Читать книгу Winter - Barbara Schaefer - Страница 12

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Die Nordlandsbanen fährt bis Bodø, dem nördlichsten Bahnhof, der von Oslo aus zu erreichen ist. Hinter Mo i Rana räuspert der Schaffner sich. Man fahre nun unterm Saltfjellet-Nationalpark hindurch, außerdem überquere der Zug hier den Polarkreis.

Polarkreis, Nordpol, Mittsommernacht, Polarnacht – vielleicht eine kurze Erklärung, was das alles ist. Es kann einen durchaus verwirren. Wie diese Besucherin am Nordkap, die mich in der Sommernacht irritiert fragte, wann denn genau diese Mitternachtssonne aufgehe?

Wohlan: Als (nördlicher) Polarkreis wird jener Breitengrad bezeichnet, auf dem mindestens an einem Tag im Jahr die Sonne nicht untergeht beziehungsweise nicht aufgeht. Je weiter nördlich man kommt, desto länger dauern Mitternachtssonne – also Tage, an denen die Sonne auch um Mitternacht zu sehen ist – und die winterliche Polarnacht, wenn die Sonne sich gar nicht zeigt. Am Pol dauert das dann je ein halbes Jahr.

Die Polarnacht ist eine Folge der Neigung der Erdachse. Die Region um die Pole ist im Winter der Sonne abgewandt und liegt somit im Dunkeln. Der nördliche Polarkreis liegt etwa auf 66° 33' 55", er verläuft in Europa knapp oberhalb Islands, zieht dann durch Norwegen bei Mo i Rana, in Schweden bei Jokkmokk und in Finnland bei Juoksenki. Ein Großteil der bewohnten Regionen in Grönland liegt also südlich, Bodø hingegen nördlich davon.

Im Winter sitzen im Zug fast nur Einheimische, die kümmert das ganze Polarkreis-Thema nicht, sie leben ja hier. Die Bahnstrecke hingegen bauten die Deutschen, genauer gesagt: Kriegsgefangene aus Osteuropa. Sie verlegten die Gleise im Zweiten Weltkrieg zwangsweise.


In Bodø geht die Sonne jetzt schon eine Stunde später auf als in Oslo. Bodø steht etwas im Schatten von Tromsø, der Universitätsstadt weiter im Norden. Doch die Stadt mausert sich, in den letzten Jahren wurde viel gebaut. Auslöser dafür war eine eigentlich schlechte Nachricht: Die Militärbasis wurde abgezogen, sie ist jetzt in Tromsø, „da waren auf einmal Arbeitsplätze und Identität futsch“, erzählt ein Einheimischer.

Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, entwickelte sich eine Aufbruchsstimmung. Eine moderne Bibliothek und das Konzerthaus strahlen nun weiß am Fjord. Auch ein neues Rathaus wird gebaut – und da führt nun Steffen Lehmann die Bauaufsicht, ein Maurermeister aus Dahme bei Berlin.

„Die Leute hier stört die Dunkelheit einfach nicht“, sagt Lehmann, der seit elf Jahren in Norwegen lebt. „Man isst früh zu Abend und danach geht man noch auf eine Skitour, mit Stirnlampe.“ Lehmann kam als Maurer nach Norwegen, arbeitete sich hoch und „als der Seniorchef verkaufte, bin ich einer von zehn Aktionären geworden.“

Die Firma kümmere sich um die Leute im Winter, „wir verteilen Obstkörbe, nicht nur in den Büros, sondern auch in den Containern auf den Baustellen. Und die Leute bekommen Freikarten fürs Fitnessstudio.“

Die größte Herausforderung für das Bauen im Winter sei der Wind. „Auf den Lofoten haben wir eine Lachsfabrik gebaut, da sagte mir einer, ich solle den Holzstapel festbinden. Ich dachte, der nimmt mich auf den Arm. Bis dann ein Vierkantholz knapp an mir vorbeigeflogen kam.“ Weil Beton in der Kälte nicht fest werde, wird Chemie eingerührt. „Und wir heizen die Baustelle. Erst wird mit Folie abgehängt, dann heizt ein Gebläse auf 40 Grad, damit die Decke trocknet. Bei minus 10 Grad ist Schluss, da arbeiten wir nicht mehr.“

