Читать книгу Winter - Barbara Schaefer - Страница 7
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Ich sitze im Flieger, auf dem Weg nach Grönland. Ich bin eingenickt, mein Kopf lehnt am Fenster. Ich wache auf, weil mir kalt ist, suche nach der Decke, die mir von den Knien gerutscht ist, finde sie nicht und schiebe die Fensterblende nach oben. Draußen ist es gleißend, blendend hell. Unter uns liegt endlos weit der Nordatlantik. Das Meer ist erstarrt. Packeisschollen breiten sich darauf aus, von oben sieht es aus wie eine frisch zugefrorene Pfütze. Nur in weltenweit groß. Das Eis ist von matter, grau-weißer Farbe. Darin eingepackt liegen wie verankert strahlend weiße Eisberge. Von der tiefstehenden Sonne beschienen, werfen sie lange Schatten auf das Eis. Am liebsten würde ich alle Passagiere aufwecken, alle Blenden nach oben schieben und laut rufen: „Seht euch das an! Gibt es Schöneres auf der Welt als den Winter?“
*
Frühling, Sommer und Herbst ähneln einander. Nur der Winter steht für sich. Die Welt gerät in einen anderen Aggregatzustand: Wasser gefriert. Die Landschaft wird erst kahl, dann weiß. Was macht das mit den Menschen? Und warum lieben manche gerade dies?
Wie lebt man, wenn viele Monate lang Schnee liegt? In manchen Weltgegenden ist Eiseskälte nicht nur schön, sondern praktisch: So am Baikalsee, der im Winter meterdick zufriert und dann zur Transitstrecke wird zwischen Irkutsk und Ulan-Ude. Auch in Nunavut, dem Inuit-Territorium im äußersten Norden Kanadas, sind Hunderte Kilometer Eisstraßen nur im Winter befahrbar. Die grönländischen Jäger bewegen sich vorrangig mit Hundeschlitten – und mit Schneemobilen – fort.
Doch die Auswirkungen des Klimawandels verändern das Leben in hohen Breiten dramatisch. Das bekommen Menschen in diesen Regionen so deutlich zu spüren wie Inselbewohner in Äquatornähe. Nur wird darüber weniger berichtet.
Seit Jahrzehnten führen mich Reisen in den Winter; für dieses Buch konnte ich mich erneut eine ganze Saison lang intensiv mit allen Freuden und allen Fragen dieser Jahreszeit beschäftigen. Schon im November, dem Vorfreudemonat der Winterliebhaber, machte ich mich auf die Suche nach Schnee und nach Kälte. Ich fuhr hoch hinauf, eine Reise ans Nordkap gab mir tiefe Einblicke in die schier unerschöpfliche Kreativität der Menschheit. Als könnten wir uns an jede Art von Lebensbedingungen anpassen. Kalt – na und? Dunkel – na und?
Ein Busfahrer auf Magerøy erklärte mir, wie Dieselkraftstoff und Motoren bei Kälte funktionieren und wo mit Spikes gefahren wird. Ein Maurermeister in Bodø erzählte, wie Baustellen geheizt werden, damit der Beton hart wird. Und ein Psychologe forscht seit Jahrzehnten in Tromsø nach der Winterdepression – und findet sie nicht.
Alle Nordlandbewohner erzählen davon, wie sie es sich im Winter koselig, hyggelig, mysiga machen – verschiedene skandinavische Wörter für einen wohligen Zustand: helle Lichter in die Fenster stellen, Nachbarn zum Essen einladen und sich schon im November zu Weihnachtsfeiern treffen. Auch wenn manche zwischendurch für zwei Wochen zum Sonnetanken auf die Kanaren ausbüchsen.
Die allermeisten aber gehen mit großem Optimismus und Vorfreude in den Winter, jedes Jahr wieder. Mit einem Erfindungsgeist, der sich seit Jahrhunderten bewährt und der sie im rauen Klima bestehen lässt.
