Читать книгу Mary Shelley - Ingo Rose, Barbara Sichtermann - Страница 7
I »Die Liebe muss frei sein, damit sie Liebe bleibt« Erste Begegnungen
Оглавление»Er lebt noch!«, rief Shelley und schüttelte den Kopf – über sich selbst. Wie hatte er so unbedacht sein können! William Godwins großes Werk über Politische Gerechtigkeit war seit Jahren seine Bibel. Das Buch hatte gleich nach dem Erscheinen im Jahre 1793 – Shelley war damals gerade ein Jahr alt – für Aufsehen gesorgt, denn es entwarf eine Utopie, in der nichts mehr so sein würde wie derzeit im alten England. Und als der junge Dichter Percy Bysshe dieses Buch viele Jahre später zur Hand nahm, erschien es ihm wie ein Ruf aus einer verheißungsvollen Epoche: Revolution in Paris, Aufstand der Massen, Entmachtung des Klerus, Ende der Monarchie, Republik. Dabei nahm aber Godwin in seinem Werk Stellung gegen die Gewalt. Und er ging in der Theorie viel weiter als die Franzosen in der Praxis. Der Staat müsse überwunden werden, forderte er, und die Menschheit sich selbst regieren vermittels der ihr eingeborenen Vernunft. Seite für Seite zog der visionäre Philosoph Shelley in seine Gedankenwelt hinein, der Junge wurde sein eifriger Adept, trug das Buch stets bei sich und las sich selbst immer wieder laut daraus vor. Doch dann kam, abgesehen von einem Roman, einfach nichts Rechtes mehr von Godwin, jedenfalls nichts, was Shelley wahrgenommen hätte. Sein Lehrer war verstummt – seit nun schon über fünfzehn Jahren. Er ist wohl gestorben, hatte der Schüler bei sich gedacht, ich werde sein Andenken ehren. Und nun teilte ihm sein Freund, der Dichter Robert Southey, mit, dass Godwin in London eine Verlagsbuchhandlung betrieb, Schwerpunkt Kinderbücher. Es machte Shelley glücklich, sich vorzustellen, wie der Mann, dessen Werk ihn wie kaum ein anderes beeinflusst hatte, in einem Büro saß und eine Quartalsbilanz erstellte oder im Laden einem kleinen Jungen, der gerade lesen gelernt hatte, ein Buch empfahl. »Ich muss ihn treffen«, sagte Shelley zu sich selbst, »das Gespräch, das ich so lange in Gedanken mit ihm führe, muss weitergehen – im wirklichen Leben. Ich werde ihm schreiben.«
Das Schreiben von Briefen füllte einen großen Teil von Shelleys Zeit aus. Manchmal machte er den ganzen Tag nichts anderes – abgesehen vom Dichten natürlich. Und vom Lesen, das er ebenfalls mit ungeheuerlichem Eifer betrieb. Er las antike Autoren, französische Philosophen, deutsche Dichter, englische Klassiker, er las Platon und Lukrez, Rousseau und Condorcet, Goethe und Winckelmann, Shakespeare, Milton, Locke und immer wieder Godwin. Er las nicht nur in seinem Studierzimmer. Er las beim Spazierengehen, auf dem Lokus, in der Kutsche und beim Essen. Er hätte sehr gern noch im Schlaf gelesen, aber das gelang nicht. Immerhin las er des Nachts, wenn er aus einem Traum erwachte; lange lagen die Gedichte Robert Southeys neben seinem Bett. Dieser Schriftsteller war ihm durch sein Werk, das eine glühende Verteidigung der Französischen Revolution einschloss, ähnlich nahegekommen wie Godwin. Aber es gab auch immer wieder Ärger, denn Southey stand politisch aufseiten der Konservativen, der Torys, und das war für den Rebellen Shelley schwer zu ertragen. Southey seinerseits versuchte, den Atheisten Shelley davon zu überzeugen, dass der in Wahrheit sehr wohl an Gott glaube, dass er eben das Universum für Gott nehme. Woraufhin Shelley erwiderte, dass Gott nur eine Umschreibung für das Universum sei, man könne ihn ebenso gut weglassen. Wir, Du, ich, alle Menschen sind Teile eines unermesslichen Ganzen, schrieb er ihm. Southey war viel älter, er war erfahrener und vor allem vorsichtig geworden, was seine Sympathie für Revolutionen betraf. Shelley imponierte ihm wegen seiner Intelligenz, wegen der Wissensschätze, die er trotz seiner Jugend aufgehäuft hatte und wegen seines dichterischen Talentes, das außerordentlich schien. Und dann war dieser Knabe ein Freigeist, ein Freak, ein Radikaler. Das gefiel Southey, er sah sich vielleicht selbst in ihm, wie er früher einmal gewesen war und wollte ihn nicht wegen bloßer Meinungsverschiedenheiten als Freund verlieren. »Der einzige Unterschied zwischen uns beiden«, sagte er zu ihm, »ist, dass du neunzehn bist und ich siebenunddreißig.« Percy bewunderte Southey, er nannte ihn einen großen Mann, aber ihre politischen Differenzen führten schließlich zum Bruch. Zuvor jedoch hatte Southey seinen Freund auf die Spur eines anderen, für Shelley noch bedeutenderen Mentors gesetzt: William Godwin.