Doch weiter im Inland, in Mo i Rana, „wird noch bei minus 30 Grad auf dem Bau geschafft. Man arbeitet 15 Minuten, dann huscht man rein und wärmt sich für 15 Minuten auf. So geht es den ganzen Tag.“ In Gesprächen sei das Wetter immer ein Thema, aber auf eine ganz präzise Art. „Die sagen dann: Der Wind hat auf Südost gedreht, kommt heute vom Fjord. Nicht einfach nur: Es ist kalt geworden.“

Am ersten Tag, wenn die Sonne wieder aufgeht, gibt es in ganz Bodø Solboller, Sonnen-Brötchen, „dit sin Pfannkuchen“, sagt Lehmann. „Man will’s ja nicht so zulassen, aber es ist ein emotionaler Moment, es packt dich, wenn die Sonne kurz zu sehen ist.“ So richtig habe er sich nie an die Dunkelheit gewöhnen können. „Also bei mir sackt die Motivation echt gegen Null. Ich nehme alle meine freien Tage im Winter am Stück. Und dann fliege ich nach Brandenburg und nach Dubai.“

Abend an der Mole. Einige Jogger sind unterwegs, sie tragen Leuchtpunkte an der Laufkleidung, das sieht aus wie Bewegungsstudien für Animationsfilme. Über den tiefgefrorenen Schnee spaziert es sich holprig. So schön wie barfuß am Strand. Oder: wie im tiefsten Winter.

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Ich stehe auf einem Felsen am Fjord. Es ist kalt, es ist dunkel. Ich stecke die Hände mit den Wollfäustlingen in die Jackentaschen, trete von einem Fuß auf den anderen. Nicht so sehr aus Ungeduld, sondern um die Blutzirkulation anzuregen. Anne-Marte steht einfach nur da. Dann sagt sie: „Schau. Über den Bergen.“ Sie zeigt nach Norden, Richtung Lofoten, dort erblüht ein grünlicher Schleier. Man könnte es für eine Wolke halten, von einem fahlen Licht beschienen. „Polarlys“, sagt Anne-Marte: Polarlicht. Deshalb sind wir mit ihrem durchgesessenen Volvo, in dem es intensiv nach Hund riecht, rausgefahren aus der Stadt. „Aurora chasing“ nennen sie das in Bodø: die Jagd auf das Nordlicht.

Der grünliche Schleier formiert sich, als würden sich seine vereinzelten Teilchen zu etwas Größerem neu zusammensetzen. So wie man es manchmal bei Vogelschwärmen beobachten kann. Die Wolke wird zu Wellen, zu einer schwingenden Bewegung, sieht aus wie eine altmodische Gardine, aber so, als würde man auf dem Wohnzimmerteppich liegen und von unten zum Vorhang hochschauen.

Es ist schwer, jemandem, der noch nie eines gesehen hat, ein Nordlicht zu beschreiben. Auf Fotos werden sie tausendfach gezeigt, doch da sind sie erstarrt. Aber hier, am Fjord und in der Kälte, bewegt sich das Licht in sanften Schwüngen. Moderne Analogien drängen sich auf. Wie eine Laser-Show sieht es aus. Wie der Auftakt zur Landung von Außerirdischen auf unserem Planeten.

Kein Wunder, dass das Nordlicht die Menschen zu Sagen und Mythen inspirierte. Bis heute wirkt es zugleich poetisch und unheimlich. Und hat trotz wissenschaftlicher Erklärungen, die wir nun kennen, nichts von seinem Zauber verloren. So soll dieses Kapitel vom Dunklen und vom Hellen des Winters erzählen. Von Licht und Nacht und von Farben jenseits von Schneeweiß.

