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Neapel sehen – und Schokolade essen

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Tritt man aus der Hitze der Stadt in die Verkaufsräume von Gay-Odin, empfängt einen angenehme Kühle. Die Temperatur gilt allerdings nicht den Kunden, sondern den sensiblen Produkten: Gay-Odin ist Neapels bekanntester Schokoladenhersteller, eine erstaunliche Tradition in einer so heißen Stadt. Auf dem Tresen versammeln sich zauberhaft verpackte Schokoladen, in Spanschachteln, die der Vesuv ziert, in Bonbonnieren, in Cellophan. Viele versehen mit dem jugendstilig verschnörkelten Firmennamen.

»Essen Sie eigentlich noch Süßes, Massimo Schisa?« Der Geschäftsführer von Gay-Odin verdreht die Augen: »Und ob!« Gestern habe er jedoch mit einer Diät angefangen. Das brauche er jährlich.

Gay-Odin, welch seltsamer Name. Er hat nichts mit dem Göttervater Odin/Wotan zu tun, sondern setzt sich aus zwei Familiennamen zusammen. Alles begann mit Isidoro Odin, einem jungen Mann aus dem Piemont. Der wanderte 1888 in den Süden Italiens aus, das war damals nicht so ungewöhnlich. Isidoro war ein aufstrebender junger Mann, er wollte in seinem Leben etwas erreichen. Da war das moderne Neapel die Stadt der Wahl.

Aber erst seit Kurzem. Noch in den Jahrzehnten davor hatten Seuchenausbrüche die dicht bevölkerte Stadt verwüstet. 1884 tötete eine weitere Cholera-Epidemie achttausend Einwohner. Neapel verzeichnete die höchste Sterberate europäischer Großstädte. Die knapp eine halbe Million zählende Einwohnerschaft der süditalienischen Metropole lebte auf engstem Raum. Nach der Katastrophe begann Neapel 1888 mit dem risanamento – gigantischen städtebaulichen Sanierungen, die die hygienischen Zustände verbessern sollten. Ganze Viertel wurden abgerissen, Schneisen in die enge Altstadt geschlagen, neue Stadtviertel entstanden.

Man sprach davon, die Stadt auszunehmen, ihr den Bauch aufzuschlitzen – sventrare – ein Wortspiel, das Bezug nahm auf den bald schon berühmten Roman »Il ventre di Napoli« (1884), »Der Bauch Neapels«, in dem Matilde Serao das Leben in der Altstadt geschildert hatte. Auch die mit einer großen Glaskuppel überdachte Einkaufspassage Galleria Umberto I wurde ab 1887 erbaut und war Teil dieser Stadterneuerung. Der gesamte Umbau brachte Luft in die Altstadt, hatte aber auch eine erste Welle der Gentrifizierung zur Folge. Denn in den schicken Palais zu wohnen, konnte sich nur das Bürgertum leisten. Hinter den potemkinschen Stadtpalästen entlang der neuen Straßen änderte sich in der Altstadt wenig.

In dieser Zeit also kam der junge Mann aus dem Piemont nach Neapel, alles war im Aufbruch, die elegante Gesellschaft promenierte durch die Stadt. Isidoro Odin arbeitete erst bei einem Onkel, dann eröffnete er eine eigene Confiserie. Nach zehn Jahren als erfolgreicher Geschäftsmann war es an der Zeit zu heiraten. Vor seiner Abreise aus dem Piemont hatte er eine junge Frau gesehen und sich verknallt, die zweitgeborene Tochter seines Nachbarn Bartolomeo Gay. An den schrieb er nun, hielt um die Hand seiner Tochter an und bot sich an, sein Schwiegersohn zu werden. Schwiegersohn werden, gute Idee, antwortete jener Bartolomeo, aber er könne ihm nur seine Erstgeborene nach Neapel schicken. Isidoro Odin stimmte zu, der Nachbar schickte Onorina Gay nach Neapel, man heiratete. Ob das damals wohl als ungewöhnlich angesehen wurde? Vielleicht freute sich ja auch Onorina auf ein Leben in der pulsierenden Stadt. Immerhin nahm Isidoro den Namen seiner Frau in den Firmennamen auf, ein neues Logo wurde kreiert, in hübschestem Jugendstil, gedruckt in Preußischblau.

