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Kapitel 1 MOTIVE DES EINSTIEGS - REFLEXION

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Heute ist Freitag der 21. Dezember 2012, Winteranfang. Ich beobachte verträumt die Schneeflocken, die pünktlich zu diesem Datum vom grauen Himmel rieseln. Die roten und weißen Eriken bilden einen optimistischen Farbkontrast dazu. Mein Rosmarinstock ist noch in voller Blüte. Unzählige zarte, hell lavendelblaue Sternchen nicken mir zu, wenn der Wind durch die langen Triebe streicht, als wollten sie mich daran erinnern, wie gemütlich mein Tag ist. Wie Recht sie haben. Wenn ich nur fünf Jahre zurückdenke, graut mir vor der Erinnerung. Morgen ist Samstag. Samstag war Diensttag. Meine Gewohnheit war es, mindestens eine Stunde Straßendienst zu machen. Oft bemühte ich mich, den Rat aus unseren Schriften zu befolgen und die Zeit auf zwei Stunden auszudehnen. Das war wichtig für das Ergebnis auf dem monatlichen Berichtszettel. Wenn ich nun aber zurückschaue und mich erinnere, wie ich mir diesen Dienst oft abringen musste, stelle ich zum hundertsten Mal fest, dass ich immer noch nicht völlig begreife, wie das möglich war.

Mein Kopf hat inzwischen viel Wissen über das Wesen der Manipulation gespeichert. Ich habe einiges über die sozialpsychologische Manipulationstechnik und die suggestive Sprachtechnik erfahren. Die Manipulierenden arbeiten damit, um Verhalten, Denken und Fühlen zu beeinflussen. Ich weiß nun, dass man mit Psychotricks Sympathie erzeugen, Emotionen hervorrufen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Weltbilder verändern kann, um sie dem Ziel der Führer anzupassen.

Trotzdem fühle ich in meinem Herzen Schmerz und Trauer über die verlorenen Jahre meines Lebens.

Manchmal beglückwünschen mich Menschen zu meiner neugewonnenen Freiheit. Sie sagen, ich sollte darüber frohlocken. Aber es ist sehr schwer zu frohlocken, wenn man so viel verloren hat. Jahrzehnte seines Lebens erscheinen einem nun wie in die Mülltonne gekippt. Wo sind die ganzen „Freunde“, denen man so bedingungslos vertraut hat? Wie soll ich angesichts der Zurückweisung meiner Familie frohlocken? Mir tut es oft körperlich weh, wenn ich mich dazu zwinge in eine andere Richtung zu schauen. Eben nicht mehr zurück, sondern nach vorne. Dort kann ich schon die kostbare Freiheit sehen. Das tut gut. Aber das alte Gleis ist noch nicht völlig aus meinem Sinn verschwunden. Es lauert immer wieder darauf, mich aus der Bahn zu werfen.

Elisabeth Bond schreibt:

„Das kosmische Gesetz besagt, dass jeder Mensch über sich selber bestimmt. Nichts und niemand kann über einen anderen bestimmen, außer dieser lässt es zu. […] Stimmen die Worte mit den Gedanken überein, stimmt der Ausdruck mit Deiner inneren Haltung überein, haben die Worte einen negativen oder einen konstruktiven Aufbau? Denn Deine Worte führen Dich geradewegs in Deine Bestimmung. Und Deine Bestimmung hier auf Erden ist Dein Seelenplan, ist das, was Du ganz speziell gut kannst oder tun möchtest.“1

An Bestimmung, Vorherbestimmung, Schicksal hatte ich nie geglaubt. Das hätte der Erklärung widersprochen, dass wir uns einer theokratischen Leitung unterwerfen müssen. Meine innere Stimme hat oft dem widersprochen, was ich tatsächlich gesagt habe. Was mein Seelenplan gewollt hätte, war niemals entscheidend. Wir beachteten den Bibelvers:

Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine“.2

Das individuelle ICH musste eine neue Persönlichkeit anziehen und sich dem kollektiven WIR unterwerfen. In meinem Fall geschah dies bereits als ich ein Kind war. Ich ahmte meine Eltern nach. Sie ließen sich von den Forderungen einfangen, die in den vielen Veröffentlichungen der Wachtturm Organisation an sie gestellt wurden. Ich erinnere mich noch sehr gut an das monatliche Mitteilungsblatt mit den Gruppenanforderungen, die unser Leben in den 50er Jahren strukturierten. Das Blatt hieß damals noch Informator, inzwischen Königreichsdienst und enthielt die jeweils aktuellen Aufforderungen zur Tätigkeit an alle Zeugen Jehovas. Es waren Sätze wie die folgenden zu lesen:

„ … müssen wir predigen …

… müssen die Wahrheit verkündigen …

… müssen wachsam und unermüdlich tätig sein …

Wir müssen vorandrängen.

Die verbleibende Zeit ist verkürzt.

Die wahrheitssuchenden Menschen müssen gefunden werden.

Damit uns das gelingt, müssen wir gewandte Prediger sein.

Wir müssen unsere Erkenntnis erweitern.

… müssen wir jedoch eifrig tätig sein.

Du musst auf dem Laufenden bleiben.

Du musst bei den Versammlungen aufmerksam zuhören.

… müssen uns auch vor den feinen Schlingen in acht nehmen.

Vielleicht ist die Schlinge, die dich zu Fall bringen könnte, die Vergnügungssucht oder der Materialismus. Vielleicht verleiten dich Überstunden-Entschädigungen dazu, den Dienst oder die Zusammenkünfte zu versäumen.“

Ein wichtiger Hinweis in der Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders. Wir sollten nicht etwa mehr Zeit dem eigenen, materiellen Fortschritt widmen als dem Predigen und Jünger machen, die wichtigsten Begriffe, die wir in der neuen Bedeutung lernten. Meine Großmutter sagte dazu „Neumitglieder werben“. Es war die Warnung vor Überstunden. Meine Eltern achteten streng darauf, dass sie für unsere materiellen Bedürfnisse nicht mehr Zeit als unbedingt nötig war einsetzten.3

Damals wie heute ist predigen, also die Werbung von Neumitgliedern, das oberste Ziel der Zeugen Jehovas. Die Mehrung der Ressourcen der Watchtower Society. Jeder Neue ist eine Quelle von geldwerten Vorteilen durch den Einsatz an freiwilligen Spenden und unbezahlter Arbeitszeit. Ein Immobilienbesitzer hat normalerweise die Kosten für Unterhalt, Reparaturen, Renovierung, Umlagen etc. zu tragen. Die Immobilien der Wachtturm-Gesellschaft bzw. der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas werden von ihren Mitgliedern in freiwilliger Leistung gebaut, unterhalten, und für die Nutzung der Kongresssäle werden zudem regelmäßig freiwillige Spenden an die Wachtturm-Zentrale gleistet. Dazu kommt der kostenlose Werbeeinsatz von Haus zu Haus, auf den Straßen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zu der Zeit, als sich meine Eltern dieser Gemeinschaft anschlossen, gab es weltweit weniger als 500 000 Mitglieder. Im Jahre 2012 waren es mehr als 7 500 000. Das Konzept ist also erfolgreich umgesetzt worden.

Hätte ich damals auf meine innere Stimme hören können, dann wäre ich dem Vorschlag meines Lehrers gefolgt und hätte eine weiterführende Schule besucht. Doch kurz bevor ich meine Schulzeit abgeschlossen hatte, erschien im Wachtturm vom 1. Februar 1952 die folgende Drohbotschaft, verbunden mit der Abbildung eines flammenden Schwertes:

Das Blutbad und die Vernichtung von Harmagedon werden so grässlich sein, dass es jeder menschlichen Beschreibung spottet. Bereits sind die Aasgeier und die wilden Tiere des Waldes und der Zoos eingeladen worden, sich zu erlaben an den vielen Millionen Leichen der Männer, Frauen und Kinder, der Hohen und Mächtigen sowohl wie ihrer sklavischen Diener.“

Etwas später, im Wachtturm vom 15. Mai 1952, wurde das nahe Ende als so nahe beschrieben, dass es nicht mehr wahrscheinlich wäre, ein Hochschulstudium abschließen zu können.

