Читать книгу Winter - Barbara Schaefer - Страница 8
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Das ganze Jahr über ist es in der kargen Landschaft der Schwäbischen Alb etwas kälter als unten im Donautal, als entlang des Neckars oder gar drüben im Breisgau. Dass es in Deutschland Regionen geben soll, in denen Weintrauben wachsen, wo sogar Aprikosen geerntet werden, das erschien mir als Kind praktisch unvorstellbar. Bei uns auf der Rauhen Alb gab es Skilifte, minus zwanzig Grad im Januar und geerntet wurden Kartoffeln und Karotten. Aber wie ich es liebte!
Wenn zu Beginn der kalten Jahreszeit die ersten Schneeflocken vom Himmel tanzten, vielleicht liegen blieben, wenn sich Pfützen überzogen mit dieser so speziellen, feinen Schicht, wie ich sie später bei Crème brûlée wiederfand. Dieses Knacken, wenn man mit dem Absatz des Schuhs auf die Eisschicht kickt, so hell und fein und klirrend wie das Geräusch des Löffelchens auf der Kruste der Süßspeise.
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Schnee und Eis: Was ist das, wo gibt’s das heute noch? Darum soll es hier gehen. Crystal Myths. Der Stoff, der Winterfreunde high macht. Wie jeder weiß: Grönländer kennen über hundert Wörter für Schnee. Aber wie das so ist mit den Dingen, die jeder weiß: Oft stimmen sie nicht. Der Irrtum liegt darin, dass Eskimosprachen – tatsächlich gibt es verschiedene rund um den Nordpol – polysynthetisch sind, das bedeutet, dass sie viele Details in einem Wort enthalten, die etwa im Deutschen in längeren Phrasen erklärt werden müssen.
Ich habe vor einigen Jahren einen halben Winter in Ostgrönland verbracht. Ein paar Schneewörter habe ich mir gemerkt: „qiqumaaq“ – Schnee, dessen Oberfläche gefroren ist, „katakatanaq“ – harte Kruste von Schnee, die unter Fußstapfen nachgibt, „maujaq“ – weicher Schnee auf dem Boden. Die deutschen Übersetzungen sind umständlich, ja, aber man kann auch hierzulande einfach sagen: Harsch, Bruchharsch, Matsch.
Denn tatsächlich kennt auch das Deutsche jede Menge Wörter für Schnee: Locker-, Neu- und Pappschnee. Reif, Harsch, Firn, Sulz. Pulverschnee, Schwimmschnee, Schneebretter. Wechten, Altschnee, Bruchharsch. Büßerschnee, Faulschnee. Es gibt sogar ein Wort für den schneelosen Zustand: aper. Und weiter: Graupel, Griesel, Hagel. Gut, Hagel zählt nicht. Aber warum eigentlich nicht? Und dann wäre da noch das Eis. Glatteis, Blitzeis, gefrorene Wasserfälle, Packeis, Inlandeis, Gletschereis, Eisberge, Schwarzeis, Speiseeis.
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Was genau ist Schnee? Wie sehen Schneekristalle aus? Auf jeden Fall wunderschön. Auf dunklen Winterjacken lassen sich die Sternchen bewundern. Eine kleine Exkursion zur Kristallbildung: Ist es in den Wolken kälter als minus 12 Grad, gefrieren Tröpfchen an festen Teilchen, das können Blütenstaub-Partikel sein, Schmutzteilchen oder Vulkanasche. Schneeflocken sind also keine gefrorenen Regentropfen, sondern Eiskristalle.
Das Eis beginnt zu fallen. Lawinenähnlich sammelt der winzige Eiskristall bei seinem Weg durch die Wolken weiteres Material, verbrüdert sich mit Gleichgesinnten, mehrere Kristalle verhaken sich, werden schließlich zur Schneeflocke.
