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Kapitel 2: Räume
ОглавлениеDass Frauen ihre Beine lieber und öfter überschlagen als Männer, vor allem in öffentlichen Räumen, mag etwas zu tun haben mit den Unterschieden in der Konstruktion männlicher und weiblicher Gelenke, die erheblich sind. Mit Sicherheit entscheidender aber ist die Geschichte der Menschheit, verstanden als Summe der Entfaltungsmöglichkeiten beider Geschlechter. Ähnlich verhält es sich mit männlichen und weiblichen Stimmen. Ein Bass füllt einen großen Saal, die Luft schwingt bereitwillig unter seinem Atem und produziert mächtige Schallwellen. Ein Sopran spielt auf ganz anderen Frequenzen, und seine Kraft, einen Raum zu füllen, scheint geringer. Aber ob das nur an der Anatomie der jeweiligen Kehlen liegt, muss bezweifelt werden. Denn dem stimmlichen Ausdruck teilt sich stets die Psyche mit. Dass in Talkshows heute noch das weibliche Timbre öfter zittert als das männliche und deshalb von den Moderatoren bereitwilliger in seinem Vortrag unterbrochen wird, hängt damit zusammen, dass alle Frauen einen Rucksack tragen, auf dem das Paulus-Wort geschrieben steht: »Die Frau schweige in der Gemeinde.« Sie hatten allzu lange nicht die geringste Chance, ihre Stimmen in weiten Räumen widerhallen zu lassen. Allgemein gilt: Die Größe des Raumes, den das eine oder das andere Geschlecht einnehmen durfte und darf, ist der bedeutendste und auch am leichtesten messbare Unterschied zwischen ihnen. Er ist riesenhaft.
Wir wissen nicht, wann es begonnen hat, dass die Männer die Frauen im Hause hielten – ähnlich dem Nutzvieh, das sich auch nicht entschließen konnte, wieder in die Wildnis hinauszulaufen, nachdem es einmal gezähmt und im Stall eingesperrt war. Vielleicht konnte es sich entschließen, aber es konnte seinen Entschluss nicht in die Tat umsetzen. Der Vergleich zwischen Nutzvieh und Frauen hinkt insofern, als die Frauen den Prozess ihrer Einhegung an der Seite und nach dem Gebot der Männer über lange Zeiträume hinweg scheinbar einvernehmlich mitgetragen haben. Jedenfalls sind größere Aufstände nicht geschichtsnotorisch geworden. Auch wurden Frauen nicht gezähmt wie Pferde, sondern entwickelten ihre zahme Seite stetig und nolens volens sich anpassend an die rohen Umstände der menschlichen Anfänge. Wir hätten so gern eine Ursprungsgeschichte, in der es erstmalig passiert wäre, was dann für lange Zeiten gelten sollte: dass die Männer ihre Herrschaft über die Frauen etabliert und sie eingesperrt haben, aber die gibt es nicht. Was in der Bibel über den Gehorsam steht, den die Frau dem Manne schulde, baut ja schon auf einer Vorgeschichte auf, die in graue Urzeit zurückweist, das Herrschaftsverhältnis nur noch mal in Schriftform beglaubigt und es auch noch heiligspricht. Es wird so gewesen sein, dass ihre überlegene Körperkraft und sthenische Angriffslust es den Männern nahelegte, sich die Frauen zu unterwerfen – mit eben den Mitteln der Gewalt, die sie in der beständigen Auseinandersetzung mit männlichen Rivalen (um Land und andere Ressourcen, zu denen auch die Frauen gehörten) ausgebildet hatten. Wie das im Einzelnen vor sich ging, ist (für unsere Fragestellung) gleichgültig. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir keinen Mythos besitzen, in dem die Hierarchie zwischen den Geschlechtern erfunden und festgeschrieben wurde und den wir heute umschreiben könnten, sondern dass die Vorgeschichte aller Wahrscheinlichkeit nach kalt, grausam und blutig und weitgehend wortlos verlief. Und dass es keine Rücksicht gab auf zarte Kinder und stillende Frauen, außer dem Schutz durch einen Mann, der imstande war, Gegner aus dem Feld zu schlagen und mit genügend Jagdbeute in die Höhle zurückzukehren.