Oder wäre es besser gewesen, in den Vollzeitdienst, den Dienst für unsern Gott Jehovas einzutreten? Schaut, weil wir uns geweiht haben, den Willen Gottes zu tun, sind wir nicht wie die andern hier in der Schule, deren einziges Streben es ist, vorwärtszukommen, eine hohe soziale Stellung zu erlangen und einen Haufen Geld zu verdienen. Wir wissen, dass dieses alte System der Dinge in Harmagedon bald vernichtet wird; was für Gründe sprechen also dafür, eine höhere Schule zu besuchen, wenn wir im Felde sein könnten, um andere zu warnen? Und außerdem besteht die große Gefahr, dass man in den Treibsand der Unsittlichkeit gerät oder wegen der gottlosen Zustände an heutigen Schulen seinen Glauben ganz verliert. […] Die Bildungssysteme sind sehr mangelhaft und der laufende Studiengang für einen Christen von wenig praktischem Wert. Die vor Harmagedon verbleibende kurze Zeit sollte so nutzbringend als möglich verbracht werden. Der Druck auf den Glauben und die Lauterkeit eines Schülers von jeder Seite des Schullebens her ist für den Schüler schwer. Von der einen Seite wird seinem Sinn fortwährend die Evolutionstheorie und der Unglaube aufgezwungen, und aus anderer Richtung suchen die Kräfte der Unsittlichkeit seine christliche Grundlage zu untergraben und zu zerstören. Wer offen Stellung nimmt für Gottes Königreich der Gerechtigkeit als des Menschen einzige Hoffnung wird oft boshaft verleumdet, lächerlich gemacht und von der Studentenschar wie von der Lehrerschaft verfolgt. […] alle Unterrichteten werden unbedenklich zugeben, dass in den gegenwärtigen Bildungssystemen manches verkehrt ist …“

Der Kernsatz dieses Wachtturms ist wohl der:

„Es ist gut, wenn du deinem Sinn und auch dem Sinn anderer die Nähe Harmagedons einprägst … Es wird somit offenbar, dass die oben erwähnten Gründe … dafür sprechen, dass man nicht in eine höhere Schule gehe.“ „Denkt daran; Jesus war ein Zimmermann und Paulus ein Zeltmacher, andere waren Fischer … Es ist daher für Glieder der Organisation des Herrn, die ihr Leben dem Königreich geweiht haben, gut, wenn sie sich von einer Teilnahme an Schulsport oder Athletik und von gesellschaftlichen Anlässen der höheren Schulen zurückhalten. Indem sich jemand von den Dingen dieser Welt abgesondert hält, kann er sich zum Felddienste völliger mit des Herrn Volk verbinden.“

Allein dieser eine Artikel enthielt so viel Negatives über das Schulleben und seine Auswirkungen. Natürlich war es da kein Wunder, dass mein Vater strikt gegen den Besuch einer höheren Schule war. Ob die Beschreibung der Zustände an den Universitäten zutreffend war oder nicht, konnte mein Vater nicht beurteilen. Als Kriegshalbwaise konnte er schon von Glück reden, dass seine Mutter ihn nach vier Schuljahren in eine Handwerkslehre gegeben hatte.

Viele akademische Berufe wurden uns im Übrigen so dargestellt, als wären sie für das neue Paradies völlig sinnlos, da es dort weder Krankheit noch Rechtsstreitigkeiten gäbe und auch alle Menschen wieder eine gemeinsame Sprache hätten und vollkommen würden. Ein Universitäts-Studium hätte für die Zeit nach Harmagedon einfach keinen Wert.

Aber war die mangelnde Bildung wirklich der Grund dafür, dass mein Vater dem Überbringer dieser neuen Lehre mehr glaubte als meinem Lehrer? Wieso hat er sich nicht gewundert, dass unsere Lehrer, Ärzte, Apotheker, Architekten und andere Hochschulabsolventen weder unsittlich noch kriminell oder gottlos waren? Auch war das Ehepaar, das bereits vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges mit den Bibelforschern in Verbindung stand, ganz gewiss nicht ungebildet. Sie hatten eine Bäckerei und wurden bald unsere Gönner als wir begannen, regelmäßigen Kontakt mit der Gruppe zu pflegen. Ich ging oft mit ehrfürchtigem Staunen in deren Bibliothek und betrachtete die vielen Bücher. Den großen Brockhaus, die jüdische Geschichte von Josephus, die Werke von Schiller und Goethe, sowie viele Klassiker der Literaturgeschichte. Diese Leute waren sowohl gebildet als auch tief gläubig. Die Frau sagte jeweils: „Ob einer oder keiner, viele oder wenige, es glauben oder nicht glauben, spielt für mich keine Rolle. Wir können sicher sein, dass Gott seinen Vorsatz verwirklichen wird.“ Auch sie glaubte daran, dass sie in der Wahrheit seien.4

