Читать книгу Russische Freunde - Barbara Lutz - Страница 6

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Als ich am nächsten Morgen in meine Jeans schlüpfte, stellte ich fest, dass ich Ricklin einen falschen Stick mitgegeben hatte. Unabsichtlich, die Dinger, beide schwarz, sahen sich ähnlich, wie ich mit Juris richtigem Stick in der Hand konstatierte. Ricklin musste sich also mit einer Auswahl aus meinen Bewerbungsschreiben und Lebensläufen begnügen. Ich hingegen schloss Juris USB-Stick an meinen Computer an und kam problemlos in seine Dateien, die durch kein Passwort gesichert waren.

Der Stick erwies sich trotzdem als eine Herausforderung, systemlos waren unzählige Ordner und Dokumente darauf abgespeichert, solche mit russischem, mit deutschem, englischem und manchmal auch ohne Titel. Wahllos öffnete ich ein paar Ordner. Ich stiess auf Buchhaltungsdateien, Auszüge von Abrechnungen, wie mir schien. Ich nahm an, dass die Dateien mit Juris Arbeit zu tun hatten. Juri erledigte ab und zu etwas für eine Firma, die irgendwelche Konsumprodukte nach Russland exportierte. Als nächstes öffnete ich eine englische Powerpoint-Präsentation zu den russisch-schweizerischen Handelsbeziehungen, die mich nicht interessierte. In vielen Ordnern waren, wie ich feststellte, Fotos gespeichert, wohl an die tausend Bilder. Ich stiess auf Ferienfotos, Aufnahmen aus einem tropischen, vermutlich südamerikanischen Land. Dass Juri in Südamerika gewesen sein sollte, erstaunte mich. Die Reisegruppe bestand aus ungefähr sechs Männern mittleren Alters, allesamt begleitet von jungen Frauen. Von denen ich nicht annahm, dass es sich um die Ehefrauen handelte, die Mädchen waren jung, ziemlich jung. Das passte irgendwie nicht zu Juri. In anderen Ordnern fand ich Fotos von Jachthäfen, gutgekleidete Menschen auf einem Schiff, eine Abendgesellschaft auf einer Terrasse, eine mir unbekannte Familie an einem Swimming-pool. Ich war verblüfft. Juri hatte wohl irgendwann in seinem Leben Zugang zu besseren Kreisen gehabt.

Ich liess die Fotos bleiben, schliesslich wollte ich Juri ausfindig machen. Ich erinnerte mich an die Nummern aus seinem Mobiltelefon.

Beim ersten Anruf landete ich bei einer Firma namens Impexpo, eine Frau war am Apparat. Wie sie mir sagte, hatte Juri ab und zu für Impexpo gearbeitet, was allerdings schon eine Weile her war. Vor einigen Tagen hatte er sich gemeldet und nach Arbeit gefragt. Wo ich ihn finden konnte, wusste sie nicht.

Auch die zweite Nummer stellte sich als eine Geschäftsnummer heraus. Freundlich erklärte ich dem Herrn am Telefon, wer ich sei und dass in die Wohnung meines Nachbarn eingebrochen worden war. Ich fragte ihn, ob er Juri Salnikow kenne und vielleicht wisse, wo er zu finden sei.

«Wer sind Sie?», die Stimme mit ausländischem Akzent war misstrauisch. Ich wiederholte meinen Namen. Den seinen hatte ich genauso wenig verstanden, aber ich fragte nicht nach.

«Ich bin eine Nachbarin von Herrn Juri Salnikow. Ich suche ihn dringend, weil in seine Wohnung eingebrochen worden ist.»

«Hä? Sind Sie die Freundin von Salnikow?»

«Mein Name ist Kovacs», sagte ich zum dritten Mal. «Ilka Kovacs. Wie gesagt, ich bin eine Nachbarin von Herrn Salnikow. Er scheint verreist zu sein und weiss vermutlich nichts vom Einbruch. Er ist seit einigen Tagen nicht zurückgekommen. Ich versuche ihn deshalb zu erreichen.»

«Wo ist denn Salnikow jetzt?»

War der Typ blöd, verstand er mich nicht?

«Ich rufe an, weil ich dachte, dass Sie mir vielleicht sagen könnten, wo ich ihn erreichen kann.»

«Wie kommen Sie auf uns?»

