Читать книгу Russische Freunde - Barbara Lutz - Страница 4
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Ich wachte gegen Abend wieder auf und dachte an das, was am Morgen geschehen war. Ich musste einen weissen Plastikstuhl und einen Eimer zurückbringen, und vielleicht wäre es gut, mit ein paar Nachbarn zu sprechen und zu erklären, was ich letzte Nacht an der Fassade gewollt hatte. Ich wohne seit bald zwanzig Jahren in diesem Block. Manche Nachbarn mögen mich für eine Eigenbrötlerin halten, vielleicht auch für eine gescheiterte Existenz. Beides wäre hier in der Gegend nichts Aussergewöhnliches. Ich bin nicht sehr kontaktfreudig, aber ich benehme mich anständig und bin freundlich.
Ich mag das Quartier, in dem ich wohne, Bümpliz, eine Mischung aus Hochhäusern und Industrie, aus ein paar übrig gebliebenen, verlotterten Holzhäusern und in die Jahre gekommenen Mietskasernen. Unser dreistöckiges Haus gehört zu den letzteren, es stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Besitzer haben seit damals nicht viel investiert, mal abgesehen von ein paar Boilern. Vom Küchenfenster aus geht der Blick auf eine Tankstelle und auf mehrstöckige Wohnblöcke. Schön ist der verwilderte Garten hinter dem Haus, der bis zum Turnplatz einer Schule reicht. Die Wohnung ist billig, was sich gerade jetzt als ein Vorteil erwies. Ich hatte seit mehreren Monaten keine richtige Arbeit mehr.
Der Abend dämmerte bereits, als ich frühstückte. Da ich wieder einmal kein Brot hatte, musste ich mich mit Haferflocken begnügen. Sobald ich richtig wach war, wollte ich bei Juri vorbeischauen und von ihm erfahren, was eigentlich los gewesen war. Ich nahm an, dass er inzwischen zu Hause war, auch wenn ich von oben keine Geräusche vernahm. Normalerweise höre ich seine Schritte.
Juri ist Russe und wohnt seit eineinhalb Jahren über mir. Es ist nicht so, dass wir uns wirklich gut kennen, aber seine Nachbarschaft tut mir gut. Juri studiert im dritten Semester Wirtschaft, hat aber, soviel ich weiss, in seiner Heimat bereits einen Abschluss gemacht. Jedenfalls ist er schon einiges über dreissig. Juri lebt zurückgezogen, bis auf seltene Besuche von ein paar Studienkollegen oder anderen Exilrussen. Abends ist er meist zu Hause. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, laden wir uns manchmal auf eine Tasse Tee ein.
Ich mag Juri. Ich glaube, er erinnert mich an Freddie, einen Buben aus meiner Kindheit. Freddie wohnte im gleichen Haus und er war mein Freund, dass er drei Jahre jünger war, spielte keine Rolle. Stundenlang lagen wir auf der Terrasse über der Bäckerei und betrachteten die Welt. Die Schnecken auf dem Weg zum Basilikum, die Käfer und Ameisen in der Regenrinne, die dicke Nachbarin beim Wäscheaufhängen, die anderen Kinder bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Freddie durfte bei der Quartierbande nicht mitmachen, weil er zu klein war, und mich wollten sie nicht, weil ich ein Mädchen war. Freddie war wie ein kleiner Bruder. Juri gegenüber habe ich ähnliche Gefühle, er ist jünger als ich, aber er ist ein Verbündeter, dem ich ohne viele Worte begegne. Weshalb ich wenig über ihn weiss.
Was uns auch verbindet, ist das Klavier. Als Juri hier einzog und es die Treppe hochgetragen wurde, hatte ich seit Jahren keine Tasten mehr berührt. Dann aber liess Juri mich sein Klavier benutzen und eigentlich haben wir uns so kennengelernt. Auch das ist wie in meiner Kindheit. Damals ging ich zu einer Nachbarin, um zu spielen, zu einer älteren Dame, die mich dann auch unterrichtete. Da die Stunden nicht offiziell waren und der Unterricht meine Eltern nichts kostete, erwartete niemand, dass ich übte. Frau Rottuner brachte mich trotzdem dazu, mich mit Fingerübungen abzugeben, und ich wurde überraschend gut. Als ich irgendwann, ich war vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit dem Improvisieren begann, war sie zuerst entsetzt. Dann aber überwand sie sich und besorgte mir Noten und Bücher über Jazz und Rock. In meiner Jugend verbrachte ich Stunden in der Nachbarwohnung am Klavier, und später gab es sogar eine Zeit, wo ich mit einer Band unterwegs war.