Frische Schneeflocken sind immer – immer – sechseckig. Das hat mit Chemie und der Struktur von Wassermolekülen zu tun. Was also so poetisch-leicht zur Erde schwebt, wird durch knallharte Naturgesetze gebildet: Aufgrund der Struktur der Wassermoleküle sind im Schneekristall nur Winkel von exakt 60° beziehungsweise 120° möglich. Zumindest in der Entstehungsphase.
Denn erstaunlicherweise heizen wachsende Schneekristalle: Sie geben beim Gefrieren Wärme ab. Wenn sie dann wieder schmelzen, zum Beispiel in wärmeren Luftschichten, können beim Herumwirbeln Zacken aus dem Sechseck brechen. Ihre Formenvielfalt übertrifft die weltweite Anzahl an Schneewörtern um ein Vielfaches.
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Als einer der ersten beschäftigte sich Johannes Kepler wissenschaftlich mit dem Phänomen Schneeflocken. Kepler war Mathematiker, Naturphilosoph, Theologe – ein Universalgenie. Bis heute kennt man ihn als Astronomen, der die Planetenbahnen um die Sonne beobachtete und neu berechnete. Doch er blickte nicht nur ins Universum, sondern auch durchs Mikroskop aufs gemeinhin Unsichtbare. 1611 veröffentlichte er ein Büchlein über die Entstehung der Schneeflocke, er vermutete richtig, dass deren Gestalt mit der Kälte zu tun habe, konnte dies aber noch nicht hinreichend begründen.
Weitere Fragen tauchten auf, als sich die Kryologie, die Wissenschaft von Schnee und Eis, allmählich zu formen begann und erforschte, warum etwa ein Schneeball zusammenpappt. Als Kontrahenten zweier verschiedener Meinungen traten in der Schneeballschlacht an: Michael Faraday, der sich mit elektrischer Spannung auskannte (der Faradaysche Käfig ist nach ihm benannt), sowie William Thomson, der spätere 1. Baron Kelvin, nach ihm heißt das Kelvin der thermodynamischen Temperaturskala.
Faraday vertrat die Ansicht, auf jedem Schneekristall liege ein dünner Film ungefrorener Materie, der zusammenfriere und den Schneeball auf diese Weise zusammenhalte, anders als bei einem Klumpen nassen Sandes. Thomson/Kelvin führte das Zusammenpappen hingegen auf sogenannte Druckaufschmelzung zurück: Unter Druck – dem Zusammenpressen des Schneeballs – schmelze der Schnee ein kleines bisschen, lasse der Druck nach, friere die Masse wieder ganz zusammen. Die These des Barons erwies sich als richtig. Lange meinte man, dass auch Schlittschuhlaufen auf diese Weise funktioniere: Durch den Druck der Kufen schmelze das Eis, wodurch ein Wassergleitfilm entstehe. Das allerdings ist nicht richtig, tatsächlich bringt die Reibungswärme der Kufen das Eis minimal zum Schmelzen.
Was den Schneeball betrifft, hätten sich die streitenden Physiker auch von den Linguisten inspirieren lassen können. Denn alle uns vertrauten Wörter für Schnee – vom althochdeutschen sneo übers altnordische snœr übers russische sneg – haben eine gemeinsame Wurzel: das indoeuropäische Wort sneigh*, und das bedeutet: sich zusammenballen, zusammenkleben.
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Der Forscher Johann Heinrich Flögel (1834-1918) war wohl einer der ersten, die Schneeflocken fotografierten. In einem Haus in Ahrensburg bei Hamburg fand man in den 1970er-Jahren historische Aufnahmen, bei denen sich erst 2010 herausstellte, dass sie unter dem Mikroskop fotografierte Schneekristalle (sowie aufgeschnittene Insektenhirne) zeigten. Auf einer der Aufnahmen hatte Flöge vermerkt, dass die fotografierte Flocke am 1. Februar 1879 gefallen sei und er, Flögel, die Aufnahme mit 46-facher Vergrößerung gemacht habe.