Wenn wir die Dinge so sehen, erkennen wir, dass die Emanzipation erst beginnen konnte, nachdem die Legitimität der Gewalt durch das geschriebene Recht und die Idee der Gleichheit so weit eingeschränkt war, dass kleinere, schwächere und mit Piepsstimmen geschlagene Menschen ihre Würde und ihre Unversehrtheit in der Welt der Gedanken, aber auch praktisch vor Gericht und schließlich in der öffentlichen Meinung verteidigen konnten. Mit anderen Worten: Es waren die Verkündigung der Menschenrechte und die Konzentration der Gewalt beim Staat nach der Aufklärung, die der Frauenemanzipation zuarbeiteten. Ohne sie wäre an Gleichstellung niemals zu denken gewesen. Wenn wir die Perspektive umkehren und die Menschenrechte mit einer Herausforderung an alle politischen Systeme in der Zeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbinden, die von willkürlicher Gewalt geprägt waren, erkennen wir ferner, dass Frauenemanzipation eine Abkehr von jeder Art Gewaltherrschaft zur Voraussetzung hat. So einfach ist das. Die Emanzipation verlangt als Bedingung ihrer Möglichkeit eine zivilisatorische Stufe, welche die Gewalt als politische teilt, als körperliche ächtet und einhegt, beim Staat konzentriert und gegebenenfalls sanktioniert. In Diktaturen mit gewaltbereitem Untergrund sind Frauenrechte keinen Pfifferling wert. Sie sind die schöne Blüte einer Gesellschaft, in der das Recht die Gewalt bezwungen und sich die Gleichheit von einem bloßen Motto zu realer Chancenvielfalt entwickelt hat. Insofern sind die Verteidigung der Demokratie und der Kampf gegen jegliche Diskriminierung das Erste und Beste, was zur Sicherung der Emanzipation, ihrer Gewinne und Errungenschaften, getan werden muss.
So ist denn auch die Selbstbefreiung der Frauen in den letzten hundertfünfzig Jahren, in denen die modernen westlichen Gesellschaften entstanden sind, mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten. Das Jahrhundert davor darf man schon mitrechnen, allerdings lief die Emanzipation ab dem Ende des 18. Jahrhunderts noch im Schneckentempo. Es gab Unterbrechungen, es gab Neuansätze, es gab vor fünfzig Jahren einen Aufbruch mit enormem Crescendo. Aber derzeit stecken wir in einer Generalpause. Frau weiß nicht recht, was tun, um weiter voranzukommen. Auch fühlt sie sich unter Druck durch die politische Rechtsentwicklung überall in der westlichen Welt, es schwelt die böse Ahnung, dass Fremdenhass, Rassismus, Misogynie, Nationalismus, eine weitere Aufwertung von Dominanzgesten auf militärischem Gebiet und Ellenbogenmentalität im wirtschaftlichen Bereich auch Frauenrechte nicht unangetastet lassen werden. Noch ist die Bedrohung eher atmosphärischer Natur. In dieser Situation könnte es nützlich sein, sich bewusst zu machen, was Emanzipation jenseits von verbrieften Rechten bedeutet und was es eigentlich gewesen ist, das Frauen über so viele Jahrhunderte vorenthalten wurde. Und da ist ein wichtiges Stichwort: Räume.
Frauen sollten in Innenräumen verbleiben, dort, wo man sie nicht sah und wo sie ihrerseits nichts Neues sehen und erleben konnten. Die raumgreifenden Schritte waren den Männern vorbehalten. Frauen trippelten. In China verwehrte man ihren Füßen durch Einbinden das natürliche Wachstum, sodass sie nur zu Trippelschritten fähig waren. Lassen wir die Schuhmode unserer Zeit beiseite. Die Modi der Verhinderung, mit denen man Frauen in Binnenbereichen hielt und sie vom Erkennen, Beschreiten und Erobern der Außenräume, gedanklicher und gegenständlich-irdischer, abhielt, waren vielfältig. Hier interessieren erst mal Räume im Sinn von Territorien. Schauen wir den Männern zu, wie sie sich die Erde untertan gemacht haben.