Ausgerechnet in Nordnorwegen, wo es die Sonne im Winter zwei Monate nicht über den Horizont schafft, zeigt sich die Aurora Borealis mit schönster Regelmäßigkeit. Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Nordlicht her.

Als ich zum ersten Mal ein Nordlicht sah, wurde ich gleich mit der mythischen Komponente des Himmelsspektakels konfrontiert. Um es vorwegzunehmen: Ich hatte großes Glück, mein erstes Nordlicht war spektakulär. So gesehen hatte ich eher Pech, denn nie wieder konnte es mich so beeindrucken. Aber vielleicht ist das ohnehin so mit den ersten Malen im Leben.

Ich verbrachte in den 90er-Jahren einen halben Winter in Grönland, in Tasiilaq an der Ostküste. In einer mondlosen Nacht ging ich von einem Essen nach Hause. Es war klirrend kalt und somit klar. Dann ging es los. Zarte grüne Lichter stiegen am Horizont auf, wurden kräftiger, sie wehten, als würde jemand pusten. Das Licht wurde immer intensiver, schließlich mischten sich violette Töne hinein. Und alles konzentrierte sich auf den Zenit, stieg empor in die Mitte des Himmels, wie angezogen von einer fernen Macht.

Es sah auch für einen vernunftbegabten, nicht spirituellen Menschen sehr gespenstisch aus. Das fanden vor allem die Kinder, die noch unterwegs war. Kreischend rannten sie durch die Straßen der Stadt, in einer Art gespieltem Schrecken. Im Ohr die Geschichten und Mythen von Geistern, von Schamanen, von den Toten, deren Seelen so über den Himmel waberten. Die Märchen der Gebrüder Eskimo. Und auch wenn auf jedem roten oder gelben Holzhaus in dieser kleinen Siedlung eine Satelliten-Schüssel prangte – die alten Geschichten sind noch präsent.

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Was genau das nun ist, dieses Licht am Winterhimmel, dazu später. Wofür es gehalten wurde ist weitaus spannender. Sowohl in der Mythologie als auch in der frühen Wissenschaft. Im Grunde genommen hat das Nordlicht nichts mit dem Winter zu tun. Es strahlt auch im Sommer am Himmel, nur ist da 24 Stunden Tag und man sieht es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, im Winter ein Nordlicht zu sehen, ist entlang eines gedachten Ovals um den Nordpol am höchsten.

Ähnliche Bedingungen gelten am Südpol, nur leben und lebten dort weitaus weniger Menschen, somit sind weniger Forschungsberichte und Legenden überliefert. Dieses Nordpol-Oval verläuft über Nordnorwegen, zieht sich nach St. Petersburg, folgt der Nordostpassage am Nordrand von Russland, meist unbewohnten Regionen, schwappt hinüber nach Alaska und Nordkanada, um dann weit in den Süden hinunter zu sacken, um die Südspitze Grönlands herum, streift Island und schließt sich im Norden Skandinaviens.

Das heißt: Wer zum Nordpol fahren würde, um Nordlicht zu sehen, ist übers Ziel hinaus geschossen. Auch Spitzbergen liegt zu weit im Norden, oberhalb des leuchtenden Kranzes. Und zur Begrifflichkeit: Polarlicht beschreibt das Phänomen im Allgemeinen, Nordlicht – oder Aurora Borealis – die Erscheinung auf der Nordhalbkugel, Aurora Australis das Licht über der Antarktis.

Wovor liefen also die Kinder in Tasiilaq davon? Legenden zum Nordlicht haben alle Völker gesponnen, die damit in Berührung kamen. In Ostgrönland aber kursiert eine besonders gruselige Variante. Dort heißt es, das Nordlicht komme zustande, wenn die Seelen totgeborener oder im Geheimen geborener Kinder mit der Nachgeburt Ball spielen. Hätte ich als Kind mit dem Begriff Nachgeburt etwas anzufangen gewusst – ich wäre auch gerannt.

