung im Tempel sowie für die weitere Karriere von Senenmut bedeuten könnte, reichte ich ihm Senenmuts Brief. Sethi nahm ihn mit zitternden Händen entgegen, entfaltete ihn und las die poetischen Worte, die ich für Senenmut in meiner besten Schrift zu Papyrus gebracht hatte.

Die ersten Worte des Briefes las Sethi flüsternd vor, dann verloren sich seine Worte inmitten seiner Gedanken: »Mein Geliebter, diesen Brief wage ich auf ein Zeichen von dir zu schreiben, ein kleines Zeichen nur …«

Ich wartete einige Augenblicke, bis Sethi die Konsequenzen einer Liebesaffäre zwischen einem Priester und einem Tempelschüler bewusst geworden waren, und dann fragte ich: »Willst du Senenmut treffen?«

»Ja, ich werde ihn treffen. Aber nur, um ihm zu sagen, dass das völlig unmöglich ist!«

»Was soll ich Senenmut sagen?«

»Ich werde ihn morgen Nacht an der dem Hapi zugewandten Seite der Tempelmauer treffen, dort, wo die Statue der Sekhmet steht. Bitte richte ihm das aus!«

»Das werde ich tun.« Damit erhob ich mich und wünschte ihm eine gute Nacht. Ich war überzeugt davon, dass es die unruhigste Nacht seines Lebens werden würde.

»Was hat er gesagt?«, fragte mich Senenmut noch vor den Morgenriten. Er war so ungeduldig, dass er mir bis zu meiner Kammer entgegengekommen war.

»Er will dich treffen!« Was Sethi über eine mögliche Beziehung noch gesagt hatte, verschwieg ich. Die beiden Verliebten sollten ihr Schicksal selbst bestimmen.

»Wann?«

»Heute um Mitternacht an der Statue der Sekhmet.«

»Danke, Nefrit!« Dankbar rieb er seine Nase an meiner Wange.

Niusers Vortrag nach den Morgenriten referierte über die Landvermessung nach der Überschwemmung und die Steuerfestsetzung. Da ich durch meinen Vater über das Steuersystem bereits ausreichend informiert war, hatte ich Muße, Senenmut zu beobachten, der den ganzen Vormittag wie ein zappelnder Fisch auf dem Trocknen auf seiner Sitzmatte herumrutschte und geistesabwesend die Wände anstarrte.

Während der Mittagspause setzte er sich neben mich in den Schatten des Tempels, und wir aßen das Brot gemeinsam.

»Kannst du mich heute Abend begleiten, Nefrit?«

»Wozu?«, fragte ich kauend.

»Ich habe … ich bin ein wenig …«

»Aufgeregt?«, legte ich ihm das richtige Wort in den Mund.

»Ja«, gestand er mit entwaffnender Ehrlichkeit ein. Wie konnte ich seinem Wunsch nicht entsprechen?

Ich begleitete Senenmut zur verabredeten Stelle. Doch anstatt in meine Kammer zurückzukehren, versteckte ich mich zwischen den Säulen.

Sethi trat aus dem Schatten hinter der Sekhmet-Statue, als Senenmut sich näherte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sich sagten. Aber Sethis Gestik entnahm ich, dass er Senenmut über die Konsequenzen einer Beziehung mit einem Gottesdiener aufklärte. Senenmut stand wie eine Statue vor ihm, bis Sethi fertig war. Dann sagte er ein paar Worte, auf die Sethi wiederum antwortete. Senenmut näherte sich dem Priester und nahm seine Hand, die er im Verlauf des Wortwechsels nicht mehr losließ. Sethis Gestik wurde immer weniger ablehnend, und schließlich sah ich die beiden ihre Nasen aneinander reiben. Senenmut schlang seine Arme um die Schultern des Priesters und küsste ihn auf die Lippen. Sethi antwortete ihm mit aller Leidenschaft. Dann gingen sie zusammen weg.

Nach den Morgenriten sah ich Senenmut wieder. Er war übermüdet und konnte kaum die Augen offen halten, aber er lächelte, als sei er von Hathor selbst geliebt worden. Den ganzen Vormittag träumte er neben mir in Niusers Unterricht. Ramses und Mektire tuschelten während des Vortrages und machten sich über ihn lustig.

In der Mittagspause setzte sich Senenmut neben mich und steckte mir eine Tonscherbe zu. »Danke wegen gestern Abend, Nefrit. Kannst du diesen Brief Sethi geben?«

Ich zog die Tonscherbe aus dem Ausschnitt meines Kleides und las sie in seiner Gegenwart. »Du bist verrückt, Senenmut! Das wird er niemals tun!«, sagte ich voller Überzeugung.