Der Welthandel und die Kriegskunst waren die großen Bewährungsfelder, auf denen junge und reife Männer seit der Antike ihre Kräfte und Fähigkeiten entwickelten, einsetzten und aneinander maßen. Es ging immer darum, Räume zu erschließen, zu erobern und zu sichern. Dafür wurden fantastische Leistungen erbracht. Die Schifffahrt in der Antike, der Vorstoß nach Afrika und Asien, schon der Bau der großen Segler und Ruderboote, das waren gewaltige Abenteuer und berauschende Erfahrungen. Von den Seeschlachten mit ihren unermesslichen Opfern an Menschen und Material berichten die Historiker schaudernd. Die Kriege des Mittelalters und der Neuzeit, die Kreuzzüge, die Religionskriege, die Kabinettskriege, die Weltkriege, sie wollten weiterhin Räume besetzen, aneignen, aufteilen, bebauen, sie entfesselten eine sich steigernde Gewalt, sie erschütterten die Menschheit und stifteten sie an zu epochalen Werken in der Theorie, der Philosophie und Dichtkunst, Werke, in denen man darum rang, die eigene menschliche Natur und ihr schöpferisches Vermögen ebenso wie ihren Zerstörungsdrang zu verstehen und Werte zu entwickeln, an denen gemessen das menschliche Zusammenleben stabiler werden könne. Derweil bearbeitete auch das zivile Leben mit Landwirtschaft, Handwerk und Städtebau die irdischen Räume. Es gab ferner die Epoche der großen Entdeckungen: Auf dem Seeweg nach Indien stieß man auf Amerika, und so ging es weiter, bis die Umrisse der Pole und der letzten unbekannten Inseln die Landkarte der Erde vervollkommneten. Sie ist ein grandioses Epos, die Eroberung, Besetzung, Aufteilung und Nutzung des irdischen Raumes.
Und sie ist eine Erzählung ganz ohne weibliche Autoren. Abgesehen von der Kleinlandwirtschaft, in der Frauen tätig waren, soweit der Zustand ihrer Füße es ihnen erlaubte, waren sie an der Aneignung des Raumes, so wie er die Menschheitsgeschichte bis ins vorletzte Jahrhundert hinein geprägt hat, nicht beteiligt. Was bedeutet das für ihre Psychen, für ihr Selbstbewusstsein, für ihr Tun und Lassen? Und was hat ihre Rolle als Entdecker und Krieger aus den Männern gemacht? Die Tatsache, dass die großen Feldzüge, Erkundungszüge, Eroberungszüge, Welthandelskompanien und Städtebauarbeiten eine rein männliche Angelegenheit waren, muss etwas heißen für die Entwicklung der Geschlechter. Man befindet heute, dass weibliche Gehirne in Bezug auf räumliches Vorstellungsvermögen deutlich weniger leistungsfähig seien als männliche. Zur Erklärung verweist man auf den unterschiedlichen Zustand neuronaler Vernetzungen. Ein Blick in die Geschichte lehrt, woher dieser Unterschied stammt.
Junge Männer mussten, um Schiffbauer oder Soldat zu werden, eine Ausbildung auf einer Werft oder als Rekrut bei der Truppe machen – beides war Frauen verwehrt. Es gab für sie bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht einmal Schulen und auch dann erst mal nur Schrumpfformen jener Institute, an denen die männliche Jugend lernte und studierte. Das war überall auf der Welt so. Das vor-aufgeklärte Weltbild mit den ihm entsprechenden Geschlechterrollen kannte keine Frauen, die eine Ausbildung gemacht oder studiert hätten, um Expertenwissen zu erwerben und einen Beruf auszuüben (von raren Ausnahmen abgesehen). Der Sinn eines Frauenlebens bestand in seinem Dienst an der männlichen Menschheit. Weibliche Menschen sollten Kinder auf die Welt bringen und großziehen, um so das Geschlecht des Mannes fortzupflanzen, und sie sollten hausnahe Tätigkeiten ausführen, etwa gärtnern, spinnen, brauen, backen, kochen und das Kleinvieh versorgen. Kenntnisse, die dafür nützlich waren, durften sie sich aneignen. In den Oberschichten gehörten Musik, Tanz und Lyrik dazu, während Spinnen und Backen weniger galten, dies wurde von Mägden erledigt. Jede weitere Bildung aber war überflüssig und wurde gar für schädlich befunden. Irgendwann aber tat sich der Raum des Wissens auch für Frauen auf. Nicht einfach so, sondern weil Frauen ihn unter Missachtung ihrer beschränkten Zukunftsaussichten ertrotzten.
