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Prolog

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Die prachtvolle Villa Diodati, erbaut 1710, steht heute noch. Sie erhebt sich hinter dem Ufer des Genfer Sees, der Ort heißt Cologny und liegt bei Genf. Man hat von der Villa aus einen herrlichen Blick über den See und das Alpenpanorama.

Im Juni des Jahres 1816 fand sich auf diesem Landgut eine illustre Gesellschaft englischer Reisender ein. Die Menschen, die dort ihre Abende verbrachten, waren so berühmt und interessant, dass der Inhaber des Hotels d’Angleterre, das genau gegenüber gelegen war, Fernrohre gegen Entgelt anbot, damit seine in der Mehrzahl britischen Gäste einen besseren Einblick in das Treiben auf der anderen Seeseite hätten.

Mieter der Villa war der achtundzwanzigjährige Lord Byron, ein englischer Aristokrat und Dichter, dessen selbst von Goethe gerühmte Lyrik ihn in ganz Europa bekannt gemacht hatte. Byron war ein Exzentriker, er reiste nie ohne einen Tross Bediensteter, seine Bibliothek und eine Menagerie. In diesem Jahr hatte er außerdem den jungen Arzt und angehenden Schriftsteller John Polidori mitgenommen. Der Dichter Percy Bysshe Shelley, 23 Jahre alt, der in diesem Juni fast täglich Byrons Gast war, entstammte ebenfalls dem englischen Adel, war aber als Rebell und Atheist von seinem Vater verstoßen worden und musste mit einem bescheideneren Wohnsitz, zehn Gehminuten entfernt, vorliebnehmen. Auch Shelley reiste nicht allein. Es begleiteten ihn seine achtzehnjährige Lebensgefährtin Mary, Tochter des bekannten Philosophen William Godwin und der ebenfalls namhaften Schriftstellerin Mary Wollstonecraft, ferner Marys nur wenig jüngere Stiefschwester Claire und das Kind, das Shelley mit Mary hatte, Baby William mit seinem Schweizer Kindermädchen.

Die Begegnung mit Byron war geplant, man hatte sich außer zu Gesprächen im Salon zu Segeltouren und Wanderungen in der Umgebung verabredet. Es blieb aber dann doch meist bei Gesprächen, denn der Sommer 1816 war außerordentlich dunkel und kalt und völlig verregnet. Was die fünf Besucher nicht wissen konnten: der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr zuvor hatte eine derart gigantische Aschewolke in die Atmosphäre geschleudert, dass noch Monate später in Europa der Himmel grau blieb, wochenlang Regen fiel, unzählige Gewitter aufzogen und die Menschen im Juni ihre Kamine anzünden mussten. Ganze Ernten wurden durch Hagel vernichtet, in manchen Regionen herrschte Hungersnot. Die Meteorologie war noch nicht weit genug entwickelt, als dass die Menschen jener Zeit die Zusammenhänge hätten erkennen können. So glaubten sie an eine Strafe Gottes für ihr sündiges Erdenleben und schickten ihre Gebete um eine Rückkehr der Sonne an den Höchsten. In der Villa Diodati begnügte man sich notgedrungen mit spekulativen Diskursen und anregender Lektüre.

Was der Tourist des Hotels d’Angleterre zu erblicken hoffte, wenn er sein Fernrohr scharf stellte, kann man erahnen, wenn man weiß, wofür die Herren dort drüben in der Villa noch berühmt waren, außer für ihre Verse: für ein Liebesleben, das weder der Norm noch der Moral entsprach und über das ehrbare Zeitgenossen zumindest in der Öffentlichkeit eines Hotels nur im Flüsterton sprachen.