Der folgenreichste Brief, den Percy Bysshe Shelley im Jahre 1812 schrieb, ging an die Adresse einer Verlagsbuchhandlung in der Londoner Skinner Street.
Sie werden vielleicht überrascht sein, von einem gänzlich Fremden zu hören. Der Name Godwin erregt in meinem Innern Gefühle der Verehrung und Bewunderung, und gleich zu Beginn meiner Bekanntschaft mit Ihren Gedanken und Prinzipien hegte ich den glühenden Wunsch, auf der Basis persönlicher Nähe jenem Geist zu begegnen, der mir durch seine Entäußerung im Werk so hohen Genuss bereitet hat. Ich bin jung, ich brenne für die Sache der Menschheit und der Wahrheit. Glauben Sie nicht, dass es Eitelkeit sei, die mich dazu antreibt, mich selbst in dieser Art bei Ihnen einzuführen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich Ihrer Freundschaft nicht völlig unwürdig bin, und wenn das Glück der Menschheit und die Sehnsucht, es zu befördern, auch für Sie bei der Wahl Ihrer Freunde den Ausschlag gibt – dann antworten Sie mir bald.
William Godwin hatte seinerzeit fast alles in makelloser, wenngleich verschlungener Diktion niedergeschrieben, was den aufmüpfigen Schüler und Studenten Shelley umtrieb: Konnte denn der Mensch nicht in eigener Verantwortung sein Leben führen, warum mussten ihm vorgeblich unanfechtbare Autoritäten den Weg zum Glück versperren? Warum duldete das Machtwort des Vaters und der Verweis des Oberlehrers keine Widerrede? Warum war der Pfarrer befugt zu entscheiden, was sündhaft war und was süß? Warum konnten Richter einen Eierdieb ins Gefängnis werfen und einen Baron, der seinen Knecht fast zu Tode prügelte, unbehelligt lassen? Warum durften Regierungen sich anmaßen, gewaltsam Hand an den Urquell der Gesellschaft zu legen und dessen Lauf verhindern? Warum galten Frauen als Menschen zweiter Klasse, so gut wie rechtlos, eingehegt in patriarchalische Zwänge – wozu auch die Ehe gehörte, die unbedingt abzuschaffen war! Und dann über allem Gott der Herr, dessen Wille es angeblich war, dass die Hüter von Thron und Altar ein luxuriöses Leben führten, während die Massen in Stadt und Land verarmten. Godwin forderte direkte Demokratie, gerechte Verteilung aller Güter, Ächtung des Privateigentums und eine Erziehung nach Maßgabe der Vernunft. Es erschien Shelley höchst seltsam, dass dieses aufrührerische Buch Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Moral und Glückseligkeit (An Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness) nicht von der Zensurbehörde verboten worden war. Der Grund war dieser: Godwin stellte an seine Leser hohe Ansprüche. Es war, meinten die Zensoren, vorauszusehen, dass sein Buch bloß innerhalb der akademischen Welt Aufnahme finden würde – wenn überhaupt. Als sich dann aber die Politische Gerechtigkeit vom Geheimtipp zum Verkaufsschlager entwickelt hatte und man überall den Namen Godwin raunte, war es zu spät, und die Zensoren mussten einsehen, dass sie sich verkalkuliert hatten. Das Thema Revolution eroberte auch außerhalb der Universitäten die Köpfe und sorgte selbst in Pubs und Salons für Debatten. Und so gelangte es – wenn auch mit einiger Verspätung – in die Hände des damals siebzehnjährigen Internatsschülers Percy Shelley. Und es eröffnete ihm eine Welt.