Zum Beispiel in Zürich in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Universität dort war eine junge Gründung, und die weitblickenden Herren, die ihr Lehrprogramm ausarbeiteten, spürten, dass etwas in der Luft lag: der Wunsch junger Frauen aus besseren Kreisen, mehr über die Welt zu wissen als Geburtshilfe und Kochrezepte. Das Kalkül ging auf. Aus vielen europäischen Ländern kamen höhere Töchter in die Schweiz, um dort ihren Wissensdurst zu stillen. Sie beziehungsweise ihre Familien zahlten bereitwillig die saftigen Gebühren. Niemand traute den Mädchen viel zu, weder ihre Eltern noch die Professoren, erst recht nicht die Kommilitonen. Studentinnen wurden regelrecht gemobbt. Aber sie setzten sich durch und die akademische Welt in Erstaunen. Franziska Tiburtius, Anita Augspurg, Ricarda Huch und Rosa Luxemburg gehörten damals zu ihnen. Jetzt war Wut gerechtfertigt, wenn es weitere Hemmnisse gab, die Frauen den Eintritt in die Räume des Wissens verwehrten. Die akademische Welt, in der die Männer so lange unter sich gewesen waren, hielt mächtig gegen die Aspirationen der Frauen. Man betrachtete ihre Studien als eine Art Accessoire, als Zusatzqualifikation für den Small Talk im Salon, den eine kluge Ehefrau an der Seite eines Mannes von Stand führen könnte. Einen akademischen Abschluss brauchten sie dafür nicht, also wurde er verweigert. Dann, als das nicht mehr ging – die Gleichheit als politische Kategorie drängte mit Macht in die Praxis –, verbot man ihnen eine Karriere als Ärztin, Professorin, Anwältin oder Pfarrerin. Sie durften sich, weil sie Frauen waren, nicht niederlassen oder eine Approbation erwerben. Bis sie es dann endlich doch konnten, mussten viele weitere Kämpfe durchgefochten werden.
Warum leisteten Männer in der großen Mehrheit einen solch rigorosen Widerstand, als erstmals Frauen in die akademischen Räume vorstießen? Es hat zu tun mit Weltbildern, die gelten sollten. Die Aufteilung der Geschlechter auf die Räume des Lebens, auf Territorien wie auch auf die Räume des Wissens mit ihren historischen Schätzen und möglichen Neuerungen war tradiert worden und hatte in den Vorstellungen der Menschen eine die Lebenswege vorzeichnende Tiefenwirkung. Für eine Frau war es wichtig, dass sie einen Mann fand, der ihr seinen Namen gab, dessen Kinder sie zur Welt bringen würde und der ihr dafür seinen Schutz und eine begrenzte Teilhabe an seinem Vermögen angedeihen ließ. Alles andere zählte nicht. Für einen Mann war es wichtig, dass er seine Fähigkeiten entwickelte und ein würdiger Nachfolger seines Vaters als Bauer, Hufschmied, Gelehrter oder Aristokrat wurde. Ob und wann er eine Frau fände, mit der er sein häusliches und Gattungsleben führen könnte, war vergleichsweise weniger wichtig. In diesem Weltbild mit dem entsprechenden Verhältnis der Geschlechter gehörte die Erde den Männern, die sie sich, wie Gott es gewollt hatte, untertan und urbar machten. Frauen waren von dieser Weltaneignung ausgeschlossen, sie lebten in Innenräumen und betraten die Außenwelt nur insoweit, als ihr männlicher Vormund es gestattete.