Noch furchteinflößender sahen es die Inuit in Alaska: Kämen Kinder bei Nordlicht nicht schnell genug ins Haus, stiege es herab und spiele mit den Köpfen der Kinder Ball. In Grönland hieß es zudem, die Seelen Verstorbener versuchten, Kontakt mit ihren Angehörigen aufzunehmen. Wer keine Lust auf diese morbide Kommunikation hatte, suchte lieber das Weite, genauer gesagt: den Schutz im Haus. Die Sagen ums Nordlicht und die Vorschrift, wie man sich zu verhalten habe, lassen sich in zwei Arten einteilen: Die einen, es ist die Minderheit, winken das Nordlicht herbei, die anderen rennen vor ihm davon.

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In der altnordischen Mythologie steht das Polarlicht für Bifröst, die Brücke zwischen Himmel und Erde, die einstürzt, wenn der Weltuntergang naht. Eher anheimelnd erscheint das Polarlicht in einer der wenigen Mythen von der Südhalbkugel. Die Maori Neuseelands hielten es für ein Feuer, das ihre Ahnen auf dem Weg in Richtung Antarktis angezündet hatten, um sich an die warmen Tage in Neuseeland zu erinnern.

Wie auch Kometen und Sonnenfinsternisse galt das Nordlicht in vielen Kulturen als Unheilsverkünder: Krieg, Armageddon, Pest, Cholera und Teuerung, das waren die Schrecken des Mittelalters – auch in Mitteleuropa. Denn manchmal zeigt es sich weit im Süden, so am 17. März 1716 sogar in Halle. Ein Zeitgenosse berichtete vom überaus hellen Licht, dessen Klarheit größer gewesen sei als selbst das Licht des Mondes. Aus dem leuchtenden Bogen seien „verschiedene Strahlen heraus geschossen, nicht so schnelle als der Blitz.“

In Sibirien sah man das Licht gerne. Dem Volksstamm der Tschuwaschen verhieß das Himmelsflirren eine schmerzlose Geburt. Manche Norweger erzählen heute noch, wie sie als Kinder dem Nordlicht mit weißen Tüchern oder Schals zugewunken haben. Das Licht reagiere darauf, hieß es, es werde stärker und ließe ein Knistern hören.

Anne-Marte, mit der ich am Fjord stehe und auf noch mehr Lightshow am Himmel warte, schraubt die Thermoskanne auf und schenkt Kaffee in dicke Henkelbecher. Kaffee ist so etwas wie das flüssige norwegische Grundnahrungsmittel. Ohne geht es nicht, und schon gar nicht in einer kalten Winternacht.

Anne-Marte erzählt, als Kind habe sie sich eher davor gefürchtet. „Es wurden einem ja immer die entsprechenden Geschichten erzählt. Man darf nicht fluchen und nichts Böses sagen, sonst holt einen das Nordlicht. Wie soll man sich da nicht fürchten!“

Die Vorstellung, ein bestimmtes Verhalten könne das Nordlicht beeinflussen, ist eine Volksweisheit, die natürlich genauso wenig haltbar ist wie die Blitz-Bauernregel „Buchen sollst du suchen.“ Wenn auch ungefährlich. Analogien zu Blitzen gibt es weitere: Manche Schweden rieten dazu, auf das Nordlicht mit einem metallenen Gegenstand zu zeigen, dann würde es verschwinden. Und auch das Gegenteil wurde empfohlen: Der Darmstädter Polarforscher Carl Weyprecht berichtete, wie auf der Nordpolexpedition der Norweger Carlsen bei Nordlicht alles Eisen von seinem Körper fernhielt, auch die Gürtelschnalle ablegte, um das Licht nicht anzuziehen.