Nach dem Ersten Weltkrieg baute Gay-Odin die Fabrik im Stadtviertel Chiaia. Dort wird bis heute produziert. Das Gebäude war der erste Stahlbetonbau Neapels. Ein Besuch der Fabrik mit den altmodischen Verkaufsräumen in Chiaia ist wie ein Ausflug in eine andere Welt, nicht nur wegen der temperierten Verkaufsräume. Chiaia umfasst zweieinhalb Quadratkilometer, im Norden begrenzt durch steil aufsteigende Tuffsteinhügel, im Süden durch das Meer, zusätzlich abgeschirmt durch einen Autotunnel. In diese Enklave hinein führt die Einkaufsmeile Via Chiaia. Eine gemächliche Straße zum Flanieren, gefühltermaßen Meilen entfernt – wenn auch in der Realität nur einen Kilometer – von Spaccanapoli. Unter Schatten spendenden Bäumen kann man auf Bänken ausruhen, bevor man weiterzieht in einen der edlen Läden von Liu Jo und Louis Vuitton. Und während in der Bahnhofsgegend sogenannte »Marken-Sneaker« dreißig Euro kosten, glitzert hier in der Via Chiaia in einem Schaufenster ein Paar Sandalen für dreihundert Euro.

»Nach Chiaia kam der Tourismus nur zögerlich«, sagt Massimo Schisa, Geschäftsführer und Familienmitglied von Gay-Odin. »Wir haben hier wenige Hotels, und wenn, dann nur Vier- und Fünfsternehäuser.« Erst mit AirBnB und überhaupt B & B hätten Touristen den Weg nach Chiaia gefunden. Er hoffe, so dramatische Veränderungen wie in der Altstadt nicht erleben zu müssen. »Da gab es früher ganze Straßen mit Läden für Musiker, für Brautmoden, für Bücher, jetzt findet man überall nur noch Bars und Souvenirshops.«

Veränderungen gab es aber natürlich auch bei Gay-Odin, auch beim Schokoladengenuss. Dunkle Schokolade fabrizierten die Neapolitaner »immer schon«, lange bevor es in Mode kam. Aber früher habe man Pralinen, Schokoladen und Dragees als Geschenk gekauft, sie waren aufwendig verpackt. »Heute kaufen die Kunden oft für sich selbst. Man gönnt sich etwas.« Schisa, wenige Haare, große Brille, verschmitztes Lächeln, hat in Neapel studiert und einen Abschluss in Wirtschaft und Handel. 1995 kam er zu Gay-Odin. Sein Beitrag zur Weiterentwicklung: gelato. Das wird auch in den fünfzehn weiteren Verkaufsräumen in der Stadt angeboten, sei ein Renner, »vor allem bei Jugendlichen, da es ja auch nicht so viel kostet«. Logischerweise werden verschieden Arten von Schokoladeneis angerührt, mit Ingwer, mit Chili, mit Kaffee, mit Rum und mit Zimt.

In den Läden und in der Produktion bei Gay-Odin arbeiten fünfzig Leute, hauptsächlich Frauen. Alles wird von Hand hergestellt, davon kann man sich bei einer Führung überzeugen. Und man lernt, wie kompliziert die Herstellung von Kirschpralinen ist: Die in Alkohol eingelegte Kirsche wird in Zucker getaucht, dann eingehüllt in flüssige, warme dunkle Schokolade. Die Arbeiterin hat einen langen Speziallöffel mit Löchern. Zum Abschluss vollführt sie bei jeder Praline eine kurze Drehung aus dem Handgelenk, wenn sie die schokolierte Kirsche ablegt. Und so bildet sich auf der dunklen Kugel ein Ringelschwänzchen aus Schokolade. Nach einigen Tagen löst sich – aufgrund geheimnisvoller alchemistischer Prozesse – die Zuckerschicht im Innern auf, die Kirsche liegt eingebettet in einer cremig-alkoholischen Lösung. Die Maschinen in den Fabrikräumen wirken wie aus der Zeit gefallen, gusseiserne Gewerke, regelrechte Vintage-Maschinen wie der Röster, die Mixer, die Nougat-Maschine. Diese müssten mit Bedacht behandelt werden, »wie ein alter Alfa Romeo«.