Godwin antwortete seinem Verehrer sogleich; es entspann sich ein Briefwechsel, der beiderseits mit Hingabe betrieben wurde. Shelley erzählte viel von sich selbst: dass er aus altem, begütertem Landadel stamme, sich aber mit seiner Familie überworfen habe, nachdem er als Student in Oxford eine Streitschrift mit dem Titel Die Notwendigkeit des Atheismus verfasst habe und daraufhin sofort von der Alma Mater relegiert worden sei. Dass er bereits zwei Romane geschrieben habe, inzwischen aber, dank Godwins Einfluss, mehr Interesse am wirklichen Leben, an der Geschichte und der Politik hege und ein weiserer und besserer Mann geworden sei.
Der Autor der Politischen Gerechtigkeit war seit seinem berühmten Erstling ein wenig in Vergessenheit geraten – dass Shelley gemutmaßt hatte, er sei gar nicht mehr unter den Lebenden, kam nicht von ungefähr. Über Godwins radikal-anarchistische Vorstellungen war die Zeit hinweggegangen – in Frankreich ebenso wie in England. Napoleon hatte ganz Europa in seine Kriegszüge verwickelt und sich zum Kaiser krönen lassen – was war aus der Revolution geworden? Und was aus mir?, fragte sich Godwin, denn seine Buchhandlung lief mehr schlecht als recht, und als Autor von Romanen erregte er kein Aufsehen mehr. Ein Bewunderer aus der jungen Generation kam da wie gerufen – ganz aus dem Gedächtnis der Zeit verschwunden war er also doch noch nicht. Wie es schien, hatte dieser Shelley wirklich was im Kopf. Und im Hintergrund war vielleicht sogar ein Vermögen! Ja, er würde sich bereit erklären, den jungen Herrn zu sich einzuladen.
Es verging noch einige Zeit, bis es zum ersehnten Treffen kam. Shelley war davon überzeugt, dass ein Revolutionär und Sozialreformer nicht nur theoretisieren darf, sondern praktisch tätig werden muss. Also reiste er als Agitator nach Dublin, um die aufständischen Iren zu unterstützen. Zurück in London dachte er dann nur diesen einen Gedanken: Godwin. Political Justice. Der Besuch steht an. Und er fragte nach, ob es genehm sei, wenn er in Begleitung seiner Frau erscheine. Denn mit Harriet, seiner siebzehnjährigen, ungewöhnlich schönen Ehegefährtin, teilte Percy die meisten seiner Unternehmungen. Sie war in Irland an seiner Seite gewesen, wusste, was ihm Godwin bedeutete, und sollte nun beim Kennenlernen dabei sein.
Der Abend im Herbst 1812, an dem Shelley erstmals mit seinem Idol in dessen Stube speiste, sollte allen Beteiligten lange im Gedächtnis bleiben. Erstaunt und erfreut blickte Shelley auf das Gewimmel junger Menschen um Godwin herum – sie nannten ihn »Papa«. Waren das alles seine Kinder? Ja und nein – und wieder ja, es dauerte seine Zeit, bis Percy und Harriet herausgefunden hatten, wie sich diese Patchworkfamilie zusammensetzte. Die Älteste, ein freundliches, schüchternes Mädchen von neunzehn Jahren namens Fanny, war die Tochter von Godwins erster Gemahlin, der berühmten Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft. Shelley hatte von dieser Schriftstellerin gehört, er wusste auch, dass sie nicht mehr am Leben war, und erfuhr später, dass Fanny ein Kind der Liebe aus Marys revolutionärer Zeit im Paris der 1790er-Jahre war, geboren vor ihrer Verbindung mit Godwin. Die Wollstonecraft hatte also diese nichteheliche Tochter mit in die Ehe gebracht. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, ein vierzehnjähriger koketter Kobold mit schwarzen Locken; sie hieß Jane und war ebenfalls mit in die Ehe gebracht worden – und zwar von Godwins zweiter Ehefrau, einer geborenen Mary Jane Vial, die sich nach dem Vater ihrer Tochter Clairmont nannte. Jane warf lange Blicke auf die reizende Harriet und ihr elegantes Kleid. Sie hatte einen älteren Halbbruder, Sohn der Frau Clairmont, Charles geheißen, der ebenfalls zu der bunten Abendgesellschaft stieß. Ein kleiner William junior, neun Jahre alt, Sohn Godwins und seiner zweiten Frau, lief ferner im Zimmer herum. Sofort zog er Shelleys Aufmerksamkeit auf sich. Denn wenn es etwas gab, an dem der Dichter nicht vorbeigehen konnte, dann waren es Kinder. Am liebsten hätte er sich mit William auf den Boden gesetzt und ein Modellschiff aus Baumrinde mit ihm gebastelt. Aber die Höflichkeit verlangte eine gepflegte Konversation – zumal Mrs Clairmont Godwin, die umtriebige Herrin des Hauses, majestätisch am Kopf der Tafel stand und Anweisungen gab, William musste sich brav auf seinen Stuhl setzen. Und schließlich war da Godwin selbst, der Mastermind, um dessentwillen Shelley gekommen war. Ein wenig verlegen wartete der Gast darauf, dass der Philosoph das Gespräch eröffnete – was er bei der Suppe dann auch tat. »Erzählen Sie, lieber Shelley, was Sie in Irland erfahren haben. Zu welchen Gruppierungen hatten Sie Zutritt und wie ist Ihre Flugschrift aufgenommen worden?« Shelley hatte in Irland wenig bewegen können, das Thema war ihm also etwas unangenehm. Aber geschickt, wie er als Diskutant immer schon war, lenkte er das Gespräch auf die Dichtkunst, und die Familie hörte ihm gebannt zu.
»Welche sind Ihre neuesten dichterischen Projekte?«, fragte Mrs Godwin.
»Ich arbeite an einem Epos in Versen, ich nenne es ein philosophisches Gedicht. Es soll zeigen, dass eine Revolution, ein radikaler Wandel hier auf Erden alle Notwendigkeit auf seiner Seite hat und dass die Natur selbst diesen Wandel fordert.«
»Werden Sie aus diesem Gedicht vortragen?«
»Jetzt? Hier?«
»Wenn Sie es dabeihaben …«
Natürlich hatte Percy es dabei, er hatte gehofft, vor Godwin daraus lesen zu dürfen, und so warf er sich in Positur, schaute ernst in sein Publikum und sprach die Worte: »Der Titel der Dichtung lautet: Queen Mab, die Feenkönigin. Sie ist Harriet gewidmet.« Seine Frau legte den Kopf zurück und warf ihm eine Kusshand zu. Percy erhob seine helle Stimme:
»Wes ist die Liebe, die die Welt durchstrahlend,
Mich schützt vor ihres Hohnes giftgen Pfeilen?
Wes ist der liebevolle Preis,
Der Tugend schönster Lohn?
Wes Blicke machten meine Seele reifer
In Wahrheit und in kühnem Tugendstreben?
In wessen Auge schaut ich liebend
Und liebte mehr die Menschen?
Dein Auge war’s! – Du warst mein bessrer Geist;
Dein war die Begeistrung meines Lieds;
Dein sind die frühen Waldesblumen,
Die ich als Kranz dir wand.
Drück an das Herz denn diese Liebesgabe,
Und ob auch Zeiten wechseln, Jahre schwinden,
Wird jede Blume meines Herzens
Doch dir geheiligt sein.«
Zwischendurch zwinkerte er Fanny zu, die sofort rot wurde, dabei aber lächelte. Jane reichte ihm eine Tasse Tee. Und Godwin applaudierte.
»Sie werden es zu etwas bringen, mein Freund. Kommen Sie doch recht bald wieder.«
Als Percy und Harriet auf dem Heimweg waren, rekapitulierten sie, wer da in der Skinner Street von wem abstammte, und korrigierten einander mehrmals lachend.
