Читать книгу Die Wachtturm-Wahrheit - Barbara Kohout - Страница 8
Kapitel 3 DIE BRÜCKE ZUM EINSTIEG – VERTRAUEN
ОглавлениеMan kann eine durch Jahrzehnte geprägte Lebensführung nicht einfach mit einer Willensentscheidung über Bord werfen. Es ist eine Sache, rational mit dem Kopf zu wissen, dass etwas verkehrt gelaufen ist. Doch es ist eine ganz andere Sache, dieses Wissen auch in das Herz oder die unbewussten Steuerungsvorgänge dringen zu lassen.
Obwohl es unglaublich einfach sein könnte, eine bedrückende Gemeinschaft zu verlassen, da es ja keine sichtbaren Ketten der Gefangenschaft gibt und alle Türen offen stehen, gelingt es nur, wenn man die Täuschung erkennen kann. Es ist wie mit dem Goldfisch im Glas. Er könnte leicht herausspringen, doch es wäre sein sicherer Tod. Solange ich unserer Leitung ohne zu zweifeln vertraute, war ich überzeugt, es wäre mein oder Mitgliedern meiner Familie sicherer Tod, wenn ich diese Organisation verlasse. Falls ich oder eines meiner Kinder nicht durch einen schlimmen Unfall, eine Krankheit, einen Blitzschlag oder eine andere Katastrophe sofort zu Tode käme, würde ich doch spätestens in Harmagedon in dem Blutbad und Feuersee enden.
Offenbar ließen wir uns vor mehr als sechs Jahrzehnten von einem Schatten der Wirklichkeit, von einer Fata Morgana blenden. Sie sprach unser Gefühl und unsere natürlichen Sehnsüchte20 und Wünsche an, und wir gingen in die erste Falle der Seelenfänger – sie köderten uns, indem sie unser Vertrauen erschlichen.
Unser Unterbewusstsein sortiert die Informationen. Wenn sie aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen, nehmen wir sie eher ungeprüft an. Wir vertrauen dem Überbringer der Botschaft. Sektenwerber sprechen das Gefühl an. Der Wunsch nach Anerkennung kann die klare Sicht trüben.
Meine Eltern entwickelten ein grenzenloses Vertrauen in die Worte der Heiligen Schrift, so wie sie von dem Vertreter der Wachtturm Organisation übermittelt wurden.
Sie wurden nicht skeptisch bei Erklärungen, die sich fundamental an die Buchstaben des Wortes hielten. Auch diese Methode war ausgezeichnet dazu geeignet, gegen Kritik von außen und gegen zweifelnde Fragen im eigenen Sinn immun zu machen.
Der verwendete Bibeltext war aus 2. Timotheus, Kapitel 3, Vers 16
„alle Schrift ist von Gott eingegeben …“.
Man kann sagen, das ist gleich einem Dogma eine unverrückbare Aussage der Zeugen Jehovas. „Die Ganze Schrift ist von Gott inspiriert“, will sagen, dass alles, was in diesem Buch steht, gleichwertig heilig und unantastbar ist. Ich möchte es mit einem riesigen Berg Lego-Bausteine vergleichen, die alle so genormt sind, dass sie sich zu beliebigen Konstruktionen zusammensetzen lassen. Damit kann man die unterschiedlichsten Modelle bauen. Große und kleine Häuser, Straßen, Autos, Flugzeuge usw. Die Steine passen immer zusammen. Wobei die Bibel selbst aus unterschiedlichsten Literaturgattungen zusammengestellt ist. Es ist eine kleine Bibliothek, die zu einem Kanon zusammengefügt wurde. Da gibt es Geschichtsbücher wie die Chronika und Könige. Sie enthält Weisheitsliteratur wie die Sprüche, Prediger oder Hiob. Auch Lyrik kommt nicht zu kurz, man denke an das Hohe Lied oder die Psalmen. Jeder kennt die Evangelien, die Apostelbriefe, die Apokalyptischen Bücher wie Offenbarung oder Daniels Prophezeiung.