Um 1885 fotografiert Wilson Bentley 5000 Schneekristalle. Gibt es zwei Sandkörner, die identisch sind? Gibt es zwei Schneekristalle, die identisch sind? Eine kaum zu beantwortende, ins Philosophische ragende Frage.
Ich habe mir den Bildband des Schneeforschers Bentley besorgt, ich könnte stundenlang darin blättern, er hat etwas geradezu Meditatives, das ist Stoff für Süchtige wie mich: 226 Seiten mit Porträtaufnahmen nur von Schneekristallen und Eisblumen. Das Fotoalbum beginnt mit eher einfachen Sechsecken, geht über zu strukturierteren Formen und fein ziselierten, filigranen Kristallen und endet auf den letzten Seiten mit Eisblumen, wahren Winterschönheiten.
Das Erblühen dieser vergänglichen Kunstwerke erklärt W.J. Humphreys, der Herausgeber der Bentley-Fotos, ganz nüchtern wie folgt: Beim Fensterputzen entstehen feinste Kratzer, entlang derer die Frostblumen wachsen. Wissenschaft und Feldforschung zeigen sich am Winterfenster als Poesie.
Auf der ersten Seite des Buches ist der Fotograf selbst zu sehen, W.A. Bentley aus Jericho, Vermont. Er steht im Freien, vor einem weißen Holzhaus, vor sich aufgebaut eine Plattenkamera, die mit einem gestreiften Wolltuch abgedeckt ist. Er trägt einen hellen Hut und einen dunklen Wintermantel, auf dem sich einige Schneeflocken niedergelassen haben. Unverkennbar: sein buschiger Schnauzbart. Unter ihm lächelt Bentley still in sich hinein. Bestimmt hat er gerade wieder ein besonders hübsches Schneekristall vor die Linse bekommen.
Das wäre ein schöner Märchenstoff: Die böse Königstochter, die jeden köpfen lässt, der sie heiraten will, aber nicht in der Lage ist, ihr zwei identische Schneeflocken ins Schloss zu bringen. Ich hätte aber gerne ein Happy-End, eines, das in Gelächter und einer Schneeballschlacht des ganzen Hofstaats endet.
Aber Schnee sieht nicht nur verschieden aus, er fühlt sich auch immer wieder anders an. Der fluffige Pulverschnee in großer Kälte, der sich nicht komprimieren lässt, aus dem man keine Schneebälle formen kann, der sich mit dem Handschuh vom Autodach wischen lässt. Und am anderen Ende der Skala nasser Pappschnee, der das Schneeschippen zur Plackerei werden lässt, sich schwer auf Bäume legt, Hecken in die Knie zwingt. Sich aber fantastisch zum Schneemannbauen eignet.
Was ist der Unterschied zwischen Schnee und Eis? Das ist keine Scherzfrage, sondern ein Versuch, diese Materie des Winters zu ergründen. Dafür bin ich in die Schweiz gefahren, nach Interlaken. Die Stadt ist umgeben von Schnee und Eis; rund ums Jungfraujoch habe ich mich mit Menschen unterhalten, die eine besondere Nähe zum Eis in ihrem Leben haben.
Die Reise beginnt mit der spektakulären Fahrt der Jungfraujochbahn, 1912 eröffnet, eine touristische Attraktion. Auf der auf gut 2000 Meter gelegenen Kleinen Scheidegg gibt es eine Pause zum Umsteigen, umgeben von eisiger Kälte, eingeschüchtert durch den Blick auf die Eiger-Nordwand, ein schwarzes Monstrum, das sich hier in den Himmel streckt.