Die Faszination für Kälte, für Leben in extremen Bedingungen, zog Polarforscher an und hinaus in diese Welten. Ihnen folgten als Reisende im Kopf die Leser ihrer Bücher. Einige von ihnen standen auf aus dem gemütlichen Lehnstuhl, stellten eine Ausrüstung und ein Team zusammen, zogen ihrerseits los und schrieben wieder neue Bücher.
Auch meine Polar-Initiation hing mit einem Buch zusammen, mit Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit. Damit entdeckte ich für mich den Norden und die Sehnsucht. Woran liegt es, dass der eisige Norden so eine Faszination ausüben kann? Abenteurern und Extremsportlern wird gern Todessehnsucht oder zumindest eine gewisse Lebensverachtung unterstellt. Ich bin überzeugt, das Gegenteil stimmt.
Reisen in extreme Gegenden, unter extremen Bedingungen, lassen einen das Leben in einer Intensität spüren, die verlockend sein und süchtig machen kann. Ein rauschhafter Zustand, eine Reise wie ein Trip. Wenn auch oft erst im Nachhinein, denn den Expeditionsalltag prägt meist grässliche Langeweile. Monatelanges Ausharren auf einem Schiff, wochenlanges Gehen im Eis. Nur um dann – vielleicht als erster – an einem Punkt anzulangen, der sich zwar messen lässt, aber unsichtbar bleibt. Imaginär. „Land in Sicht!“, konnte der Maat von Columbus nach langen Wochen auf See ausrufen. „Nordpol in Sicht!“, das rief nie einer. Da waren nur Eis und Kälte.
Doch bei aller Faszination für den Winter und die Menschen, denen es gelingt, noch in der unwirtlichsten Umgebung zu überleben – die Jahreszeit behält ihren archaischen Schrecken für diejenigen, die dem Winter schutzlos ausgesetzt sind. Winter und Krieg sind eine tödliche Kombination, das war so auf Napoleons Rückzug aus Russland, beim „Gebirgskrieg“ 1915-1918 in den Dolomiten und 1942 bei der Schlacht um Stalingrad.
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Wer den Winter, den Schnee und die Berge liebt, der wird irgendwann mit Ski losziehen. Sei es auf einsamen Unternehmungen mit Tourenski, im Getümmel von Skipisten oder in Langlaufloipen. Wintersport war und ist ein Segen für abgelegene Bergtäler. Aber er kann ökologisch betrachtet auch ein Fluch sein. Manche Regionen in den Alpen versuchen, einen Mittelweg zu finden zwischen Ski-Halligalli wie in Ischgl und Abwanderung und Armut wie in einigen italienischen Alpenregionen.
So fuhr ich im Hochwinter ins Villgratental in Osttirol, dort möchte man den Wintertourismus neu denken, ohne großen Skizirkus, und warb sogar mit dem Spruch: „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts.“ Was unterhaltsam klingt und aus der Ferne einen geruhsamen Urlaub im Schnee verspricht, erhitzt vor Ort die Gemüter. Skilift – ja oder nein? Darüber können sich Dörfer und Dörfler böse zerstreiten.
Das Leichte und das Schwere – im Winter liegt das nah beieinander. Schnee ist ein besonderer Stoff. Eine einzelne Schneeflocke wiegt etwa vier Milligramm. Nahezu nichts. Doch Lawinen schieben tonnenschwere Schneemassen zu Tal.
Um vieles davon geht es in diesem Buch. In meiner Erinnerung waren die Winter früher länger, kälter, schöner. Aber stimmt das auch? Die Prognosen jedenfalls sind nicht gut, aufgrund des Klimawandels verschieben sich die Jahreszeiten und die Winter werden dramatisch kürzer. Werden wir Schnee bald nur noch an wenigen Tagen im Jahr erleben?
Winter hat mich schon als Kind fasziniert, als ich heimlich, weil verboten, Eiszapfen auf dem Nachhauseweg von der Schule schleckte. Ich liebe die Atemwölkchen, die wir im Winter vor uns hertragen als Sichtbarmachung unseres Lebendigseins. Es ist wie es ist und wie so oft bei der Liebe: Erklären kann man es nicht. Aber davon erzählen. Von den Facetten des Winters, von den dunklen und den hellen Tagen. Von der Winterliebe.