Viele Redewendungen, die charakteristisch für die blumige Sprache der Semiten sind, kann man nur verstehen, wenn man die Bibel mit den Augen der damaligen Kultur und dem damaligen Wissen betrachtet. Eine wörtliche Übersetzung aus den ursprünglichen Schriften kann meilenweit von der eigentlichen Bedeutung entfernt sein. Gerade die blumige Sprache der Semiten, das Aramäische, enthält unzählige Redewendungen, die man nicht wörtlich übersetzen oder anwenden kann.21
Sollte es da verwundern, dass ein Wort aus dem obigen Bibeltext nicht genau wiedergegeben ist? Es wird einfach ignoriert, dass dort steht, die Schrift sei „nützlich“. Mit der erlernten selektiven Wahrnehmung haben wir solche Worte ausgeblendet. Es wäre ja verwirrend gewesen, dass eine Aussage lediglich „nützlich“ ist und kein unumstößliches Gebot.
Manipulation durch Erlernen der selektiven Wahrnehmung. Der Aussage, die von einer Quelle stammt, der man vertraut, wird zugestimmt, auch wenn sie nur zu einem Teil wahr ist. Der Rest – zum Beispiel eine schlichte Behauptung, wird ausgeblendet.
Auf diese Weise wird ohne Rücksicht auf Zeit und Ort der Aufzeichnung, auf den Kontext oder den Grund der Niederschrift, von irgendeiner Stelle nach der Rösselsprungmethode ein Zitat verwendet. Es scheint eine Behauptung oder Lehre zu stützen und es als Gottes persönlichen Willen auszugeben. Sobald man eine Aussage mit einem Bibeltext verbinden kann, gilt sie als biblischer Grundsatz.
Widersprüchliche Texte gelten nicht als Widersprüche, sondern als falsch verstandene Aussagen. So lässt sich erklären, dass einmal eine Zahl buchstäblich zu verstehen ist, ein andermal symbolisch. Einmal wird erklärt, der „Sauerteig“ sei positiv zu verstehen. Ein anderes Mal steht er für die negativen Folgen der Zerstörung des Glaubens. Es gibt für diese Art der widersprüchlichen Lehre unzählige Beispiele. Für jede Auslegung findet man auch einen Text, der passt, wie die genormten Lego-Bausteine.
Durch verwirrende Aussagen entsteht Konfusion. Das ist die Voraussetzung, dass wir die Schuld immer bei uns selbst suchen. Mit uns muss etwas nicht stimmen, wenn wir es nicht verstehen. Wir wollen konform sein mit der Gruppe und geben die „richtige Antwort“, obwohl sie falsch ist. (Nach Liftons Methode der Bewusstseinskontrolle)
Das Vertrauen, das meine Eltern in die Bibelerklärungen der Zeugen entwickelten, übertrugen sie unmerklich auch auf alles, was sie in den Schriften, die ihnen gegeben wurden, lesen konnten. Da sie der Quelle vertrauten, haben sie auch dem Überbringer vertraut. Sie kannten das Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht“. Dass alle Religionen Unrecht haben, weil sie angeblich falsche Erklärungen der Bibel verbreiten, wurde uns mit ganz simplen Bibelsprüchen „bewiesen“. Wir sollten glauben, nur die Bibelforscher – wie man damals zuweilen noch Zeugen Jehovas nannte –, sagen die absolute Wahrheit.
Hätte uns doch damals jemand über die Grundlagen von Fundamentalismus und Extremismus aufgeklärt! Hätten wir doch erkennen können, dass die wortwörtliche Anwendung fundamentaler schriftlicher Überlieferungen ein Verharren in dem Wissensstand der zurückliegenden Jahrhunderte bedeutet. Fundamentalisten weigern sich Texte zu interpretieren und sie in ihrem Kontext und dem ursprünglichen Zweck der Niederschrift, sowie dem seinerzeitigen Wissen zu reflektieren.