Von Weyprecht, dem Wissenschaftler, ist eine der poetischsten Beschreibungen des Nordlichts überliefert. In sein Tagebuch schrieb er, wer die Natur wahrhaft bewundern wolle, der müsse sie in ihren Extremen beobachten. Das gelte für die Tropen „im strotzenden Sonntagskleide“ genauso wie für die „Pole in ihrer Nacktheit.“

Auf dem Weg zum Pol sah er 1873 das Nordlicht, und Christoph Ransmayr zitiert ihn so: „Das ganze Firmament steht in Flammen; in dichten Büscheln schießen fortwährend Tausende Blitze von allen Seiten jenem Punkte am Himmelsgewölbe zu, nach welchem die freie Magnetnadel weist; um ihn herum flimmern und flackern und wogen und lecken in wildem Durcheinand die intensiv lichtweißen Flammen mit farbigen Rändern; wie vom Winde gepeitscht jagen feurige Lichtwellen sich kreuzend und überstürzend von Ost gegen West und von West gegen Ost.“

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Bei einigen Ethnien wird dieses wilde Zucken wenig verwunderlich mit Tanz gleichgesetzt. In Westnorwegen heißt es, das Nordlicht seien alte Jungfern, die mit ihren Handschuhen winken. Ohnehin tendieren Sagen von ihrem Inhalt her zu unverheirateten Frauen, vielleicht weil beides – Nordlicht und Frauen, die ohne Männer klar kamen – den Zeitgenossen gleichermaßen rätselhaft erschien.

So heißt es auch in Finnland, „die alten Frauen schweben über Konunsuo“, jenem Ort, an dem sich tote Jungfrauen aufhielten. „Merry dancers“ wird das Nordlicht in Schottland genannt, hier jedoch waren es übernatürliche Wesen, die am Firmament um die Gunst einer Frau kämpften. Ebenso machte die Ahnung die Runde, das Nordlicht sei nichts anderes als Reflexionen von den Schilden der Walküren, den Jungfrauen der nordischen Mythologie.

Ähnlich, wenn auch weniger poetisch, kommt der Name „Herings-Licht“ im Norwegischen zustande: als Reflexion großer Heringsschwärme. Mit Fischen wird es zudem in einer Region Sibiriens in Verbindung gebracht: Einer der Götter, der den Fischern bei ihrer Arbeit hilft, zündet das Licht an, damit sie es leichter haben. Mit einer christlichen Komponente versehen, betrachteten es Nordnorweger und Schweden: Das Licht komme von einem aktiven Vulkan, den der Schöpfer platziert habe, um die Polarnacht zu erhellen.

Das mag heute verschroben klingen, aber sogar der schwedische Astronom Anders Celsius – der mit den Graden – schrieb 1742, das Nordlicht müsse ein aktiver Vulkan am Nordpol sein.

Die fundierte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nordlicht setzte relativ spät ein. Möglicherweise hing es damit zusammen, dass es so wenig vorhersehbar war und ist, im Gegensatz zu Himmelserscheinungen wie Vollmond, Sonnenfinsternis, Kometen und Venuspassage.

In einem Volksnaturlehre-Buch von 1810 wurde noch angenommen, der strahlende Schimmer sei ein schwaches elektrisches Licht, „welches vermuthlich entsteht, wenn durch das Reiben des in der Luft befindlichen feinsten Eisstaubes die Luftelektricität erregt, und in den Eistheilchen das Licht auf mannichfaltige Weise gebrochen, zurückgeworfen und dadurch in Farben verwandelt wird.“

Im Zuge der Aufklärung hatten die Naturwissenschaften schon alle möglichen Fragen zum Körper und zum Kosmos geklärt, die Vermessung der Welt war weit fortgeschritten, das Nordlicht jedoch waberte noch immer wissenschaftlich unbeleuchtet herum.

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Das konnte so nicht bleiben, und wer sonst als die Norweger wären prädestiniert gewesen, diese Aufgabe anzugehen. Sie bauten ein Nordlicht-Observatorium, auf einem Berg in Lappland, forschten so weit oben wie möglich, um dem Nordlicht näher zu sein. Es steht in der Nähe von Alta, dorthin wird mich meine Norwegenreise in drei Tagen bringen.