Eine Frau, die studieren ging, rüttelte an diesem Weltbild. Eine Jurastudentin, die Richterin werden wollte, machte die Aufteilung von Räumen, die schätzungsweise auf neunzig zu zehn hinauslief – wobei der Löwenanteil von neunzig den Männern und die Restgröße von zehn den Frauen zukam –, zunichte. Das durfte nicht sein. Die Macht der Tradition liegt in ihrem Ewigkeitsanspruch. Sie will immer weiter gelten. Die Männer, die in Zürich und anderswo während der 1860er bis 1890er Jahre verbissen gegen Studentinnen der Rechte, der Theologie, der Medizin oder der schönen Künste kämpften und ihr Weltbild mit der Neunzig-zu-zehn-Aufteilung der Räume verteidigten, sahen sich nicht als Frauenfeinde oder -verächter, und sie waren es subjektiv auch nicht. Sie wollten den Frauen ihre Komfortzone erhalten: Die sollten mal schön bei Mann und Kindern zu Hause bleiben, anstatt sich den rauen Wettern der Wissenschaften, der Juristerei, der Heilkunst oder den Streitereien der verschiedenen philosophischen Schulen auszusetzen. Natürlich waren so gut wie alle Männer davon überzeugt, dass Frauen für die Wissenschaften ungeeignet seien. Sie erfanden die bizarrsten Indizien, angefangen bei der weiblichen Kopfform bis hin zur angeborenen Scham (eine Frau in der Anatomie – nicht auszudenken!), mit denen sie belegen zu können glaubten, dass eine Frau nicht in die Universität gehöre. Es gab strenge Verbote. Aber Zürich wies dann doch den Weg. Und Frauen beschritten ihn, nachdem die Schranken gefallen waren, in großer Zahl. Heute lacht man über die Vorwände, unter denen man einst weibliche Studienanfänger draußen vor der Tür der Alma Mater gehalten hat. Damals war es nicht zum Lachen, weder für die Frauen, die als erste raumgreifende Schritte ins Reich des Wissens machten, noch für die Männer, die sie aufhalten wollten. Für beide ging es um ein Weltbild. Die einen wollten es erhalten, die anderen es umstoßen.
Zur Neunzig-zu-zehn-Aufteilung der Räume muss noch gesagt werden, dass der den Frauen zur Verfügung stehende Binnenraum ebenfalls unter der Oberherrschaft ihrer Männer stand. Sie hatten also, genau besehen, nicht einen zehnprozentigen Restraum für sich, sondern gar keinen. Sie lebten quasi zur Untermiete in einem Haus, das den Männern gehörte, auch wenn die fast nie dort waren, und aus dem sie, die Frauen, jederzeit rausgeworfen werden konnten, so bei Untreue oder wenn der Mann ihrer überdrüssig war. Es ist eine Ironie der Wortwahl, dass die »Hausfrau«, die es ja heute noch gibt und die konservative Kräfte in Deutschland als Existenzform gerne aufwerten möchten, dass die Hausfrau das »Haus«, in dem zu leben und zu wirtschaften angeblich ihre Bestimmung oder wenigstens eine erfreuliche Daseinsform sei, nicht einmal besessen hat. Es gab zwar auch begüterte Frauen. Doch das Vermögen einer Frau gehörte nach der Eheschließung von Rechts wegen dem Mann.
Was die Räume betrifft, so kommen wir zu dem ernüchternden Schluss, dass Frauen nicht nur auf den sieben Meeren nicht vorkamen – alter Seemannsspruch: »Frauen und Blumen an Bord bringen Unglück« –, dass sie nicht nur an der territorialen Erschließung unseres Planeten unbeteiligt waren und dass sie die Räume des Wissens nicht mit eingerichtet haben, sondern dass selbst im Nahraum des Hauses, in dem sie ihr Dasein fristeten, auch noch der Mann von Rechts wegen als Bestimmer über ihnen stand. Der »Stichentscheid des Haushaltsvorstandes«, der bei schwierigen Fragen zum Beispiel in Sachen Kindererziehung noch vor einer (!) Generation die Debatte schließen konnte, wurde, historisch gesehen, erst gestern abgeschafft. Ebenfalls zu nennen wäre in diesem Zusammenhang das gern zitierte Verbot, das ein Ehemann über seine Frau verhängen konnte, wenn sie arbeiten gehen wollte und er das nicht gut fand. Auch das eigene Konto einer Frau ist eine junge Errungenschaft. Alles in allem: Die nach der festen Überzeugung vor allem des bürgerlichen Zeitalters »ureigene Sphäre« des weiblichen Wirkens, das Haus, war nie ihre eigene Sphäre. Es war immer ein Herrschaftsbereich der Männer. Für Frauen war es der Ort, an dem sie die Dienstleistungen erbrachten, die für den Sinn ihres Daseins standen.