»Er hat es bereits getan. Gestern Nacht.«

Gegen Mitternacht stahl ich mich an der schlafenden Iya vorbei aus meiner Kammer und machte mich auf den Weg zu Sethi. Er war nicht überrascht, als ich den Vorhang seiner Kammer zurückschlug und eintrat. Wortlos reichte ich ihm Senenmuts Nachricht.

Sethi las die Scherbe und ging unruhig in seiner Kammer auf und ab, wie ein Löwe, der nach einem Ausweg aus seinem Käfig sucht. Dann setzte er sich, zog die Schreibplatte auf seine Knie und verfasste innerhalb von wenigen Augenblicken eine nicht minder poetische Antwort an seinen Geliebten.

Sethis und Senenmuts Affäre blieb mehr als sieben Monde unentdeckt, bis eines Nachts Ramses, der die Kammer mit Senenmut teilte, seinem Mitschüler durch den nächtlichen Tempel zu einem Treffen mit seinem Geliebten folgte.

Ramses konnte diese Neuigkeit nicht für sich behalten, und um seine eigenen schwachen Leistungen aufzubessern, erzählte er der Tempelverwaltung von seinen Beobachtungen. Am nächsten Tag fehlte Senenmut im Unterricht, und auch Sethi konnte ich nirgendwo finden.

Am selben Abend zog Sethi seine priesterliche Kleidung aus. Ich half Senenmut beim Packen. »Wohin wollt ihr gehen?«

»Wir wissen es noch nicht. Sethi hat eine Ausbildung als Schreiber, und ich stehe auch kurz vor meiner Abschlussprüfung.«

»Deine Karriere ist beendet.« Meine Worte waren taktlos, entsprachen aber der Wirklichkeit.

»Das weiß ich, Nefrit. Ich werde mich schon durchschlagen. Mein Geliebter ist mir wichtiger als meine Karriere.«

Zum Abschied küsste mich Senenmut, und ich erkannte, was Liebe bedeuten konnte. Ich dachte an meine eigene erste Beziehung zu Sekhem zurück. Wie lange war das her? Beinahe drei Jahre!

An jenem Abend verschwand Iya. Sie ging, als sie vermutete, dass ich eingeschlafen war. Als ich das Rascheln ihrer Schlafmatte hörte, horchte ich auf. Iya, die gewöhnlich nicht vor dem Morgengrauen aufwachte, erhob sich von ihrem Lager und beugte sich über mich, um sich zu vergewissern, dass ich schlief. Ich hielt die Augen geschlossen und atmete tief und ruhig. Iya verließ unsere Kammer und kehrte erst in der Morgendämmerung zurück.

Als sie sich auf ihre Schlafmatte gelegt hatte, drehte ich mich zu ihr um: »Wo warst du?«

»Das geht dich nichts an.«

»Hast du dich mit einem Mann getroffen?«

Meine Vermutung schien nicht so abwegig, denn im fahlen Schein des Morgenlichts sah ich sie erröten. »Das kann ich dir nicht sagen, Nefrit.«

Ich war gnadenlos. »Du weißt, was passiert, wenn ich deinen nächtlichen Ausflug der Tempelverwaltung melde?«

»Das wirst du nicht tun!«

»Traust du mir das nicht zu?«

Iya überlegte kurz. »Doch, das traue ich dir zu. Schließlich hast du auch Sethi und seinen Geliebten auf dem Gewissen.«

Sie konnte mein Gesicht nicht sehen, und ich war froh darüber. Hatte sich herumgesprochen, dass ich die Liebesbriefe befördert hatte? Wer war auf die Idee gekommen, ich hätte die beiden bei der Tempelverwaltung angezeigt? »Wer hat dir das erzählt?«

»Ramses.«

Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ich konnte meine Beteiligung an dieser Affäre leugnen, aber Iya würde mir nicht glauben. Oder ich könnte meinen Ruf riskieren und ihr das Geheimnis ihrer nächtlichen Eskapaden abtrotzen. Ich entschied mich für Letzteres. Was hatte ich zu verlieren? »Du triffst dich mit Ramses?«

Sie zögerte, aber ihre Angst vor meiner Anzeige bei der Tempelverwaltung überwog. »Ich treffe mich nicht mit Ramses. Ich war heute Nacht draußen.«

»Wo warst du?«, fragte ich, fasziniert von dem Gedanken, den Tempel verlassen zu können.

»Ich war im Haus der Krieger. Ich habe meinen Verlobten getroffen. Bitte erzähle es niemandem, Nefrit!«

»Nein, nein, natürlich nicht. Unter einer Bedingung.«

Iya sah mich unruhig an. »Welche Bedingung?«

»Du nimmst mich das nächste Mal mit.«

Die Baumeisterin

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