Dort, in der Finnmark, im Ortsteil Bossekopp, entstand das erste Foto des Nordlichts: Martin Brendel, ein deutscher Ingenieur, hatte 1892 mit sieben Sekunden Belichtungszeit die Aurora Borealis festgehalten.

Das Observatorium sollte in einer niederschlagsarmen Region gebaut werden, die möglichst wolkenlose Polarnächte bietet. Die Finnmark ist so ein Gebiet. Das Nordlicht-Observatorium wurde auf Halddetoppen errichtet, einem Berg am Altafjord, 904 Meter hoch. Halddetoppen ist ein rechter Schotterberg, buntes Gestein rutscht bei jedem Schritt davon, dazwischen liegen rein weiße Splitter mit glatter brauner Porzellan-Außenhaut, geborstene Isolatoren, die Reste der ehemaligen Stromversorgung des Observatoriums. Nebel verhüllt alle Aussicht. Unvermittelt schält sich die Silhouette des massigen Steinhauses heraus.

Kristian Birkeland war der Ideengeber dieses Observatoriums. Der 1867 geborene Physiker hatte sich eine Theorie – und einen Versuchsapparat – zum Nordlicht zusammengebastelt. In einer Vakuumkammer ließ er Kathodenstrahlen auf eine magnetisierte Kugel prallen – und siehe da: Ähnlich dem Nordlicht waberten Streifen um diese Kugel. Doch nun wollte er das Nordlicht an Ort und Stelle erforschen und nicht mehr in den Labors von Kristiania, wie Oslo damals hieß. Er wollte vor allem herausfinden, in welcher Höhe das Nordlicht über den Himmel streicht und deshalb diesem so nahe wie möglich sein. Beim Parlament reichte er 1897 ein Gesuch um Mittel dafür ein und nutze dabei clever den Geist der Zeit.

Fridtjof Nansen hatte Grönland durchquert, er war von der Fram-Drift zurückgekehrt (und hatte dabei das Nordlicht gezeichnet). Norwegen forderte die Unabhängigkeit von Schweden und Kristian Birkeland drängte, die Nordlichtforschung könne Norwegen auch in dieser Frage voran bringen. Der Physiker ließ das Parlament wissen, Schweden und Dänemark hegten ebenfalls Pläne zur Erforschung des Nordlichts. Er bekam sein Geld.

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1899 zog Birkeland für erste Untersuchungen auf Halddetoppen und blieb den Winter über. Ab 1912 wurde das Observatorium permanent betrieben; sein Leiter Olaf Devik schrieb, es sei Norwegens rauester Arbeitsplatz. Neben der Forschungsstation stand ein Wohnhaus, bis zu 15 Menschen lebten hier oben – und drei Kinder kamen hier zur Welt. Dabei gab es nicht einmal Trinkwasser. Schnee zu schmelzen war die einzige Möglichkeit.

Das Observatorium, ein quadratisch gemauerter Turm aus Felsbrocken, ist nur über eine rutschige Holzstiege zu erreichen. Über eine schwere Falltür gelange ich zum Ausguck, drei knarzende Türen führen in den Schlafraum. Dort war wohl lange niemand, es ist eisig kalt, doch ein Ofen, der klassische Jøtul, steht bereit. Seit 1853 baut Jøtul diese äußerst praktischen, gusseisernen Öfen. Leicht anzuheizen, herrlich wärmend. Gut möglich, dass auch Birkeland einen hatte.

Sogar in der einsamen Finnmark ist dies ein besonders abgeschiedener Platz. Niemand sonst wanderte an diesem Tag noch hinauf, es ist absolut ruhig. Ich übernachte in dem Gebäude, die Stille bleibt. Die ganze Nacht. Ich schrecke auf, weil Mäuse im Gebälk trippeln. Wenn es denn Mäuse sind.

Ein Schild außen am renovierten Observatorium verkündet nüchterne Daten. Das Nordlysobservatorium liegt auf 904 NN, war bis 1927 in Betrieb und: „Brent av Tyskerne 1944“ – die deutsche Besatzungsmacht brannte beim Rückzug aus der Finnmark sogar das Haus auf Halddetoppen nieder.