Die Konsequenzen, die jene Raumfülle für die Männer und die Raumlosigkeit für die Frauen hatte und hat, sind gewaltig. Schauen wir uns noch einmal die Lebenswege der Männer an. Diese Wege führten sie zuweilen in weite Ferne – auch Männer aus dem Volk kamen als Soldaten, als Matrosen und als Handelsreisende weit herum. Auch wenn sie, beispielsweise als Landmann oder als Pastor, im Wesentlichen auf ihrer Scholle oder in ihrem Kirchspiel blieben, hatten sie doch eine gehörige Weltbegegnung, sei es als Verhandler von Geschäftsbedingungen, als Geistlicher auf einem Konzil, als Soldat im Feindesland, als Lehrer vor Buben, als Zimmermann auf dem Bau. Sie trafen dort ihresgleichen, aber auch Vertreter anderer Stände, sie trafen – Männer. Die Einhegung der Frauen im Hause bedeutete ja, dass Männer in ihrem Berufsleben, auf ihren Feldzügen, auf ihren Handelswegen oder in ihren Werkstätten ausschließlich mit anderen Männern verkehrten. Dort, wo die Geschlechtersegregation von alters her besonders konsequent durchgeführt wurde oder wo Männerbündelei den Zugang streng kontrollierte wie beispielsweise in englischen Clubs, beim katholischen Klerus, bei der Armee oder in Geheimbünden wie den Freimaurern, ist das heute noch so: Männer sitzen oder arbeiten zusammen mit anderen Männern, sie verleben den Feierabend mit anderen Männern, sie wetteifern mit anderen Männern, sie kooperieren und sie verschwören sich mit anderen Männern. Sie leben ihr soziales Leben mit Menschen ihres eigenen Geschlechts. Was heißt das für sie?
Es heißt, dass sie einander ziemlich gut kennenlernen. Dass sich ihre libidinösen Energien, soweit solche auch neben den erotischen Zielen und Zwecken in ihren Herzen wohnen, auf Männer richten. Respekt, Ehrfurcht, Sympathie, Anerkennung und Einvernehmen sowie deren Entzug und sodann Beleidigung, Böswilligkeit, Rufmord und Keilerei erleben sie vor allem unter ihresgleichen. Dazu gehört, dass sie es lernen, miteinander auszukommen. Dass sie Person und Sache trennen. Männer können sich als politische oder sportliche Gegner nach Herzenslust attackieren und hinterher miteinander anstoßen. Ihre überlegene Fähigkeit, sich aufeinander zu beziehen, sich nicht nur zu fordern, sondern auch zu fördern, kurz: Seilschaften zu bilden, die einiges aushalten, erwächst aus dieser Geschichte: Männer leben ihr interessantes Leben mit anderen Männern.