Der Ausdruck „Die Wahrheit“ wird bei den ZJ als absoluter Begriff verwendet. „Wenn eine Gruppe diese ausschließlich für sich beansprucht, wird es zum Dogma. Es wird keine alternative Möglichkeit zugelassen. Das ist eine Methode der Immunisierung gegen kritisches und eigenständiges Denken.“ (Aa W, S. 27,28)

Ich habe mir inzwischen einen ganzen Stapel Bücher besorgt, in denen ich nach Antworten auf meine vielen Fragen suche.

Eine mögliche Erklärung gibt mir M. T. Singer5 mit dem Hinweis,

„dass jeder von uns für Schmeicheleien, Täuschung und Verführung anfällig ist, wenn er einsam, traurig und bedürftig ist. Die Menschen sind im Allgemeinen nicht Suchende, sondern die Sekte geht aktiv und aggressiv vor, um Anhänger zu werben.“

Das stimmt schon, mein Vater war alles andere als ein Suchender nach einer neuen Religion. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich von seiner Religion losgesagt, weil er enttäuscht war von ihr. Gott hatte den Krieg nicht verhindert, der so viel Leid und Zerstörung über die Menschen gebracht hat, sondern hat sogar noch seine Diener beauftragt, die Waffen zu segnen. Das konnte er nicht verstehen. Er wollte von Religion nichts mehr wissen. Tatsache ist aber auch, dass wir traurig waren, ja traumatisiert, arm, bedürftig und entwurzelt. Unwillkommene Flüchtlinge in einer fremden Welt. Strandgut nach einer unbeschreiblichen Katastrophe, die sich 2. Weltkrieg nannte.

Die Schmeichelei, mit der meine Eltern umgarnt wurden, war verführerisch. Das Argument, dass Jehovas Zeugen sich nicht am Krieg beteiligt hatten und dass sie sogar wegen ihrer Weigerung, das Heil von dem Führer Hitler zu erwarten, im KZ waren, war für meinen Vater so überzeugend, dass er alle weiteren Erklärungen bereitwillig als Die Wahrheit akzeptierte.

Frau Singer sagt:

„In der Anwerbungsphase wird in der Regel mit Täuschungen gearbeitet, und neue Mitglieder haben keinerlei Vorstellung darüber, was von ihnen erwartet wird, wenn sie einmal Mitglied sind. Aus den Berichten vieler ehemaliger Sektenmitglieder weiß ich, dass die Erfahrungen, die sie, im Netz der Gruppe verfangen, gemacht haben, vom ersten Eindruck, den sie hatten, recht verschieden waren.“

Dem kann ich nur voll zustimmen. Mein Vater wäre niemals ein Zeuge Jehovas geworden, wenn er von den Aufrufen in den Wachtturmausgaben von Juni und August 1915 gewusst hätte. Darin wurden die deutschen Bibelforscher ermutigt, den Kaiser dabei zu unterstützen, Jerusalem von den Türken zu befreien. Mein Vater wusste nichts von den Feldpostbriefen, den Namen der Einberufenen und Gefallenen im ersten Weltkrieg, die in den Wachtturm-Ausgaben veröffentlicht wurden.6 In diesem Punkt wurde er über die Rolle der Wachtturm-Gesellschaft im ersten Weltkrieg durch Weglassen von wichtigen Informationen getäuscht.