Birkelands Engagement war schon lange vorher geschwunden. Denn als ein erstes Ergebnis hatten seine Forschungen erbracht, dass die Aurora Borealis nicht wie angenommen kurz überm Erdboden erstrahlte, sondern durchschnittlich in einer Höhe von 110 Kilometern darüber. Der knappe Kilometer, den man ihr auf Halddetoppen näher war, spielte nicht wirklich eine Rolle. Das Observatorium zog um nach Tromsø.

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Wichtiger als die Höhe war und ist die Wetterlage. Nordlicht entsteht also, wie bewiesen, in der Thermosphäre und somit oberhalb der Wolken. Was bedeutet: An kalten Wintertagen sind die Chancen, Nordlicht zu sehen, besonders gut. Denn wenn es klar ist, also wolkenfrei, ist es auch kalt.

Birkelands Nordlicht-Theorie besagte, dass Elektronen der Sonne das Gasgemisch der oberen Atmosphäre zum Leuchten anregten. Das war schon ziemlich gut, im Vergleich zur früheren Annahme, Polarlichter seien Reflexionen von Sonnenlicht an Eiskristallen. Zwischenzeitlich hatte Edmond Halley – der mit dem Kometen – einen Zusammenhang zwischen Erdmagnetfeld und Polarlichtern hergestellt. Doch eine andere seiner Nordlichttheorien hat bis heute eine große Anhängerschar – unter den Verschwörungstheoretikern. Jenes starke Polarlicht von 1716 erklärte er damit, dass die Erdkruste in nördlichen Breiten dünner sei und so das Licht aus den Hohlräumen durchscheine. Die „hohle Erde“ oder „Hohlwelt“ – ein Klassiker der Verschwörungstheorie.

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Zurück zum Faktischen und den Nordlichtern. Die wissenschaftlich exakte Erklärung lautet: Polarlichter entstehen, wenn elektrisch geladene Teilchen des Sonnenwindes, also hauptsächlich Elektronen, aber auch Protonen, auf Sauerstoff- und Stickstoffatome in den oberen Schichten der Erdatmosphäre treffen und diese ionisieren. Bei der nach kurzer Zeit wieder erfolgenden Rekombination – also dem Umkehrprozess des Ionisierens – wird Licht ausgestrahlt. Das klingt logisch. Oder auch völlig unverständlich.

Auch die Farben des Polarlichts können nun erklärt werden. Am häufigsten tritt es in diesem Gelb-Grün auf, das ich schon mehrfach gesehen habe. Dieser Farbton kommt durch einen starken Anteil von atomarem Sauerstoff in der Luft zustande. Eine violette Färbung am unteren Rand lässt auf einen bestimmten Anteil an Stickstoffmolekülen schließen.

Schießt es aber in rötlichen Strahlen zum Firmament, wie mein erstes Nordlicht in Grönland, sind dafür wiederum Sauerstoff-Anteile verantwortlich. Bei besonders großen Nordlichtern tritt oft dieser Rotanteil stärker hervor. In seltenen Fällen ist das bis nach Südskandinavien und Mitteleuropa zu sehen. Als würde der Himmel brennen. Was in früheren Jahrhunderten apokalyptische Ängsten hervorrief.

Da das Wesen des Nordlichts und seine Verbindung zum Magnetfeld der Erde noch immer nicht vollständig erforscht sind, schickt das deutsche Alfred-Wegener-Institut jährlich Wissenschaftler in den allertiefsten Winter, in die Neumayer-Station in der Antarktis. Um das Erdmagnetfeld zu messen, betreiben die Üwis – wie sich die Überwinterer nennen – ein geophysikalisches Observatorium in einem Container aus nichtmagnetischen Materialien. Darin messen diverse Instrumente kontinuierlich die momentane Ausrichtung des Magnetfeldes.