Nicht mit Frauen? Nun ja. Zu Hause ist es eher langweilig. Man kennt den Typus Ehemann, der seinen Feierabend lieber in der Kneipe mit den Kollegen verbringt, weil er da mehr Spaß hat. Aber manchmal sind Männer auch zu Hause, und dann freuen sie sich, wenn ihre Frauen sie liebevoll empfangen. Oder sie ärgern sich, wenn das nicht so ist. Allgemein gilt: Männer erlebten früher das andere Geschlecht als das fremde, das ihnen nicht ganz geheuer und das zu beherrschen ihnen aufgegeben war, weshalb sie es gewohnheitsmäßig abwerteten oder aber mystifizierten – das weibliche ist als »das andere« auch das mindere. Diese lange Vorgeschichte der Emanzipation ist noch nicht ganz vergangen. In alten Zeiten haben Männer gerne betont, dass sie die Frauen verehrten, es gab im Hochmittelalter in den höheren Ständen ja sogar die »Verehrung der Frau« als Kunst- und Lebensform. Theodor W. Adorno hat dazu gesagt: »Der Affekt, der zur Praxis der Unterdrückung passt, ist Verachtung, nicht Verehrung«, wodurch er wohl einiges richtiggestellt hat. Ungezählt sind die Mystifizierungen der Frau als die in der Natur tiefer Verhaftete, die Rätselvolle, die Triebhafte, die Sündhafte, das Tier. Solche Zuschreibungen sind Folgen eines Geschlechterrollen-Entwurfs, der keine Räume öffnet für eine nicht-erotische Begegnung der Geschlechter im Medium des Wettbewerbs oder der Kooperation, Räume, die von beiden Geschlechtern gleichermaßen befahren, erobert oder verteidigt oder als Räume des Wissens, der Vorstellung und der Zukunft entworfen und beschrieben werden können. Erst unsere Epoche hat eine solche Begegnung möglich gemacht, dieses Verdienst ist außerordentlich. Denn es erneuert das Fundament für Gleichheit, was die Chancen der Lebensführung betrifft, und es lehrt beide Geschlechter, was es heißt oder heißen könnte, die alte Raumaufteilung nach der Neunzig-zehn-Regel zu suspendieren und Frauen in die großen, weiten Räume der Außenwelt zu entlassen. Es bedeutet, dass mit der Herrschaft des männlichen Geschlechts über das weibliche das Dispositiv »Herrschaft« überhaupt als sozial strukturierendes Modell in die Defensive gerät. Es bedeutet viel mehr, als dass Männer und Frauen aufhören, einander als Agenten einer Hierarchie mit festgelegten Oben-Unten-Strukturen zu begegnen – es bedeutet, dass Herrschaft als soziales Instrument eo ipso fragwürdig wird. Es bedeutet, dass alle Hierarchien in eine Legitimitätskrise geraten.
Dabei hat aber die Herrschaft der Männer über die Frauen zu lange bestanden, um einfach so abgeschüttelt werden zu können, sie hat das Verhalten, die Eigenschaften, die Erwartungen, die Umgangsstile und den individuellen Ausdruck der Menschen derart geprägt und gefärbt, dass ein langer Übergang vonnöten sein wird, bis es selbstverständlich geworden ist, dass die Geschlechter einander auf Augenhöhe begegnen. Ja, man kann sagen: Die Umsetzung der Idee der Gleichheit in Bezug auf die Geschlechter kommt, was die Lebenswirklichkeit betrifft, einer kopernikanischen Wende gleich. Alles muss anders angesehen werden und anders werden, nachdem sich herumgesprochen hat, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne … Also: alles muss anders angesehen werden, wenn sich herumgesprochen hat, dass das Verhältnis der Geschlechter kein selbstverständliches Oben-Unten mehr einschließt. Irgendwann wird es womöglich so kommen, Menschen werden einander als Männer und Frauen in all ihrer individuellen Sonderbarkeit gelten lassen, sie müssen sich dann nicht mehr einer über die andere erheben oder eine dem anderen sich unterordnen, sie können nebeneinander mit gleichen Rechten, Aussichten und Chancen, dabei mit ganz verschiedenen Hintergründen, Ansichten und Zielen ihre Wege suchen und gehen. Männer können arbeiten und leben mit und neben Frauen, ohne den Anspruch, es besser zu wissen und die Entscheidungen zu treffen, und Frauen können arbeiten und leben neben Männern, ohne die Bereitschaft, sich zurückzunehmen und bloß zu folgen. Das geht. Es ist jedoch noch nicht so weit. Unsere Arbeitswelt wie auch unsere privaten Lebensräume müssen erst entsprechend umgestaltet werden. Aber die Tradition der obsoleten Raumaufteilung wirkt immer noch mächtig nach. Das wissen Männer, die eine solche Tradition loswerden wollen, genauso gut wie Frauen, die überkommene Verhaltensweisen abgeschüttelt haben. Das ahnen sogar Männer und Frauen, die in altfränkischen Umgangsstilen festsitzen und es trotz besseren Wissens nicht schaffen, sie abzulegen. Sie sind die Verlierer der Emanzipation. Sie müssen uns nicht leidtun. In manchen Weltgegenden rotten sie sich zu einer Art Gegenrevolution zusammen. Es sind inzwischen, da Amerika diesen Weg möglicherweise mitgeht, ziemlich viele. Also: Achtung!