Er konnte sich auch nicht kritisch mit dem Einfluss der Wachtturmführung bei dem Verbot der Zeugen Jehovas durch das dritte Reich auseinandersetzen. Zum Beispiel der Frage nachgehen, ob die Verweigerung des Hitlergrußes oder eher die Protesttelegramme, die durch die Leitung in Brooklyn veranlasst wurden, der wirkliche Grund für die verschärfte Verfolgung waren. Es könnte auch sein, dass die Haltung der IBV, der Internationalen Bibelforscher Vereinigung, zur Judenfrage der Grund für Hitlers Einschätzung war, dass es sich um eine barbarische Sekte handelt. Jedenfalls hatte die Resolution, die anlässlich ihres großen Kongresses am 25. Juni 1933 angenommen wurde, nicht die erhoffte Wirkung für die Zeugen Jehovas. Obwohl sie darin die Gemeinsamkeiten mit der neuen Regierung herausstellten:

„Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, dass die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziele gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervor gehoben werden.“ (…) „Anstatt, dass unsere Schriften und unsere Tätigkeit die Grundsätze der nationalen Regierung gefährden, werden in ihnen die hohen Ideale sehr unterstützt.“

Ja sie versuchten sogar darzulegen, dass sie ebenfalls eine antijüdische Haltung hatten:

„Das angloamerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. (…) Es sind die Handelsjuden des britisch-amerikanischen Weltreichs, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker.“

Im Begleitschreiben, mit dem die Resolution an Hitler übersandt wurde, machte man die „Geschäftsjuden und Katholiken“ für die angebliche Falschdarstellung der IBV verantwortlich.7

Dass es bei dem Verbot nicht allein um die Wehrdienstverweigerung ging, kann man aus der Tatsache ablesen, dass auch Frauen in Konzentrationslager gebracht wurden.

Auch hat mein Vater die Frage nicht klären können, ob sich die Zeugen Jehovas um die Freiheit in unserem Land Gedanken machten und sich dafür einsetzten, wie es zum Beispiel die Widerstandskämpfer um Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl oder Graf Stauffenberg taten, die ungeachtet dessen wie die Mehrheit handelte, wirklich ihrem eigenen Gewissen folgten, oder ob sie lediglich die Wahl hatten zwischen dem Gehorsam gegenüber zwei verschiedenen Diktaturen. Die eine nannte sich Theokratische Herrschaft und behauptete, es sei erforderlich, mit einem gut geschulten Gewissen gegen die Anweisungen der Regierung zu handeln.

Der andere Diktator war der Führer des dritten Reiches.

Es ist keine Frage, dass jedem einzelnen Menschen, dem von diesem Regime Leid und Grausamkeit widerfahren ist, weil er aus Glauben und Gottesfurcht jedes Leid ertragen hat, Respekt und Hochachtung gebührt. Es ist nicht die Aufgabe der Nachfahren darüber zu richten, ob der Einzelne aus Gehorsam, Angst oder ehrlichem Glauben gehandelt hat. Jedes einzelne Schicksal muss als Mahnmal gegen willkürliche Grausamkeit und Missachtung der Menschenwürde gewürdigt und im Gedächtnis der Nation bewahrt werden.

Doch nach meinem persönlichen Empfinden ist es nicht redlich von der Wachtturm-Gesellschaft, nun die Opfer zu ihrer eigenen Verklärung zu missbrauchen - war sie doch der mögliche Auslöser der extremen Verfolgung. Ich erinnere mich an keinen Hinweis in der Wachtturm-Literatur, dass alle aus religiösen Motiven Internierten den lila Winkel trugen und unter dem Sammelbegriff „Bibelforscher“ geführt wurden. Die „freien Bibelforscher“, die sich immer noch an die Lehren ihres Pastors Russell hielten, gehörten da ebenso als Kriegsdienstverweigerer dazu wie die Quäker, die Nazarener oder die Siebenten-Tags-Adventisten, die Hitler ihre Gefolgschaft ebenfalls verweigerten, wenngleich sie als Gruppe zahlenmäßig vergleichsweise gering waren.

Regime-Gegner aus kirchlichen Kreisen, wie beispielsweise Kaplan Karl Kunkel aus Ostpreußen, der 1944 von der Gestapo verhaftet und 1945 aus dem KZ Dachau befreit wurde, trugen einen roten Winkel. Sie wurden als politische Gefangene eingestuft.

