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Kapitel 2

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Am ärgsten fällt der Größenwahn oft grad´ die kleinen Leute an.

– Eugen Roth –

Mittwochnachmittag in Duderstadt

Am Behinderteneingang der St.-Cyriakus-Basilika in Duderstadt parkte ein Pick-up. Mehrere Decken und ein paar Bretter lagen auf der Ladefläche. An der Rückfront stand eine große Holzkiste mit Deckel. Wahrscheinlich wurde hierin Werkzeug transportiert. Der Kasten war mit einem Gurt befestigt, damit er nicht verrutschen konnte.

Bestimmt ein Tischlerei- oder ein Restaurationsbetrieb, mutmaßte Mathilde, die mit ihrer dreijährigen Nichte Elsa vom Spielplatz kam. Eine lustige Zeichnung mit einem augenzwinkernden Wurm, der eine Holzbank repariert, grinste die Betrachterin an. ›Benedikt Holzwurm‹ stand in geschwungenen Lettern unter dem Firmenlogo. Mathilde gefiel die Zweideutigkeit. Sie rief nach Elsa.

»Guck mal! Hier ist ein lustiger Wurm auf dem Auto!«

Das Kind zögerte. Es schaute gerade einer Amsel zu, die einen Wurm aus dem Rasen zog und verspeiste. Erst als die Amsel davongeflogen war, kam sie angelaufen, stoppte vor dem Bild und betrachtete es eingehend. »Waru-um?«, stellte sie heute gefühlt zum hundertsten Mal ihrer Tante diese Frage, die wohl alle Dreijährigen umtreibt.

»Warum? Weil der Mann, dem das Auto gehört, Holzwurm heißt«, erklärte Mathilde.

»Warum heißt der Holzwurm?«

»Ich denke, das ist sein Nachname.«

»Ich will auch ›Holzwurm‹ heißen«, bettelte Elsa und knabberte mit ihrer kleinen Schnute – wie der Wurm auf dem Bild – an Mathildes Hand.

»Nein, n´te«, schnalzte Mathilde mit der Zunge und zog energisch ihre Hand weg. »Das geht nicht. Du heißt doch ›Schneider‹, so wie dein Papa und Onkel Christian. Und ich auch. Das ist ein viel schönerer Name. Wenn deine Mama am Samstag den Papa heiratet, dann will sie auch ›Schneider‹ heißen und nicht mehr ›Kuckuck‹, so wie Oma und Opa in Bad Lauterberg.«

»Waru-um?«

»Äh, warum, warum, warum? Das musst du deine Mama fragen. Du fragst mir ja ein Loch in den Bauch«, antwortete Mathilde gereizt und zog ihre Nichte weiter. Warum ist dieses Kind so anstrengend? Waren Thomas und Moni auch so gewesen? Sie dachte an die Zeit zurück, als ihre Zwillinge drei Jahre alt waren und ihren Alltag bestimmten. Nein, sooo anstrengend waren die nicht. Sie konnten ja miteinander spielen. Da brauchte ich nicht ständig Programm machen. Heutzutage fordern das die Kinder ja von ihren Eltern regelrecht ein. Ich hätte gar nicht die Zeit gehabt. Neben dem Halbtagsjob im Büro, den Eltern, die meine Hilfe brauchten, Haus und Garten … Und Christian? Ja, der war als Kriminalbeamter auf der Leiter nach oben gefordert. Eine Fortbildung nach der anderen. ›Ich will eine leitende Funktion, keine leidende als Straßenpolizist‹, war sein Spruch, wenn ich mich beschwert hab, dass ich alles allein machen muss. Also hab ich zurückgesteckt. Ja, so war das damals.

Die kleine Elsa riss Mathilde aus ihren Gedanken. »Tante Mathi, schau mal!«, rief sie rückwärtsgehend. »Da kommen zwei Männer aus dem Haus. Was haben die da?«

»Das ist kein Haus, Elsa. Das ist eine Kirche!«, korrigierte Mathilde kopfschüttelnd und dachte: Am Handy kennt sich die Kleine besser aus als ich. Aber was eine Kirche ist, weiß sie nicht. Verrückte Welt!

»Ich will mal gucken!«, rief Elsa und lief den Weg zurück.