»Nein, Percy, die Kleine mit den schwarzen Locken, die niedliche Jane, ist nicht Godwins leibliche Tochter; Mrs Clairmont Godwin hatte sie schon, als sie ihren jetzigen Mann kennenlernte, genau wie den älteren Charly.«
»Sie war demnach vor der Heirat eine Witwe?«
»War sie nicht. Von Fanny habe ich gehört, dass beide Kinder außerehelich geboren wurden – sie haben verschiedene Väter.«
Percy nickte anerkennend. »Aber der kleine Junior – dessen Eltern sind die Godwins.«
Harriet ergänzte: »In der Küche hat die Mutter mir erzählt, dass es noch eine weitere Tochter gibt, die zurzeit in Schottland lebt, Tochter aus ›Papas‹ erster Ehe, von ihm und Mary Wollstonecraft. Sie ist ein halbes Jahr älter als Jane und heißt auch Mary.«
»Drei Mädchen also hat Godwin zu versorgen, nur eines davon sein eigen Fleisch und Blut. Und zwei Knaben, einer davon sein leibliches Kind. Ein Sieben-Personen-Haushalt, und nun zähl noch die Dienstboten hinzu. Godwin hat schon in seinen Briefen angedeutet, die Verlagsbuchhandlung würfe nicht genug ab, er sei hoch verschuldet. Wir müssen überlegen, wie wir ihn unterstützen können.«
In Schottland hatte die junge Mary Godwin derweil eine gute Zeit. Zu dieser Landverschickung war es schon vor anderthalb Jahren gekommen; Mary war, wie man seinerzeit liebevoll und diskret formulierte, von zarter Gesundheit, und Besserung würde, so der Arzt, allein die Seeluft bringen. Wie die meisten Teenager hatte Mary große Lust zu reisen, aber sie fürchtete sich vor der Trennung von ihrem Vater – dem über alles geliebten. Außerdem wurde sie leicht seekrank, so sah sie der Schiffsfahrt mit gemischten Gefühlen entgegen. Aber als sie dort oben angekommen war, bei Familie Baxter, Bekannte Godwins, Nonkonformisten, wohnhaft nahe der Stadt Dundee am Fluss Tay, fühlte sie sich auf der Stelle wohl und aufgehoben. Bei ihrem ersten Besuch im Norden war sie vierzehn Jahre alt gewesen, »a bookish girl«, wie Zeitgenossen sie nannten, stets in Lektüre vertieft, aber auch selbst fabulierend und schreibend. Als ich ein Mädchen war, so drückte es die Schriftstellerin Jahrzehnte später in einem Vorwort aus, verbrachte ich viel Zeit in Schottland. Die Ufer des Flusses Tay waren mir ein freundlicher Ort, an dem ich ungestört mit den Geschöpfen meiner Fantasie verkehren konnte. Dort unter den Bäumen nahe unserem Haus oder auf den gebleichten Felsen der baumlosen nahen Berge wurden die luftigen Gestalten meiner Vorstellung geboren und aufgezogen. Ich machte nicht etwa mich selbst zur Heldin meiner Geschichten. Das Leben erschien mir, was mich selbst betraf, als eine banale Angelegenheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass romantische Leiden oder wunderbare Begebenheiten jemals mein eigenes Los werden könnten. Meine Fantasie war nicht auf meine Person beschränkt, ich konnte sie mit Geschöpfen bevölkern, die mir in jenem Alter weit interessanter erschienen als meine eigenen Gefühle.