«Er hat Ihre Telefonnummer notiert», log ich.

«Wir kennen keinen Salnikow.»

Das Telefon wurde grusslos aufgehängt. Was war denn das gewesen? Eine Firma, die so ähnlich wie Adfi geklungen hatte, vom Namen des Mannes hatte ich nur ein paar Zischlaute in Erinnerung, ein russischer Name vielleicht.

Bei der nächsten Nummer meldete sich eine verschlafene Männerstimme, was ich schon mal sympathisch fand.

«Hallooo?»

Diesmal fasste ich mich kürzer und sagte nur, dass ich Herrn Salnikow suchte, weil seine Wohnungstür aufgebrochen worden sei.

«Er hat sich bei mir nicht gemeldet, ich weiss nicht, wo er steckt», der Mann am Telefon gähnte, klang aber trotzdem interessiert und beteiligt. Es stellte sich heraus, dass er Juri privat kannte. Der Mann hiess Balthasar Zeiler und wohnte am Zielweg, er schlug vor, dass ich bei ihm vorbeischaute. «Am Nachmittag? Nicht vor zwei Uhr?»

«Klar. Entschuldige das frühe Telefon», duzte ich ihn. Es war ungefähr zehn Uhr vormittags.

Ich erreichte noch zwei weitere Personen aus der Liste, zuerst einen Mann, der sich mit Petar Lischkow meldete. Er begrüsste mich wie eine alte Freundin und behauptete, wir seien uns einmal bei Juri begegnet. Das Telefon dauerte keine zwei Minuten, er versprach zurückzurufen, weil er momentan bei der Arbeit kein längeres Gespräch führen könne. Dann erreichte ich noch eine Russin, deren Namen ich nicht verstand und die auch zu wenig Deutsch sprach, als dass wir uns wirklich unterhalten konnten. Immerhin brachte ich heraus, dass sie nicht wusste, wo Juri war. Bei der letzten Nummer meldete sich niemand. Eine Combox-Stimme verriet mir, dass der Anschluss einem gewissen Tobias Bucher gehörte. Ich hinterliess eine Nachricht und versuchte im Laufe der nächsten Tage immer wieder, Tobias Bucher zu erreichen, ohne Erfolg.

Den restlichen Vormittag verbrachte ich damit, eine Bewerbung für eine Stelle zu schreiben, die ich sowieso nicht kriegen würde. Gelangweilt formulierte ich einen lausigen Brief, der besagte, wie geeignet und motiviert ich war. Trotzdem genoss ich den Vormittag. Die Sonne schien in mein Zimmer, ich lief in weiten Hosen und in einem warmen Pullover herum und setzte mich später mit einer Tasse Tee auf den Balkon. Der September war bisher recht warm gewesen, nun war es, als ob sich der Sommer verabschieden wollte. Ich wollte die Tage geniessen, solange ich konnte. Wenn nur die Angst nicht gewesen wäre. Diesen Monat lag es nicht drin, alle Rechnungen zu bezahlen, und meine Nachbarin hatte Geld von mir zugut für eine Waschmaschinenreparatur. Es war aber nicht der finanzielle Ruin, der mir Angst machte. Ich fürchtete das Scheitern, was auch immer das sein mochte. Selbst das war mir nicht klar. Wie konnte ich denn jetzt noch scheitern?

Was ich hatte, war viel Zeit. Ich beschloss, mir das Geld für den Bus zu sparen und zu Fuss in die Stadt zu gehen. Unterwegs setzte ich mich auf eine Parkbank und sah ein paar Männern bei einem Schachspiel zu. Die beiden Spieler verschoben die schweren Figuren, ohne Emotionen zu zeigen, in ihre Gedanken versunken standen sie auf dem grossen, auf den Boden gemalten Spielfeld. Andere hatten sich dazugesellt, gaben fachkundige Kommentare ab und knackten dazu Kürbiskerne. Ich dachte an die Millionen von Menschen in der ganzen Welt, die jetzt gerade keiner Arbeit nachgingen. Männer in Istanbul, Boston oder Lagos, überall auf der Welt standen Männer gemeinsam herum, an einem Strasseneck, auf einem Platz, und sahen dem Leben zu. Junge Frauen in Brasilien und Mexiko lackierten sich vor dem Fernseher ihre Zehennägel und träumten von später. Nicht alle konnten produktiv sein in dieser Welt, es wurde auch so noch genug produziert. Weshalb hatte ich das Gefühl, gescheitert zu sein, nur weil ich Zeit hatte?