Abermals schüttelte Mathilde den Kopf und atmete stöhnend aus. »Kleiner Feger!«, raunte sie und war froh, dass hier vor der Pfarrei keine Autos fuhren. Sie schaute Elsa nach und musste die Hand an die Stirn halten, denn die Sonne blendete stark. Ihr fiel auf, dass die Männer, die aus dem Gotteshaus kamen, blaue Arbeitshosen und die gleichen rotgrün-karierten Hemden anhatten. Wie Zwillinge. Auf dem Kopf trugen sie beigefarbene Schirmmützen. Ihr Gesicht war durch schwarze Mundschutzmasken verdeckt.

Als sie Elsa und Mathilde erblickten, stoppten sie kurz, dann nickten sie sich zu und Mathilde beobachtete, wie sich ihre Gangart schlagartig veränderte. Im Eilschritt trugen sie nun das flache Teil, das in eine Wolldecke gewickelt war, den abgeschrägten Eingang hinunter zu ihrem Wagen.

Die holen bestimmt ein Gemälde zum Restaurieren ab.

In den Pfarrnachrichten hatte sie allerdings nichts darüber gelesen. Aber genau wusste sie es nicht. So streng wie früher nahm sie ihre kirchlichen Pflichten schon lange nicht mehr wahr. Viel zu oft fühlte sie sich von der Obrigkeit der Kirche unverstanden. Außerdem waren aus Furcht vor einer Pandemie seit dem Frühjahr sämtliche Messen abgesagt worden, sodass die Gläubigen auch untereinander kaum noch Kontakte pflegen konnten. Das gemeinschaftliche kirchliche Leben und das Vereinsleben waren so gut wie tot.

»Was machst du da?«, sprach Elsa einen der Männer an und stellte sich ihnen in den Weg.

»Vorsicht, Kleine! Mach Platz!«

»Hopp! Hopp!«, rief der andere mit drohend tiefer Stimme, um sie zu scheuchen.

Erschrocken trat Elsa zur Seite. »Warum bist du böse?«, fragte sie den Mann keck, beäugte ihn von oben bis unten.

»Weil du im Wege stehst! Verschwinde!«, antwortete er lauter werdend, nickte dem Anderen zu und warf Mathilde einen finsteren Blick rüber. Eingeschüchtert drückte sich Elsa an die Mauer mit dem Geländer und ließ die Männer vorbei. Sie legten das Teil mitsamt der Wolldecke hastig auf die Ladefläche zwischen die Decken, stiegen gehetzt in den Wagen.

Komisch. Als wären sie auf der Flucht, durchfuhr es Mathilde, als der Motor aufheulte. Aufgeregt rief sie: »Elsa! Bleib an der Mauer stehen! Rühr dich bloß nicht von der Stelle! Hörst du?« Sie hielt ihre Hand zum ›Stopp!‹ hoch. »Stehen bleiben!«

Viel zu schnell beschleunigte der Fahrer den schweren Wagen rückwärts, bremste dann scharf, als er das Kind im Rückspiegel sah. Elsa presste sich verängstigt an die Steine. Mathilde kreischte: »Halt! Das Kind!« Empört und voll Angst lief sie hin. »Sind Sie verrückt?«, schrie sie und versuchte in ihrer Not, den Wagen festzuhalten, damit er Elsa nicht plattdrückte. Doch der Fahrer legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen los.

»Idiot!«, schrie Mathilde aufgebracht hinterher. Das Auto bog nach rechts zum Hauptportal der Basilika auf die Marktstraße und preschte dann übers Obertor aus der Innenstadt davon. Mathilde nahm Elsa in die Arme. Erleichtert, dass dem Kind nichts passiert war, lobte sie das Kind. »Das hast du toll gemacht, Elsa.« Sie streichelte ihr beruhigend über den Kopf, obwohl ihr eigenes Herz raste.

»Warum sind die schnell weggefahren, Tante Mathi?«

Nachdenklich betrachtete Mathilde das Kind.

»Ja, warum? Die hatten es plötzlich sehr eilig. Vielleicht mussten sie noch woanders hin«, antwortete sie, glaubte aber nicht, dass das der Grund für die Hals-über-Kopf-Aktion gewesen war.

Die sind ja regelrecht in Panik geraten. Als wollten sie nicht gesehen werden. Was hatte der Wagen eigentlich für ein Nummernschild?, überlegte Mathilde mit aufkommendem Unbehagen. Das hätte ich mir merken müssen als Frau von Hauptkommissar Christian Schneider, rügte sie sich selbst.