Wenn magnetische Stürme toben, ist auch das Polarlicht zu sehen. Dieses Observatorium aber liegt 13 Meter tief unterm Eis. Wenn das Birkeland gewusst hätte; der Wissenschaftler, der auf einen Berg stieg, um dem Nordlicht näher zu sein.

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Auf diesem Felsen am Fjord von Bodø stehen Anne-Marte und ich nicht lange alleine. Bald kommt ein Bus, dann ein zweiter. Ausgerüstet mit der „Aurora Forecast-App“ lotsen Guides ihre Gäste zu den besten Spots. Aufgedrehte Menschen in dicken Daunenjacken und Winterhosen stolpern aus den Bussen, halten sofort ihre Smartphones und Kameras zum Himmel. Es fängt an zu blitzen, aus den Kameras. Als wenn das etwas bringen würde. „Schaut hin und kauft euch danach Postkarten“, würde ich am liebsten sagen.

Der Nordlicht-Tourismus hat Nordnorwegen einen ungeahnten Winter-Boom eingebracht. Vor allem japanische Touristen strömen nun nach Bodø und Tromsø – vor allem Paare mit Kinderwunsch. Den nämlich soll das Nordlicht erfüllen. Man kann sagen, dass das Nordlicht Glück hat, dass es nicht erstochen, erschossen oder sonst wie gehäckselt werden muss, um einer Aphrodisiakum-Mythologie zu genügen. Dabei ist es für die Touristen – wie für die früheren Forscher – von Vorteil, dass Nordnorwegen in einer relativ milden Gegend liegt, dem Golfstrom sei es gedankt. Im Januar fallen die Temperaturen im Mittel auf minus fünf bis minus zehn Grad. Da wird es ja in Berlin kälter. Ganz zu schweigen von anderen Regionen, die ähnlich weit im Norden liegen. In Westgrönland werden bis zu minus dreißig Grad gemessen, vom Kälteloch Sibirien gar nicht zu reden.

Wer Pech hat und in seinem Winterurlaubswochenende doch kein Nordlicht sieht, kann in Tromsø ins Vitensenteret, ins Nordnorwegische Wissenszentrum gehen. Im Planetarium kann man sich eine Aurora-Show ansehen, ein umwerfend schönes Spektakel. Wer allerdings die Hoffnung nicht aufgeben möchte, doch eines in echt zu sehen, sollte nicht reingehen. Die Fotografen der Show verbrachten Jahre damit, derart fantastische Aufnahmen zusammen zu stellen. Die Natur kann da bei einem kurzen Besuch einfach nicht mithalten.

Man kann aber selber eines fabrizieren:. Im Museum der Universtität Tromsø können Besucher das Experiment wiederholen, das Kristian Birkeland ersonnen hatte. In einer Box, die fast ein Vakuum enthält, werden einige Sauerstoffteilchen belassen. In dieser Box hängt eine magnetisierte Stahlkugel, also eine Mini-Erde. Dazu kann ein Solarsturm aus Gas per Knopfdruck ausgelöst werden. Und schon flimmert es an den Polen der kleinen Kugel irisierend.

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Auch Einheimische in Bodø und Tromsø, die nichts mit dem Tourismus zu tun haben, freuen sich über die Winter-Besucher, die Nordlicht-Touristen. So Leif Egil Holbak-Hanssen, den ich in einem anderen Winter auf einer Skitour traf. Die Besucher sorgten im Winter für eine Belebung der Stadt, sagt der 35jährige. Holbak-Hanssen ist von Südnorwegen nach Tromsø gezogen, der Winterberge wegen. Seit zehn Jahren lebt er hier, aber das Polarlicht sei immer noch „ein großer Wow-Faktor. Wenn ein tolles Nordlicht aufscheint, dann stehst du doch wieder mit offenem Mund da.“ Leif Egil Holbak-Hanssen liegt die Nordlicht-Begeisterung auf spezielle Weise im Blut: Sein Urgroßvater arbeitete im Observatorium, und seine Großmutter war eines der drei Kinder, die auf Halddetoppen auf die Welt kamen.

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