Juri selbst spielt ausgezeichnet Klavier. Er hat mir erzählt, er habe mit vier Jahren an der öffentlichen Musikschule von Tscherepovez begonnen, von dort stammt er. Und Juri ist ausgesprochen lärmtolerant. Selbst wenn ich stundenlang die gleichen Dinge übe, sitzt er seelenruhig mit seinen Arbeiten für die Uni im Nebenzimmer. Er muss in akustisch schlecht isolierten Plattenbauten aufgewachsen sein. Mein Geklimper stört ihn nicht, das hat er schon oft gesagt.
Ich rief meine Mutter an, in der Hoffnung, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Das Gespräch wurde langfädig, bis ich schliesslich die Frage nach dem Schlüssel anbringen konnte. Sie hatte einen, und wir vereinbarten, dass ich ihn am nächsten Tag holen kam.
Als ich auflegte, merkte ich, wie kalt mir war. Jetzt im September war es abends schon recht kühl. Ich sass neben dem Telefon auf dem Boden, durch die undichte Balkontür zog eisige Luft herein. Bald schon musste ich Öl beschaffen, ich heize mit einem Ölofen aus den Fünfzigerjahren, den man morgens mit einem Kanister auffüllt. Die Wohnung würde wieder den ganzen Winter über nach Öl stinken.
Juri war nicht da. Ich stieg mehrmals zu seiner Wohnung hoch und klopfte an die offen stehende Tür, betrat die Wohnung aber nicht. Juri kam auch im Laufe des Abends nicht nach Hause.
Drei Tage später war Juri immer noch verschwunden. Ich hatte nichts zu tun, ich drückte mich ums Bewerbungen schreiben. Seit Januar, seit neun Monaten also, hatte ich keine Arbeit mehr, abgesehen von den wenigen Schichten im Obdachlosenheim. Um diesen Aushilfsjob war ich zwar froh, aber ich fand ihn, vor allem die Nächte dort, immer unerträglicher. Ich fühlte mich selbst zu sehr als Sozialfall, um noch Geduld für gestrandete Existenzen aufzubringen. Die Gänge zum Arbeitsamt, das Bewerbungen schreiben, die Absagebriefe im Briefkasten zermürbten mich. Ich hatte es in all den Monaten nie zu einem Bewerbungsgespräch geschafft. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr begabt. Trotzdem musste ich eine Lösung finden, jetzt bald. Selbstverständlich war es nun ein Problem, dass ich die Ausbildung abgebrochen hatte.
Es war kalt in der Wohnung und ich hatte kein Geld, um etwas zu unternehmen. Und so langsam machte ich mir wirklich Gedanken darüber, was mit Juri geschehen war. Deshalb holte ich seinen Koffer aus der Abstellkammer und öffnete ihn.
Was wusste ich denn schon von Juri? Ein paar Dinge aus seiner Kindheit. Er hatte erzählt von Ferien in der Ukraine, von Obstgärten voller blühender Pflaumen- und Kirschbäume, in denen er sich als Kind herumgetrieben hatte, und dass sie dort mit einem Gewehr auf Vögel geschossen hatten. Dass im Winter in Tscherepovez, das lag ganz im Norden, nur ein einziger Raum der Wohnung beheizt wurde, und dass sich die ganze Familie abends dort aufhielt. Von einem alten Onkel, der Dinge sah, die niemand sonst wahrnahm, und der ihn als Kind oft erschreckt hatte. Russland hat mich immer schon angezogen, aber mit meinen Bildern von Schlittenfahren und russischen Bauerndörfern lag ich vermutlich um Jahrhunderte hinter der Realität.
Der Koffer war nicht abgeschlossen. Zuerst sah ich einen zerknitterten Seidenschal und ein paar abgelaufene Kindersandalen. Darunter lag ein bestickter Beutel voller Murmeln und Kinderkram mitsamt einem kleinen, kopflosen Püppchen, was ich berührend fand. Dann war da noch ein USB-Stick, der überhaupt nicht in diesen Beutel passte. Ansonsten enthielt der Koffer Fotoalben und Kartonmappen mit Briefen und Dokumenten. Ich blätterte ein paar Briefe durch, konnte aber nichts lesen, schon wegen der kyrillischen Schrift. Die meisten Briefe waren von Hand geschrieben und vom Alter leicht angegilbt. Ich stellte mir vor, wie Juri die Post seiner Mutter und seiner Grossmutter aufbewahrte, Briefe, die er erhalten hatte, als er in irgendeinem Wohnheim in einer fremden russischen Stadt lebte und studierte.