Eine große Rolle in Marys schottischer Zeit spielte Isabel, eine der Töchter ihrer Gastfamilie, mit der sie sich blind verstand. Isabel war ein paar Jahre älter, mit ihr konnte Mary über alles reden – auch darüber, wie bedrückt sie zu Hause unter dem Regiment ihrer Stiefmutter gewesen war und für wie unwürdig sie diese dahergelaufene Person der Liebe ihres Vaters fand. »Wenn sie nicht eines von uns Kindern zur Schnecke machen kann, ist sie nicht zufrieden.«
Und manchmal, wenn Isabel und Mary am Flussufer einen Platz gefunden hatten, an dem sie sich niederlassen und übers Wasser blicken konnten, und wenn Isabel Mary bat, sich zu erinnern, was der Vater ihr so erzählt habe, holte Mary aus und berichtete von alten Zeiten, in denen ihre Mutter noch lebte. Eine Mutter, von der sie mit Ehrfurcht sprach, denn sie war eine Frau von großen Verdiensten. Mitten in den gefährlichen revolutionären Kämpfen hatte sie sich nach Paris getraut, dort an den Debatten um die Republik und die Frauenrechte teilgenommen, und sie war dabei ganz auf sich gestellt. Sie war Schriftstellerin geworden, die berühmte Mary Wollstonecraft, und als sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat Marys Vater, den sie schon aus einem freigeistigen Verlegerzirkel kannte, wieder traf, da war es um beide geschehen, da wollten sie zusammenbleiben und füreinander da sein, alle Zeit. »Aber nicht so wie andere Paare«, sagte Mary, »an eine Eheschließung dachten meine Eltern nicht. Das war das Freigeistige an ihnen, das Revolutionäre. Sie fanden es nicht richtig, Gesetze über Gefühle zu stellen und aus der Liebe eine Pflicht zu machen.«
»Aber sie haben es getan. Sie haben geheiratet.«
»Ja, weil ich unterwegs war. Eine Frau, die ein Kind bekam ohne Ehemann – was hatte die zu leiden und sich anzuhören! Sie galt als Sünderin, als Hure, als verworfenes Geschöpf. Ist das heute anders? Nein. Mein Vater wollte nicht, dass meine Mutter verachtet würde, verstehst du, er wollte auch, dass sein Kind seinen Namen trägt. So sind sie dann doch ein Ehepaar geworden – einfach weil die anderen Menschen noch nicht so weit waren, anzuerkennen, dass freie Liebe etwas viel Großartigeres ist; dass die Liebe frei sein muss, damit sie … Liebe bleibt.«
»Der Pfarrer hat sich bestimmt gefreut.«
»Die Meinung des Pfarrers hat meinem Vater nicht viel bedeutet. Er ist kein religiöser Mensch. Er sieht in der Religion den Versuch, die Herzen und den Geist der Menschen zu unterwerfen. Gäbe es Gott, so wäre er entsetzt, was in seinem Namen alles geschieht.«
»Meinst du nicht, dass es sein könnte … dass Gott deinen Vater für seinen Unglauben gestraft hat, als er ihm deine Mutter nahm?«
»Es war das Kindbettfieber, Isabel. Viele Frauen leiden darunter. Und sterben daran. Ich glaube nicht, dass Gott seine Hand im Spiel hatte.«
»Manchmal ängstigt mich der Gedanken, dass ich ein Kind bekommen werde. Wie soll das gehen ohne Gottvertrauen? Und ohne Gebete? Ach Mary, wenn wir Jungen wären, würden wir jetzt griechische Gedichte übersetzen.«
»Ich sollte ein Junge werden. Meine Eltern hatten sogar schon einen Namen: William. Irgendwie bin ich wirklich ein Junge geworden, weißt du. Jedenfalls werde ich griechische Gedichte übersetzen.«
***
Eines Tages war es so weit, dass Mary nach London zurückkehren musste – aber daheim stellte sich heraus, dass ihre Gesundheit immer noch ziemlich zart war und dass die Highlands, der Tay und vor allem Isabel ihr schrecklich fehlten. So kam es zu einer zweiten Reise nach Schottland und zu einem weiteren längeren Aufenthalt Marys bei den Baxters. Ferien aber waren das durchaus nicht. In der Familie Baxter, die durch Tuchfabrikation wohlhabend geworden war, wurde viel gelesen und gelernt, Hauslehrer kamen zum Unterrichten, und der junge Gast war davon nicht ausgeschlossen. William Godwin legte außerordentlich großen Wert auf die Bildung seiner Kinder, auch und vor allem seiner Töchter – die Jungen besuchten öffentliche Schulen – und er hatte seine intelligente Mary mit viel Ehrgeiz selbst unterrichtet. Mary besaß gute Kenntnisse in den Fächern Geschichte, Literatur und Philosophie, sie war in die Anfangsgründe des Lateinischen eingeführt worden und konnte schon ziemlich gut Französisch. Außerdem hatte sie zeichnerisches Talent und dichterische Fantasie. Für Godwin war jeder Tag, an dem nicht gelesen, gebüffelt, geübt und referiert wurde, ein verlorener Tag. Mary dachte ebenso. Dennoch hatte der besorgte Vater vorab an die Baxters geschrieben: Ich bemühe mich, sie wie einen Philosophen, ja wie einen Kyniker zu erziehen. Das wird viel zu der Stärke und dem Wert ihres Charakters beitragen. Ich sollte überdies hinzufügen, dass sie keinerlei Hang zur Zerstreuung hat und mit ihren Wäldern und Bergen vollauf zufrieden sein wird. Ich wünschte außerdem, dass sie zu mehr Fleiß angetrieben würde. Gelegentlich verfügt sie über große Ausdauer. Aber manchmal muss man sie etwas aufrütteln. Hätte Godwin gewusst, dass seine Tochter in ihrer schottischen Zeit an schriftstellerischen Versuchen feilte und im Angesicht der Highlands und des Meeres ihrer Fantasie freien Lauf ließ, woraufhin die luftigen Gestalten ihrer Vorstellung geboren wurden, um sie von jetzt an treu zu umschweben – es hätte ihn bestimmt gefreut. Seit das Mädchen auf der Welt war, träumte er davon, dass aus ihr eine berühmte Schriftstellerin würde. Aber dafür, so meinte er, müsste sie nun bald unter seine Fittiche und seinen Einfluss zurückkehren; schließlich war sie inzwischen mit ihren sechzehn Jahren so gut wie erwachsen.