Die Bahn fährt wahrhaftig durch den Eiger hindurch, aufs 3454 Meter hohe Jungfraujoch. Ich hatte Glück, weil ich noch mit dem alten Zug fahren konnte; seit 2016 hält die Bahn nicht mehr an der Zwischenstation Eismeer. Manchmal verstehe ich die Welt der Touristiker nicht: Der Blick aus den riesigen Panoramascheiben, aus der Eiger-Nordwand heraus in die Bergwelt, war für mich atemberaubend. Allein schon deswegen hätte sich die – recht teure – Fahrt gelohnt. Doch nun wird da nicht mehr gehalten, um ein paar Minuten Zeit einzusparen.
Als ersten frage ich Martin Fischer, Betriebsleiter in der Forschungsstation Sphinx-Observatorium auf dem Jungfraujoch, nach dem Unterschied zwischen Schnee und Eis, den beiden Varianten gefrorenen Wassers. Fischer fasst es so zusammen: „Schnee hat Luft drin, Eis nicht“, und er muss es wissen, schließlich lebt er im ewigen Eis. Aber was heißt heute schon ewig? Fischer arbeitet seit 13 Jahren auf 3571 Meter überm Meer. In der Forschungsstation „wettert“ er fünfmal am Tag, übermittelt meteorologische Daten, und sieht dabei dem Aletsch-Gletscher beim Schmelzen zu, mit 22 Kilometern Länge der längste Eisstrom der Alpen und UNESCO-Weltnaturerbe.
Das Eis wird weniger, sagt der Forscher Fischer. „Ob es wärmer wird, darüber kann man nicht mehr diskutieren.“ In den ersten Jahren „regnete es höchstens einmal im Sommer. Jetzt hat es mehrere Tage Regen im Jahr!“ Dann schwemmt es einen halben Meter Schnee davon, der Gletscher verhungert. Vier bis fünf Meter Schnee fallen im Jahr aufs Jungfraujoch, früher waren es bis zu 16 Meter, weiß Fischer.
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Und wie wird Schnee zu Eis? Vier Metamorphosen wandeln Wasser zu Gletschereis: Feuchtigkeit steigt auf, fällt als Schnee, wandelt sich durch Schmelzen und Wiedergefrieren in grobkörnigen Firn, durchzogen von Luftkanälen. Erst wenn einlaufendes und gefrierendes Wasser diese Adern schließt, ist der Zustand Gletschereis erreicht. Eis ist, im Gegensatz zu Schnee, praktisch wasserundurchlässig. Weiß erscheint der Gletscher durch Lufteinschlüsse, Blaueis hingegen zeigt sich in Spalten beim Blick in die Tiefe, dort, wo das Eigengewicht die letzte Luft aus dem Eis quetschte.
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Gletscher sind Eisberge an Land: Münden Gletscher ins Meer, wie in der Bucht von Ilulissat auf Grönland, brechen Stücke ab und ziehen als Eisberge davon. Nur Packeis ist ein anderer Stoff: Es ist platt, flächig und besteht aus Meereis, also aus Salzwasser. Treibeis hingegen heißt alles, was auf großen Wasserflächen herumschwimmt, das können Packeis-Schollen sein oder Stücke von Eisbergen.
Als 1894 der Schweizer Unternehmer Adolf Guyer-Zeller die Konzession für den Bau der Bahn aufs Jungfraujoch bekam, musste er sich verpflichten, eine Forschungsstation zu errichten. Bis zu 5000 Besucher am Tag zahlen die fast 200 Franken und kommen für ein paar Stunden aufs Joch, drei Viertel von ihnen sind Asiaten.
Alle besuchen den Eispalast, künstliche Höhlengänge im Bauch des Gletschers. In den 1930er-Jahren hatten Bergführer begonnen, mit Eispickel und Säge diese Gänge aus dem Gletschereis zu schneiden. Blau mäandernde Bänder bilden die Wände, eine klare Kälte herrscht da unten. Die Jahresringe des Gletschers führen in die Vergangenheit. Der Faszination der Gletscherhöhle allein wollte man wohl nicht trauen. In Nischen sitzen kitschige Figuren, Hirsche, Vögel, aus glasklarem Eis geschnitzt. Das kommt aus einer Eisfabrik in Interlaken.