Wahrscheinlich wäre uns dann der kurze Weg vom Fundamentalismus zum Fanatismus oder Extremismus aufgefallen. Hätten dann meine Eltern nicht aus ihrer Erfahrung mit den fanatischen Nationalsozialisten eher skeptisch reagiert? Davon bin ich jedenfalls überzeugt.
Wie sehr hätte uns das Wissen beschützt, dass man destruktive Kulte an der Behauptung erkennt, die einzig wahre Lehre zu besitzen. Die einen behaupten zum Beispiel, alle Menschen seien hypnotisiert. Allein diese Gruppe würde mit ihren Methoden de-hypnotisieren. Alle Menschen leben angeblich in Finsternis oder unter der Macht Satans, nur diese eine Gruppe nicht. Nur der Führer, Guru, die erleuchtete Mutter dieser Gruppe sei auserwählt, besitze die göttliche Energie, Weisheit, das Licht, offenbare die heiligen Geheimnisse, usw. Auch hierfür gibt es unzählige Beispiele.
Sicher wäre uns dann aufgefallen, dass sich mit einem besonderen Bauplan ein sehr simples Erklärungsmodell bauen lässt. Das Prinzip Vorbild/Gegenbild kann man auf alles anwenden, was als Vorschrift für gruppenkonformes Denken und Handeln vermittelt werden soll.
Episoden aus der biblischen Geschichte dienen als Grundsatzmodell für das gegenwärtige Verhalten oder als Muster für die Endzeitprognosen. Mit dem Vorbild wird oft eine sogenannte Gewissensentscheidung, ungeachtet der historischen Hintergründe, angemahnt.
Wieder bekommt das Vorgehen ein Siegel von der höheren Instanz durch ein Bibelzitat:
„ … was vorzeiten geschrieben wurde, ist zu unserer Unterweisung geschrieben worden, …“22
Weil die Schlange vom Teufel benützt wurde, Eva im Paradies zu verführen, ist auch heute der Teufel ständig auf der Lauer, wie er Menschen zur Sünde verführen kann. Zum Beispiel verführt er kleine Kinder dazu, mit Plastikspielzeug zu spielen, das einen Zauberer darstellt. Wie es in dem neuesten Video der Wachtturm-Gesellschaft „Werde ein Freund Gottes“ suggeriert wird. Das wäre mit der Sünde Evas zu vergleichen, die von der verbotenen Frucht gegessen hat.
Weil Gott eine schlechte Welt durch eine Sintflut vernichtet hat, wird es die gegenbildliche Erfüllung, den großen Krieg Gottes, Harmagedon genannt, geben, in dem alles Böse, womit das gesamte menschliche System gemeint ist, von der Erde ausgerottet werden wird.
Weil eine arme Witwe ihre letzte kleine Münze in den Tempelschatz gegeben hat, ist sie ein Vorbild für die Gläubigen, sich mit allem, was sie haben, Schätze im Himmel anzuhäufen, indem sie ihre materielle Habe für die sogenannten Interessen des Königreiches (weltweite Neumitgliederwerbung) spenden.
Durchforscht man die Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft nach Lebensberichten und Erfahrungen, begegnet man sehr häufig den Aussagen: „Wir haben unser Haus oder unser Geschäft oder Besitz verkauft, ein Studium abgebrochen, auf eine Karriere verzichtet, die Lebensversicherung oder die Altersversorgung vorzeitig gekündigt, weil wir glaubten, in der kurzen Zeit bis Harmagedon sei nichts wichtiger als die gute Botschaft vom Königreich zu predigen.“ Aber man sucht in der Wachtturm-Literatur vergeblich nach einer direkten Aufforderung Häuser und Besitz zu verkaufen oder die Lebensversicherung und Altersversorgung vorzeitig zu kündigen.