Ein weiteres Mal hieß es für Mary Abschied nehmen von den Baxters, eine große Familie, deren Mitglieder Mary allesamt ans Herz gewachsen waren. Es war im Mai des Jahres 1814. Sie stand mit ihren Gastgebern neben Isabel am Pier, die Koffer wurden aufs Schiff gehievt. Beide Mädchen versprachen einander Briefe, Briefe und noch mehr Briefe. Ein letzter Kuss auf Isabels Wange, ein Händedruck mit Mutter Baxter, und Mary ging an Bord. »Schreib mir was über den Dichter«, rief Isabel ihr nach, »diesen, du weißt schon, Shelley. Ich möchte wissen, ob er nur ein Wirrkopf ist oder ein echter Revolutionär.«
Aus Briefen von zu Hause wusste Mary, dass es seit Längerem außer den treuen Freunden William Hazlitt, einem Kritiker, und den Dichtern Samuel Coleridge und Charles Lamb, die oft vorbeischauten, noch einen weiteren Wahlverwandten in der Skinner Street gab: Percy Bysshe Shelley. Den hatte sie noch nicht kennengelernt; sie hatte ihn zwar vor zwei Jahren kurz in der elterlichen Wohnung gesehen, aber sie erinnerte sich nicht mehr an ihn. Isabel, die sich brennend für alles interessierte, was mit der Französischen Revolution zusammenhing, und gehört hatte, dass Shelley ein Parteigänger der Jakobiner war, hätte Mary am liebsten nach London begleitet, um diesen gerade mal einundzwanzigjährigen Dichter selbst kennenzulernen. Fanny berichtete, er rede viel und klug und meist über Politik, wenn nicht über Poesie. Alle waren von ihm eingenommen, denn er hatte nicht nur die Tischgespräche belebt und Fanny – so meinte Jane – beziehungsweise Jane – so meinte Fanny – den Kopf verdreht, sondern auch größere Summen als nicht rückzahlbare Dotationen in Aussicht gestellt, damit Godwin seine drückenden Schulden loswürde. Ein guter Geist war da also in die Familie gefahren, ein Retter, ein Wohltäter. Mary war sehr gespannt auf diesen jungen Mann und fest entschlossen, ihren eigenen Kopf hoch auf den Schultern zu behalten. Zumal Shelley mit einer Ehefrau lebte, die er entführt hatte, als sie sechzehn war und die bezaubernd schön sein sollte. Seit einem knappen Jahr hatten die beiden eine kleine Tochter.