Sie blickte hinüber zum Pfarrhaus. Niemand war hinter den Fenstern zu sehen. Durch die weißen Gardinen, die keinen Blick in die Räume zuließen, erschien das Haus verlassen, regelrecht leblos. Energisch fasste Mathilde das Kind bei der Hand. »Komm Elsa, wir besuchen jetzt Anne im Pfarrhaus. Du kennst doch meine Freundin. Vielleicht hat sie noch Dienst.«

»Waru-um?«, wollte Elsa wissen.

»Weil mir das alles komisch vorkommt. Anne weiß vielleicht, was die Männer in der Kirche gemacht haben«, antwortete Mathilde.

Anne Müller war Sekretärin in der Propstei und würde wissen, ob etwas zur Restauration abgeholt werden sollte. Sie zögerte. Ich könnte ja auch selbst in der Kirche nachsehen. Würde ich überhaupt merken, wenn etwas fehlt? Das Gotteshaus war 2016 renoviert worden und Vieles befand sich nicht mehr an dem Platz, wo es früher gestanden hatte. Außerdem würde Elsa sie mit ihrem ›Warum-Gefrage‹ nerven. Mathilde entschied sich, im Pfarrhaus nachzufragen. Sie drückte die geschwungene Klinke der schweren Holztür hinunter, öffnete die Tür und betrat mit Elsa den kleinen Vorraum, klopfte an. Das hätte sie sich sparen können, denn direkt vor ihren Augen klebte ein Zettel. Dick gedruckt stand darauf: ›Mittwochnachmittags geschlossen‹.

»Ach ja, heute ist Mittwoch. Da ist Anne nicht hier«, seufzte sie. »Komm Elsa, wir gehen nach Hause. Onkel Christian wartet bestimmt schon. Dem kannst du das erzählen.«

»Au ja, Onkel Chris ist ein Polizist. Der sperrt die bösen Männer ein!«, rief die Kleine begeistert und hüpfte die Stufen der breiten Treppe hinunter.

Mathilde kramte in ihrer Tasche nach dem Mundschutz. »Aber zuerst gehen wir noch Wurst fürs Abendessen kaufen.«

»Ja! Eine Scheibe Kinderwurst!«, jubelte Elsa.

Beim Schlachter am Obertor war reger Betrieb. Sie mussten vor der Tür warten, bis zwei Kunden den Laden verließen. Erst dann durften sie den Verkaufsraum betreten. Mathilde nahm frisches Mett und ein paar Bratwürste, und Elsa bekam von der Verkäuferin eine Scheibe Wurst.

Mit vollgestopftem Mund erzählte sie schmatzend: »Weißt du wa-as? Bei dem großen Haus waren zwei Männer. Die sind ganz schnell weggebraust. Soo! Brrrrmmm. Beinah haben die mich totgefahren.« Elsa quetschte sich an die Ladentheke und zog den Bauch ein, damit die Verkäuferin sehen sollte, wie sie sich ans Mauerwerk gedrückt hatte. »Soo«, sagte sie, schaute die Bedienung ernst an.

»Oh, je. Da hattest du wohl Angst?«

Elsa setzte einen leidenden Blick auf und nickte. »Hm-hm. Aber Tante Mathi hat geschimpft. Ganz doll. Weil die nämlich böse waren.« In Gedanken an das Geschehene nickte die Kleine noch immer, schaute ins Leere. Plötzlich schrie sie laut: »I-di-ooot!«, so wie Mathilde hinter dem Wagen hergerufen hatte.

»Te!«, schnalzte Mathilde und schüttelte peinlich berührt den Kopf. »Psch! Elsa! Schrei nicht so. Das macht man nicht.«

»Aber du hast das auch gemacht. I-d-iooot!«, rief Elsa erneut, strahlte dabei übers ganze Gesicht, hüpfte dann voll Freude durch den Verkaufsraum.

»Na, das Wort gefällt dir aber«, meinte die Verkäuferin lachend und schaute fragend rüber zu Mathilde.

»Ja, das war schon komisch. Aus dem Behinderteneingang von St. Cyriakus sind zwei Männer gekommen. Ich dachte, dass es Tischler oder Restauratoren sind,« erzählte Mathilde kopfwiegend. »Jedenfalls haben sie einen schweren Gegenstand rausgetragen und hinten auf die Ladefläche gelegt. Aber als sie uns gesehen haben, sind sie fluchtartig in ihren Wagen gesprungen und verschwunden. Ich weiß nicht, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Kommt mir sehr verdächtig vor. Aber vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.«

Mathilde legte das Geld, das sie bezahlen musste, in die Schale. Die Verkäuferin nahm es und meinte: »Oh, ich glaube nicht, dass Sie sich was einbilden, Frau Schneider. Als Frau von unserem Hauptkommissar haben Sie doch inzwischen auch den richtigen Blick für Verbrechen, oder?«

Mathilde zuckte die Achseln. »Oh, das sagen Sie bloß nicht meinem Mann. Der sieht das sicher anders«, schmunzelte sie.