Weitere Spezialitäten sind »Foresta«, eine Borkenschokolade, und Waffeltäfelchen mit Nusscreme, die in anderen Ländern, sagen wir: Österreich, Neapolitaner Schnitten heißen. Die Wiener Variante mit der klassischen rosafarbenen Verpackung erfand 1898 Josef Manner, »Neapolitaner« heißen sie, da die Haselnüsse für die Füllung ursprünglich aus Neapel stammten.

Der Kakao für Gay-Odin kommt aus Venezuela und Ecuador. Die Qualität von Kakao sei ziemlich gleichbleibend, da das tropische Klima stabiler sei als das mediterrane, »solche Schwankungen wie beim Wein hat man nicht«.

Schokolade hat in Neapel Tradition, oder sollte man sagen: schokoladeähnliche Produkte? Etwa das berühmte bitter-süße sanguinaccio, in das zur Karnevalszeit Gebäck eingetaucht wird. Von tiefdunkler Farbe – aber mit Kakao wurde es traditionell nicht hergestellt. Sanguinaccio heißt Blutwurst, ursprünglich wurde für die puddingähnliche Paste nämlich Schweineblut gekocht.

Mitten in der Stadt eine Fabrik zu unterhalten, sei natürlich »unpraktisch«, so Schisa, etwa aus logistischen Gründen. Waren müssen in den frühen Morgenstunden angeliefert werden, bevor der Verkehr die Stadt lahmlegt. Manchmal würden sie Scherze darüber machen, mit der Herstellung rauszuziehen in die Vororte und die Fabrik in eine profitable Garage umzuwandeln. »Aber in Wahrheit haben wir nie ernsthaft daran gedacht.«

In Neapel zu leben, zu arbeiten und Handel zu betreiben, sei nicht immer einfach, sagt Schisa. Es mangle an Infrastruktur und die konstruktiven Kräfte der Stadt müssten sich besser vernetzen. Trotzdem sei die Verbindung des Traditionsunternehmens zur Stadt tief, ihre Sonderanfertigungen würden oft zu dauerhaften Familienerinnerungen. Da werden in den Ostereiern Geschenke versteckt, etwa die Schlüssel eines maßgefertigten Autos oder eine Schatulle mit einem Solitär. Und unlängst dekorierten sie ein Riesenei mit der Aufschrift »Willst du mich heiraten?«. Er gehe mal davon aus, dass die Antwort positiv ausgefallen sei, sagt Schisa. Auch als Mitbringsel in andere Länder werde Gay-Odin-Schokolade gekauft. »Das macht uns sehr stolz.« Neapel sei eine aufregende Stadt, doch manchmal fehle ein Gemeinschaftsgefühl. Neapel lebe immer am Limit: »Wir haben alles im Übermaß, Schönheit und manchmal Hässlichkeit. Dennoch: Ich liebe meine Stadt.«

Da zeigt sich Schisa eben als typischer Neapolitaner, die nicht »von ihrer Stadt weichen wollen«, wie schon Goethe 1787 in seiner »Italienischen Reise« schrieb: »›Vedi Napoli e poi muori!‹ sagen sie hier. ›Sieh Neapel und stirb!‹ Daß (…) ihre Dichter von der Glückseligkeit der hiesigen Lage in gewaltigen Hyperbeln singen, ist ihnen nicht zu verdenken, und wenn auch noch ein paar Vesuve in der Nachbarschaft stünden.« Wer aber in den Vico Vetriera kommt, seit über hundert Jahren der Firmensitz von Gay-Odin, wird wohl eher schwärmen: Neapel sehen – und Schokolade essen.

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