Es war nicht in Ordnung, so in Juris Andenken zu stöbern, ich legte die Briefe zur Seite und sah mir die Fotoalben an, die mir weniger intim schienen. Einen blonden Jungen, der auf fast allen Fotos abgebildet war, identifizierte ich als Juri. Blond, blass, hoch aufgeschossen, auch heute noch sieht Juri so aus. Nicht wie ich mir einen Russen vorstelle. Juri hat kaum Bartwuchs, und selbst mit dreissig wirkt er wie ein zu schnell gewachsener Junge. Juri hatte mir einmal von einer Schwester erzählt, die mit elf Jahren an einer Hirnblutung gestorben war, vermutlich das dünne Mädchen, das auf vielen Fotos neben Juri stand. Ein Album enthielt Bilder von einer Moskaureise, Juri als junger Erwachsener inmitten einer Gruppe von Kameraden. Abgesehen davon, dass mich die Bilder nichts angingen, fingen sie an, mich zu langweilen. Ich kannte die Leute nicht, Pferdeschlitten kamen keine vor, und die Häuser hätten irgendwo stehen können.
Ganz unten im Koffer lag ein Ordner, in dem Juri Diplome und Dokumente aufbewahrte. Ich stellte fest, dass Juri in Kiew Maschinenbau studiert und vor fünf Jahren abgeschlossen hatte. Mit seinem ganzen Namen hiess er Juri Wadimowitsch Salnikow, und er hatte Blutgruppe A. Es war mir unangenehm, seine Sachen durchgesehen zu haben. Ich legte alles zurück in den Koffer und schloss ihn, zögerte dann aber, holte den USB-Stick aus dem Beutel und steckte ihn ein. Wenn schon, dann konnte ich mir auch noch anschauen, was sich darauf befand.
Aber wie kam Juri eigentlich dazu, den Koffer in meine Abstellkammer zu stellen? Als ob er ihn parat gemacht hätte für den Fall, dass er das Haus fluchtartig verlassen musste. Weil es brannte, zum Beispiel, es gibt Leute, die solche Dinge tun. Warum aber hatte er ihn dann bei mir deponiert? Jedenfalls schrieb ich ihm eine Notiz, er solle sich bei mir melden, und heftete sie an seine Wohnungstür, die ich, soweit es das defekte Schloss zuliess, zuzog. Ich musste dringend einen Schlosser bestellen.
Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die Wohnung einer alten, alleinstehenden Dame, die vor kurzem verstorben war, zu räumen. Esther, eine Frau, die ich von meinem abgebrochenen Studium her kenne, hatte mich darum gebeten. Sie hatte als einzige Verwandte bereits alles an sich genommen, was sie behalten wollte. Es war deprimierend, wie ich in wenigen Stunden die letzten persönlichen Spuren der alten Dame beseitigte. Mit einem schlechten Gewissen stopfte ich Lippenstifte, Cremen und eine Haarbürste, in der sich noch einzelne weisse Haare der Verstorbenen befanden, respektlos in Müllsäcke, zu abgelaufenen Lebensmitteln aus der Küche, zu bereits benützten Seifen und angebrochenen Zahnpastatuben. Zuerst wollte ich nichts nehmen, dann aber überwand ich mich und füllte zwei Tüten mit unverderblichen Lebensmitteln wie Tee und Reis. Eigentlich konnte ich diese Dinge, im Hinblick auf meine finanzielle Lage, gut brauchen.
Während ich Blusen und Halstücher aus dem Kleiderschrank riss und Teppiche zusammenrollte, dachte ich an Frau Rottuner, meine Klavierlehrerin, die vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte sie noch bis kurz vor ihrem Tod mindestens einmal im Monat besucht, selbst als sie schon im Altersheim war und mich nicht mehr erkannte. Darauf war ich stolz.
Am letzten Abend kam Esther vorbei, und wir gingen gemeinsam in ein thailändisches Restaurant essen. Esther lud mich ein und bezahlte mich auch für meine Arbeit. Sie hat das Sprachstudium, das sie gemeinsam mit mir begann, mit Doktorat abgeschlossen, während ich nach sechs Semestern abbrach. Heute arbeitet sie in einem Sprachinstitut in leitender Stellung. Sowieso leben alle früheren Freunde und Freundinnen inzwischen in besseren Verhältnissen. Ich kann nicht mithalten, nicht beim Einkommen, auch nicht beim Nachwuchs, nicht bei den glücklichen Ehen und nicht bei den stilvoll eingerichteten Wohnungen und Eigenheimen im Grünen. Ich nehme an, einige meiner Bekannten halten mich für eine Versagerin. Normalerweise finde ich, dass das ihr Problem sei, aber in der letzten Zeit lief ich Gefahr, ihr Urteil zu übernehmen. Immerhin habe ich keine gesundheitlichen Probleme, dachte ich, als ich nach unserem Abendessen im Tram nach Hause fuhr. Kaum hatte ich mich dabei ertappt, das in allem Ernst gedacht zu haben, machte ich mir wirklich Sorgen um mich. Früher hatte ich keine solchen Gedanken.