Was die Wissenschaftler im Sphinx-Labor erforschen, ist im Bauch des Gletschers wie in einem Bilderbuch aufgeblättert. Braune Adern durchziehen das Blau: Saharasand. Der kommt etwa einmal im Jahr, sagt Fischer. Sie untersuchen, wo genau aus Nordafrika die mineralischen Staube und biologisches Material herangeweht werden. Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull wird theoretisch noch in Hunderten von Jahren zu sehen sein. Doch praktisch wird es den Gletscher da vielleicht nicht mehr geben. Um bis auf Weiteres den Eispalast zu erhalten, schieben Schneeraupen vom Kühlauenen-Gletscher immer wieder Eis von oben nach.
Es gibt einen Foto-Point, im Inneren des Gletschers an dem sich alle knipsen lassen. Darüber hat sich im Eis ein Gewölbe gebildet, der Atem der Besucher bringt den Eispalast zum Schmelzen, Schicht für Schicht. Als wäre es eine politische Kunstinstallation, die den Klimawandel erklärt.
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Ich fahre zurück ins Tal, durch den Eiger, ich bekomme erneut Gänsehaut bei der Vorstellung, durch diesen in Bergsteigerkreisen weltberühmten Berg hindurchzufahren. Hauptsächlich zwischen den beiden Eisfeldern der Nordwand spielten sich die Dramen der Ersteigungsversuche ab. Und auf der Kleinen Scheidegg saßen die Zuschauer, richteten ihre Fernrohre in die Wand, wurden Zeugen der Abstürze und schließlich auch des Triumphes von vier deutschen Bergsteigern.
Ein Triumph, der politisch gewollt und gemeint war, es war 1938, die Durchsteigung wurde als „Zeugnis des unbeugsamen Siegeswillens unserer Jugend“ propagandistisch ausgeschlachtet. Wie lange sich die „Weiße Spinne“, das Eisfeld in der Nordwand, noch wird halten können, kann derzeit niemand sagen.
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Nicht unter, sondern auf Eis bewegt sich der Winterangler Beat Bührer, den ich am nächsten Tag treffe. Vor zehn Jahren stapfte er auf einen gefrorenen See und rammte mit seinem Eispickel ein Loch in die Oberfläche. „Das war eher gefährlich“, sagt der heute 34-Jährige. Nun steht er auf dem Hinterstockensee oberhalb Interlakens und setzt einen rasiermesserscharfen Eisbohrer an. „Beim Eisangeln bist du in der Natur, machst ein Loch, fischst, lauschst, fernab von allem. Mich fasziniert das Eis am Anfang des Winters. Wenn der ganze See auf vier Grad abgekühlt ist, ist er schwarzgefroren. Wenn es draufregnet, wird er wie ein Spiegel.“
All das verdankt Beat Bührer, und natürlich nicht nur er, der Dichte-Anomalie des Wassers, noch so eine Absonderlichkeit von H2O. Während sich normalerweise Stoffe bei sinkenden Temperaturen zusammenziehen, dehnt Wasser sich aus. Das weiß jeder, der mal eine Sektflasche im Eisfach vergessen hat. Eis hat also eine geringere Dichte als Wasser und schwimmt deshalb oben. Genauer gesagt: Ein See friert von oben her zu, ganz unten am See ruht das dichteste, vier Grad warme Wasser.