Es ist der 16. Juni, spätabends. Was erspäht der neugierige Hotelgast? Sieht er überhaupt etwas? Ja, der Salon der Villa ist hell erleuchtet, es flackert sogar ein Kaminfeuer. Neben dem Kamin hat sich Lord Byron in einem Sessel niedergelassen, in der Hand ein Buch, aus dem er augenscheinlich vorliest. Man erkennt den schönen Mann an seiner Haltung und an seinem dunklen Lockenhaar, auch an seinem verkrüppelten Fuß, den er entkleidet und auf einen Schemel hochgelegt hat. Auf dem Boden vor dem Kamin sitzt Shelley, er hält einen Schürhaken in der Hand, mit dem er in den Scheiten stochert, offenbar ganz begeistert von dem Funkenflug. Neben ihm steht an den Kaminsims gelehnt seine schlanke, graziöse Gefährtin Mary, ebenfalls mit einem Buch in der Hand – das sie aber geschlossen hält. Ihre brünette Stiefschwester Claire hat neben Byron Platz genommen, es sieht fast so aus, als wolle sie seinen Fuß mit einer Salbe kühlen. Ja, der englische Tourist hat davon gehört, dass diese kleine reizvolle Person die Geliebte Byrons sein soll. Ein Stück entfernt an einem Tischchen sitzt Mr Polidori und beobachtet die Szene, immer wieder wandert sein Blick zu Mary, die ihrerseits Shelley betrachtet. Was es für ein Text ist, den Byron da vorträgt, erfährt der spähende Landsmann natürlich nicht. Aber er hat so eine Ahnung: es ist höchstwahrscheinlich ein französisches Erotikon.

Aber nein, da hat er unrecht. Byron liest tatsächlich Französisch, aber es ist eine übersetzte deutsche Geistergeschichte – eine sogenannte gothic story, und seine Zuhörerschaft gibt ihm nach und nach durch Gesten zu verstehen, dass sie sich nicht wirklich gruselt und von dieser literarischen Kost genug hat. Der Voyeur interpretiert die Bewegung, die jetzt in die Bewohner der Villa fährt, als Aufforderung Byrons, nach der erotisierenden Lektüre zur Praxis überzugehen und sich in den Schlafräumen zu treffen. Der englische Tourist stellt das Fernrohr ab und schüttelt den Kopf. Für heute hat er genug von solcher Amoral.


Was Byron wirklich sagte, war allerdings etwas ganz anderes. Er klappte das Buch zu, blickte in die Runde, sah die Enttäuschung in den Mienen seines kleinen Publikums und lachte.

»Immer diese spukenden alten Rittersleut’«, seufzte Shelley. »Können wir das nicht besser?«

»Immer diese alten deutschen Burgen mit den Falltüren«, sagte Mary, »das wird doch allmählich langweilig.«

»Hey, ihr Lieben«, fiel Byron ein, »warum zeigen wir nicht, dass es anders geht? Lasst uns alle miteinander eine Gespenstergeschichte schreiben!«

Der Zuspruch war einhellig, man ging auseinander und fing sogleich an zu projektieren, zu fantasieren, zu assoziieren, zu spinnen. Fast alle machten mit und versuchten sich nach dieser historischen Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 an einer gothic story. Polidori schrieb die Novelle Der Vampyr und lieferte damit den Startschuss des Dracula-Genres. Die beiden Poeten Shelley und Byron brachten es nur zu Fragmenten. Mary aber begann die Geschichte eines Studenten der Anatomie niederzuschreiben, der ein menschliches Wesen aus Leichenteilen zusammensetzt und es mit elektromagnetischen Impulsen zum Leben erweckt.

Sie sollte als Siegerin aus diesem Wettbewerb hervorgehen. Ihr Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus begründete nicht nur ein neues literarisches Genre, die science fiction, er ist bis heute auf dem Buchmarkt präsent, wird gekauft und gelesen und ein ums andere Mal verfilmt. Ob das Lese- und Kinopublikum sich wirklich immer noch gruselt, wenn es sich auf diesen Roman einlässt? Darauf kommt es inzwischen gar nicht mehr an. Denn Frankenstein ist weit mehr als eine Gespenstergeschichte, er ist ein moderner Mythos.

Mary Shelley

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