Irgendwann nach zwei Uhr kam ich bei Balthasar Zeiler an. Er lebte in einem älteren Block im Erdgeschoss, die Vorhänge waren zugezogen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er oft dazu kam, sie zu öffnen. An der Wohnungstür erwartete mich ein athletischer junger Mann im Morgenmantel. Wir setzten uns in ein modern und hell eingerichtetes Zimmer, professionelle Schwarzweissfotos schmückten die Wände. Ich fragte mich, ob Balthasar das Model oder der Fotograf war, wollte aber nicht aufstehen, um sie mir anzusehen. Komisch, ich hatte nie daran gedacht, dass Juri schwul war. Es war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, so wie ich oft wochenlang nicht bemerke, wenn Frauen schwanger sind. Dabei war es eigentlich ganz offensichtlich, und bestimmt war Balthasar Juris Geliebter.

Balthasar ging davon aus, dass ich das sowieso wusste. Nachdem er mir zugehört hatte, machte er sich ernsthafte Sorgen um Juri. Dann schwieg er und dachte nach. Ich sass auf der schicken Ledercouch und wartete. Mein Telefon läutete, Petar Lischkow rief zurück und überfiel mich mit einem Wortschwall, wie sehr er sich Sorgen mache seit meinem Telefon von heute früh. «Petar Lischkow, kennst du ihn?», flüsterte ich Balthasar zu, und er nickte zur Antwort. Ich verabredete für später am Tag ein Treffen mit Lischkow.

Balthasar sass mir gegenüber in einem Polstersessel und liess die Beine über die Armlehne baumeln. Mit einer theatralischen Kopfbewegung drehte er sich zu mir hin: «Ich mag Juri sehr gern, aber ich fürchte, ich weiss nicht allzu viel von ihm. Wir sind uns vor einigen Monaten begegnet. Ich glaube nicht, dass er in der Schweiz viele Freunde hat, er lebt ja auch noch nicht so lange hier. Studienkollegen vielleicht, aber er hat eher abschätzig über sie gesprochen. Ein paar Exilrussen vielleicht, so wie Petar, ihn habe ich einmal getroffen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo er sein könnte.»

Die beiden Telefonnummern, die er von Juri hatte, kannte ich bereits, die Nummer des Festnetzes in seiner Wohnung und die Nummer des Mobiltelefons, das inzwischen mit leerem Akku bei mir zu Hause lag. Immerhin hatte Balthasar eine Mailadresse von Juri. Er versprach mir, Juri eine Mail zu schreiben und mich, falls er eine Antwort erhielt, sofort zu informieren.

Petar Lischkow, meine letzte Hoffnung, etwas über den Verbleib von Juri zu erfahren, sass bereits wartend im Tramhäuschen, bei dem wir abgemacht hatten. Ich war noch nicht ganz aus dem Bus ausgestiegen, als er, flink trotz seiner Beleibtheit, aufsprang und auf mich zu rannte.

«Ich bin Petarrr, ich bin Petarrr», rief er, umklammerte mit seinen Händen meinen Arm bis zum Ellenbogen und rammte ihn mir gegen den Magen. «Ich bin Petarrr», wiederholte er. Das hatte ich verstanden. Und vielleicht waren wir uns wirklich schon einmal bei Juri begegnet, wie es Petar jetzt behauptete. Jedenfalls schien er ein recht guter Freund von Juri zu sein, obschon sie sich erst in der Schweiz kennengelernt hatten. Sie trafen sich regelmässig, aus Lust auf ein normales Gespräch, wie Petar sagte. Er meinte damit, dass er sich mit Juri auf Russisch unterhalten konnte. Wo sich Juri im Moment aufhielt oder wie ich ihn erreichen konnte, wusste er auch nicht. Immerhin erfuhr ich, dass Juris Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Juri hatte mir das nie erzählt. Laut Petar hatte Juri keine näheren Verwandten mehr in Russland, niemand, an den wir uns wenden konnten.

In der Dämmerung trottete ich nach Hause, zurück nach Bümpliz. Ich hatte getan, was ich konnte.

Russische Freunde

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