Eine See-Eisfläche baut sich aus Schichten auf. Die unterste, tragende Lage, ist durchsichtig wie Eiswürfel. Schnee isoliert, wenn es draufschneit, wird die Eisfläche nicht mehr dicker. Eis ziehe die Menschen an, sagt Bührer, „es hat etwas Mystisches.“ Bergseen haben oft keinen natürlichen Abfluss, das Wasser versickert allmählich. Im Winter sinkt der Wasserspiegel und das Eis sackt ab. Dann gebe es Entlastungsbrüche, am Rand, am Ufer, erzählt Bührer, „manchmal rumort es, das Eis arbeitet, es setzt sich. Das ist ein unheimliches Knarren. Beim ersten Mal habe ich gedacht: Oh Mann, jetzt muss ich sterben. Die meisten Menschen haben dieses Geräusch noch nie gehört, das hat etwas Exklusives.“
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Ina Jegher treffe ich unten in Interlaken. Sie zieht elegante Kreise auf dem Eis – IceMagic nennt sich Interlakens Schlittschuhbahn auf dem Bödeli. Jeghers Ansprüche an Eis sind anderer Art, schmucklos soll es sein, so glatt wie möglich. Die Eiskunstläuferin und ehemalige Seglerin trainiert Mädchen in Interlaken. Dem Segeln und Eislaufen gemeinsam sei das Gleiten, so Jegher, „nur der Aggregatzustand des Wassers ist verschieden.“
Vor der Eröffnung von IceMagic regnete es zwei Tage durch, „das ist die schönste Sprinkleranlage, so gleichmäßig.“ Für Hockey produziert man weniger, dafür härteres Eis. „Weicheres Eis greift besser. Wenn Schnee liegt, wird es klebrig. Natureis ist hubbelig. Am schönsten gleitest du, wenn eine feine Wasserschicht drüberliegt, du hast wenig Widerstand, das Spiegeleis glitzert.“
Faszinierend am Eislaufen sei die Leichtigkeit in der Perfektion. Als Kind habe sie einmal erlebt, wie der Zürichsee schwarzgefroren war. „Da siehst du die Fische, so klar ist das. Aber es gibt ja eh keine Winter mehr, im Dezember sitzen die Leute im Straßencafé.“
Genau das stört Sandra Riceputi und Beat Berger nun gar nicht. Sie, Italienerin aus Rimini, ist Informatikerin, er, Schweizer, ein Süßwassermatrose. Doch nun rühren sie schon die achte Saison in ihrer Gelateria Azzurra in Interlaken Eis an. „Unser Fruchteis machen wir mit Wasser, aber es wird gerührt und deswegen wird es nicht kristallig. Gletschereis ist kristallisiert, unser Eis hat keine Kristalle.“
Dabei war Gletschereis das erste Speiseeis. „Die alten Römer haben Granita gemacht!“, ruft Riceputi. Läufer brachten den römischen Kaisern Schnee und Eis vom Apennin nach Rom, darüber wurden Früchte, Honig, Zitronensaft oder Rosenwasser drapiert. „Ob ich als Kind an Eiszapfen gelutscht habe? Na sowieso, welches Kind macht das nicht?!“
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Hano Tschabold habe ich vergessen, dasselbe zu fragen. Tschabold beschäftigt sich mit sehr großen Eiszapfen, für ihn sind sie ein Sportgerät. Denn der Bergführer klettert ganzjährig an Eiswänden, im Winter an gefrorenen Wasserfällen, im Sommer im Gletscherbruch. Er schwärmt vom Eis im Gletscher, wunderschön blau sei es, wie im Eispalast auf dem Jungfraujoch. „In einer neuen Spalte zu klettern, mit dieser Farbe von Hustenbonbonblau, ein Traum. Und das Eis ist nicht so hart wie im Winter, es ist plastisch, die Geräte beißen, also halten gut.“
Er habe sich gefragt, wie schnell der Gletscher eigentlich schmelze. Und deshalb eigene Messungen durchgeführt, nicht so wissenschaftlich wie auf der Forschungsstation Sphinx-Observatorium, aber ziemlich effektiv: „Ich habe auf dem Aletschgletscher auf 2500 Meter einen Holzstecken reingesteckt, mit Isolierband markiert und immer am Abend nachgeschaut. Nach meiner Beobachtung schmilzt das Eis einen Zentimeter am Tag!“ Es schneie viel zu wenig.