Hier meldet sich meine innere Stimme ganz intensiv zu Wort. Wie schön, ich darf auf sie hören. Ich frage mich, warum hat meine Mutter nicht protestiert? Sie war doch eine sehr gläubige Frau. Ich habe sie auf unserem Weg durch Ungarn und Österreich, als wir auf der Flucht waren, unzählige Male in Kirchen und Kapellen gehen sehen. Sie hat Gott um Schutz angefleht. Ich möchte glauben, dass wir es nur ihrem Gottvertrauen und der Kraft und Zuversicht, die sie daraus schöpfte, verdanken, dass wir die hunderte Kilometer zu Fuß durch Feindesland lebend überstanden haben.

Aber ja, es stimmt auch, dass meine Mutter zusehen musste, wie wir drei Mädchen im Alter von vier, fünf, und sieben Jahren während der acht Monate im Flüchtlingslager an den Rand des Hungertodes kamen. Sie selbst war auf fünfundvierzig Kilo abgemagert. Sie vermisste ihre Eltern und Geschwister. Sie stand zwischen Baum und Borke in unserem neuen Zuhause. Die Schwiegermutter ließ sie nach wie vor spüren, dass sie nicht die standesgemäße Schwiegertochter war. Sie hatte für ihren Sohn die Erbin einer Schreinerei auserkoren. Mein Vater hatte ein Loyalitätsproblem. Zu wem sollte er halten? Zu seiner Frau oder zu seiner Mutter und seinen Geschwistern? Meine Tante hatte dafür gesorgt, dass die Familie meines Vaters nahe zusammenrückte. Es war geradezu eine Kolonie von ehemaligen Freunden und Verwandten aus Tscherwenka. Meine Mutter, die mittellose Komödiantin aus Stanischitsch blieb die Geduldete.8

Oh ja, meine Mutter war traurig, einsam, verzweifelt. Auch ihre elementaren Bedürfnisse waren bedroht. Es ging um ganz normale Dinge wie Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf haben, Stabilität und Sicherheit, sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sie war sogar sehr anfällig für die Schmeicheleien, die sie in dieser neuen Gruppe erfuhr. Hier wurde sie willkommen geheißen. Mit dem permanenten Hinweis: „das steht in der Bibel“ wurde das Vertrauen meiner Mutter sehr schnell gewonnen. Das gaukelte ihr Stabilität und Sicherheit vor. Sie glaubte, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Die Hoffnungsbotschaft, dass es sehr bald mit aller Ungerechtigkeit ein Ende haben würde und danach niemand mehr krank würde, niemand mehr zu hungern brauchte, dass jeder sein eigenes Haus, seinen Weinstock und Feigenbaum hätte und er nie mehr von dort vertrieben würde, denn „Kriege lässt er aufhören für immer“ verspricht die Bibel, hörte meine Mutter nur allzu gerne. Meine Mutter klammerte sich immer mehr an diesen Strohhalm der verlockenden Versprechungen.

Zu den Methoden der Manipulation gehört es, sich mit einer höheren Instanz zu sozialisieren. Einerseits wird die Bibel als von Gott inspiriert zur Autorisierung der eigenen Aussagen verwendet und andererseits die Verantwortung für die Erfüllung der Versprechungen auf Gott abgewälzt.

Meine Mutter vertraute mit ganzem Herzen darauf, dass ihr Die Wahrheit überbracht wurde.

Doch was war mit mir und meinen Geschwistern? Warum war ich so schnell begeistert? Warum wollte ich unbedingt ebenfalls zu dieser Gruppe gehören?