»Aber wir Frauen sehen so manches, was Männer nicht sehen, und lassen uns nicht so schnell was vormachen, nicht wahr? Also erzählen Sie Ihrem Mann, was Sie erlebt haben. Ich bin sicher, dass da was nicht stimmt. Viel Erfolg und einen lieben Gruß an Ihre bessere Hälfte. Ich bin gespannt. Auf Wiedersehen, Frau Schneider!«, verabschiedete die Verkäuferin ihre Kundin.

»Auf Wiedersehen!«

Als Elsa eine halbe Stunde später ihrem liebsten Onkel Chris, dem Kriminalhauptkommissar, wild gestikulierend erzählte, dass ein Auto sie beinahe umgefahren hatte, meinte der amüsiert: »Oh je, Elschen, da bin ich aber froh, dass du noch lebst. Hmpf.«

»Ja, das war wirklich eigenartig, Christian«, bestätigte Mathilde, die neben dem Kind stand. »Wie Diebe haben sich die Männer benommen. Die sind regelrecht in Panik geraten, als Elsa sie ansprach. Es kam mir vor wie ... eine Flucht! Ehrlich, Christian. Ich denke, da musst du was unternehmen. Ich hab das Gefühl, da stimmt was nicht.«

Mathildes Stimme wurde schneller und schriller. Der Kommissar hörte nur noch mit halbem Ohr zu, fand die Aussagen seiner Frau nicht wirklich besorgniserregend. Er wollte Zeitung lesen, danach Rasen mähen, denn am Wochenende würde er – wegen der Hochzeit seines jüngeren Bruders – keine Zeit dafür haben.

Darum sagte er: »Ja ja, Mathilde. Ist gut. Ich denke, du steigerst dich da rein. Wenn wirklich was geklaut wurde, ist die Dienststelle der richtige Ansprechpartner. Ich hab Feierabend.«

Warum musst du immer so übertreiben, Mathilde? Zusammen mit Elsas Vorführung bekommt die Geschichte ja regelrecht theatralische Ausmaße, dachte er belustigt. Um das Kind zu beschäftigen schlug er vor: »Weißt du was, Elschen? Du malst mir ein Bild von den Männern und dem Auto und der Kirche. Dann kann ich mir das anschauen. Tante Mathi? Hast du ein Malblatt und Buntstifte für unser Elschen?«

Mathilde knirschte mit den Zähnen.

Er nimmt mich wieder einmal nicht ernst. Aber wenn Elsa abgeholt ist, werde ich es dir noch einmal erklären, mein Lieber. Da kannst du Gift drauf nehmen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Bin doch nicht blöd. Und ich ruf auch nicht auf der Wache an, wenn mein Mann selbst Polizist ist. Ich mach mich doch nicht zum Affen! Sie ärgerte sich über seine Ignoranz. Freundlich an Elsa gewandt sagte sie jedoch: »Oh ja, natürlich hab ich Malpapier. Das ist eine gute Idee, Onkel Chris.«

Schnüffelnd setzte sich Christian in den Sessel und nahm die Tageszeitung. Für ihn war das Thema damit erledigt. Elsa beobachtete den Onkel, der beim Lesen immer wieder seine Nase krauste, Luft einsog und schnüffelte. »Hmpf hmpf.« Eine dumme Angewohnheit, die ihm unter den Kollegen den Namen ›Schnüffel‹ eingebracht hatte. Dem Kind gefiel es. Es versuchte, den Onkel nachzuahmen.

»Onkel Chri-is, bist du ein Hase?«

Der Kommissar schaute irritiert auf. »Ich? – Was? – Ein Hase? Hmpf.«

»Ja!«, rief Elsa, setzte sich auf sein Bein, das er über das andere geschlagen hatte, und hopste auffordernd. »Wollen wir Hasi spielen?« Sie hielt Ihre Finger wie Hasenohren an den Kopf. Stöhnend legte der Kommissar die Zeitung beiseite und hob seine Nichte vom Fuß. »Nein Elschen. Onkel Chris hat keine Zeit zum Hasen spielen. Der geht jetzt den Rasen mähen.«

Mordsmäßig heilig

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