Tschabold arbeitete als junger Mensch auf dem Jungfraujoch und fragte den Betriebsleiter, ob es dort oben regne. „Der hat mich angeschaut, als wär ich nicht ganz gescheit und gesagt: ‚Auf dem Jungfraujoch regnet es nie!’“ Doch heute regne es da oben manchmal tagelang. „Dann schmilzt der Schnee weg, bevor er überhaupt zu Firn und dann zu Eis werden kann.“ Wer heute zu ihm sage, er würde auch so gerne mal Eisklettern, dem rate er, sich zu beeilen. „Bevor wir keine Gletscher mehr haben.“
Im Winter herrschten wiederum andere Bedingungen für die Kletterer. „Beim Wasserfallklettern sollte es nicht zu kalt sein, sonst splittert das Eis und springt dir ins Gesicht, es kann scharfkantig sein wie Glas. Wenn du reinhaust, gibt es Risse, die sich wie ein Spinnennetz ausbreiten, dann weißt du schon: Uaaah, das hält nicht.“
Besonders schlecht fürs Eisklettern sind schnelle Temperaturwechsel. Wenn ein Südwind kommt, der Föhn, rinnt Schmelzwasser auch zwischen Fall und Fels, „dann löst sich das ganze Ding von der Wand.“ Wenn hingegen die Bise kommt, der Nordwind, und es auf einen Schlag um zehn Grad kälter wird, dehnt sich das Eis. „Da kann über Nacht die Hälfte der Eiszapfen abbrechen. Wenn du irgendwo kletterst und am nächsten Morgen ist der Eisfall weg, dann hast du definitiv etwas falsch gemacht – und riesiges Glück gehabt.“
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Aber Eis kann noch viel mehr, als man in der Natur beobachten kann. Im Labor ist es gelungen, Wasser auf minus 40 Grad zu kühlen, ohne dass es friert. Allerdings funktioniert das nur mit lupenreinem Wasser. Ihm fehlen die winzigen Teilchen, an denen es kristallisieren könnte. Fügt man ihm jedoch ein Staubkorn hinzu oder schüttelt den Behälter mit dem superkalten Wasser, friert es sofort.
Wasser leistet sich ohnehin gerne allerlei Eskapaden, die noch immer nicht vollständig erforscht sind. Da gibt es etwa den Mpemba-Effekt, der in Tansania von einem Schüler beobachtet wurde. Nun steht zwar der Kilimandscharo in Tansania und dort oben gibt es einen kleinen Gletscher, doch der Schüler Erasto B. Mpemba entdeckte das paradoxe Verhalten von Wasser, als er Speiseeis herstellen wollte: Heißes Wasser gefriert schneller als kaltes Wasser, wenn auch unter sehr speziellen Bedingungen. Das Schleckermäulchen Mpemba erkannte das vor über 50 Jahren, bis heute sind die Zusammenhänge zum Großteil rätselhaft.
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Eisklettern sei einfach eine weitere Spielart des Kletterns, sagt der sportliche Schweizer Tschabold. „Der Reiz daran ist, etwas zu klettern, was einmalig ist, kombiniert mit der Faszination des Eises, das zu Figuren, zu Zapfen oder Säulen gefriert. Und es ist, wie alles im Winter, vergänglich.“
So ist genau dies ein Aspekt des Winters, der ihn von den anderen Jahreszeiten unterscheidet: Weiße Flecken auf der Landkarte sind rar geworden. Aber weiße Flecken in der Landschaft beschert uns der Winter alle Jahre wieder. Wer durch den Schnee stapft oder an Eis klettert, betritt Neuland. Immer wieder. Eine weitere Faszination des Winters, die noch genauer zu untersuchen sein wird.