Wenn ich es recht überlege, dann habe auch ich mich von Schmeicheleien und Versprechungen einfangen lassen. Ich war in der Schule das arme Heidenkind. Meine Lehrerin ließ die Klasse sogar jeden Morgen ein Extragebet für mich beten. Ich war die einzige evangelische Schülerin in dieser katholischen Klasse. Anfangs hatte ich noch nicht einmal Schuhe. Ich musste barfuß zur Schule gehen. Mit meinem zerschlissenen Kleid und einem Schulranzen aus Holz, den mein Vater gemacht hatte, fiel ich wirklich auf. Ich schämte mich. Ich wurde von der Wiese mit einem Knüppel verjagt, wenn ich nur einige Sauerampfer für die Suppe pflücken wollte. Sollte ich, nur weil ich noch ein Kind war, keine Grundbedürfnisse haben dürfen? Auch ich wollte nie mehr hungern, oder diese scheußliche Sauerampfersuppe essen müssen. Ich wollte nie wieder Angst davor haben müssen, dass wir von Grenzposten erwischt und erschossen werden. Ich wollte zu einer Gemeinschaft dazugehören und nicht das ausgegrenzte arme Heidenkind sein. Ich sehnte mich nach Achtung und Anerkennung.

Zu den Methoden der Manipulation gehört die Gefühlskontrolle. Die Sehnsucht nach Anerkennung innerhalb einer sozialen Gruppe wird durch das Versprechen befriedigt, dass man Anerkennung und Glück nur innerhalb der Gruppe finden wird.

Die Bibelforscher waren freundlich zu uns. Sie machten mir Komplimente und lobten mich überschwänglich, wenn ich eine Frage aus ihrem Studienbuch richtig beantwortete. Um diese Anerkennung zu bekommen, lernte ich begierig. Ich beobachtete meine Eltern und ahmte sie nach. Auch ich vertraute bald und glaubte, dass die Zeugen Jehovas Die Wahrheit hatten, denn sie konnten sogar voraussagen, dass wir von unserer Verwandtschaft, von Freunden, Arbeitskollegen und Mitschülern für unseren neuen Glauben verspottet würden. Das wäre der Beweis, dass wir die wahren Nachfolger Christi seien9, denn er sagte selbst:

„Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“10

Nun gab es auch für mich eine Sache, in der ich viel reicher war als alle anderen. Ich kannte Die Wahrheit. Ich konnte damit einem Gebot der Bibel folgen:

„ … sammelt euch aber Schätze im Himmel wo weder Motte noch Rost zerstört.“11

Wieder solche Zitate aus der Bibel, die uns das Gefühl gaben, diese Offenbarung und Auserwählung direkt von Gott bekommen zu haben. Unglücklicherweise reagierte die Bevölkerung damals sehr kontraproduktiv. Auch die Vertreter der Kirchen machten Stimmung gegen die Haus zu Haus Tätigkeit und wetterten dagegen von den Kanzeln. Sie ließen sich von den provokanten und beleidigenden Veröffentlichungen in den Wachtturmschriften, in denen Religion als Gimpelfang angeprangert wurde und die Kirche – allen voran die katholische – als Komplizin von Politik und Kapital beschimpft wurde, dazu verleiten. Das bestärkte uns in unserer Überzeugung, wir würden um Christi Willen verfolgt. Statt mit vernünftigen Argumenten aufzuklären, wurde eher eine gegnerische Stimmung verbreitet. Das hatte zur Folge, dass wir oft von Steinewerfern aus einem Dorf verjagt wurden oder dass die Reifen unserer Fahrräder aufgeschlitzt wurden. Wir wurden beschimpft und von den Grundstücken verjagt. Das alles nahmen wir als Zeichen dafür, dass wir Die Wahrheit verkündigten und Satan der Teufel mit seinen Dämonen versuchte, mit Hilfe seiner Untertanen, den Menschen der bösen Welt, unseren Glauben zu schwächen. Das entsprechende Bibelzitat schien diese Logik zu bestätigen:

„ … euer Widersacher, der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“12.

Damals wurde uns oft in kämpferischen Vorträgen geraten: Wenn man euch vorne zur Türe hinausschmeißt, dann versucht zur Hintertür wieder das Haus zu betreten, um herauszufinden, ob jemand im Haus wohnt, der zur guten Botschaft richtig eingestellt ist. Es wurde uns eingeschärft, dass wir die Verantwortung für die Rettung der Menschen in unserem Gebiet trugen. Auch dafür gab es einen Bibeltext aus Hesekiel, der besagte, wir seien als Wächter berufen.13 Wenn wir die Menschen nicht vor der Vernichtung warnten, würden wir Blutschuld auf uns laden und dann würden auch wir vernichtet.

Die Wachtturm-Wahrheit

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