Im Jahre 1814 war die politische und soziale Lage in England äußerst angespannt. Infolge Napoleons Politik der »Kontinentalsperre«, die nichts anderes war als ein Verbot für die Länder in Frankreichs Machtbereich, Waren aus Großbritannien einzuführen, hatte sich eine große Wirtschaftskrise ereignet; zugleich machten die Folgen der Industriellen Revolution, machten Maschinen – vor allem in der Textilindustrie – immer mehr Menschen arbeitslos. Die Politiker reagierten hilflos, sie beschränkten sich darauf, die Privilegien der Reichen in Stadt und Land zu sichern, und überantworteten die »labouring poor« ihrem Elend. Für Intellektuelle wie Shelley, Godwin und Hazlitt ergaben sich täglich neue Anlässe, in Gedanken auf die Barrikaden zu steigen, in Worten und Taten aber nach gewaltfreien Wegen zu suchen, um die Zustände zu ändern. Als Mary das erste Mal an einer abendlichen Gesprächsrunde im Wohnzimmer ihres Vaters teilnahm, in Gesellschaft der Familie und jenes Dichters Percy Shelley, saß sie scheu und verschlossen dabei. Sie hörte die Männer disputieren, es ging um Getreidezölle, und überlegte derweil, wie sie Isabel den jungen Mann schildern solle. Er war groß und dünn, trug sich nachlässig mit bunter Weste, engen Beinkleidern, das blonde wellige Haar ungetrimmt und fast schulterlang. Sah er nicht aus wie ein Mädchen – die großen Augen, die rosige Haut, kein Bartwuchs? Aber wie er dann lachte und fuchtelte und seine Meinung verteidigte, dabei glühten seine Blicke – das war doch männlich. Er zwinkerte Fanny zu, das entging Mary nicht. Als er sich verabschiedet hatte, nahm sie Jane beiseite.
»Warum hat er seine Frau nicht mitgebracht? Auf sie war ich fast noch neugieriger als auf ihn.«
»Die beiden haben sich gestritten. Der Haussegen hängt ziemlich schief.«
»Warum denn?«
»Percy will, dass Harriet das Baby selbst nährt, aber sie hat eine Amme engagiert.«
»Ach.«
»Percy sagt, das Ammenwesen sei ein übler Auswuchs, eine typische Erfindung der Aristokratie und der Anfang der Entfremdung von Mutter und Kind.«
»Aber warum holt sie eine Amme, wenn doch ihr Mann …«
»Harriet tut, was ihre Schwester Eliza sagt. Die ist um einiges älter und weiß alles besser.«
Nachdem Mary und Percy einander vorgestellt worden waren, kam der junge Mann erneut in die Skinner Street und traf Mary im Laden an, wo sie aushalf und Bücher sortierte. Er zog sie ohne viel Worte vor die Tür und lief mit ihr die Straße entlang.
»Ich muss dir sagen«, begann er, »dass ich förmlich erstarrt war, als ich dich gestern zum ersten Mal sah. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte nur schauen. Denn du bist das Ebenbild deiner Mutter.«
Mary blieb stehen. Das Portrait ihrer Mutter hing im Arbeitszimmer des Vaters, es dominierte den gesamten Raum. Die zweite Mrs Godwin hatte schon mal den Vorschlag gemacht, es an einen weniger prominenten Ort zu hängen, weil, wie sie behauptete, es dort besser abzustauben wäre, aber darüber war mit Mr Godwin nicht zu reden. O ja, Mary Wollstonecraft war eine sehr hübsche Frau gewesen, und Mary, ihre Tochter, wusste, dass sie ihr glich. Es freute sie, dass Shelley das aufgefallen war. Sie wusste nicht, was sie hätte erwidern können und sagte deshalb nichts. Langsam gingen sie weiter.
»Die wiedergeborene Mary Wollstonecraft«, sagte Shelley andächtig und ergriff kurz ihre Hand. »Ich habe gehört, du schreibst Geschichten? Wie deine Mutter?«
»Wer hat das gesagt?«
»Fanny hat es gesagt. Und deine Stiefmutter. Sie hofft, dass du jetzt damit aufhörst und im Laden mit anpackst.«
Mary schnaufte. »Was die sich einbildet.«
»Ihr seid nicht gut aufeinander zu sprechen?«
»Sie kümmert mich nicht. Aber dass sie meinen Vater … dass sie ihn unmöglich glücklich machen kann, das quält mich.«
»Sie kocht gut.«
»Vater braucht noch andere Speise. Ich muss zurück in den Laden.«
Schweigend liefen die beiden nebeneinanderher. Mary war ganz ruhig. Sie hatte sich davor gefürchtet, zu Hause in den alten Trott zu fallen, sich mit ihrer Stiefmutter anzulegen und den ganzen Tag mit schlechter Laune rumzulaufen, aber jetzt erschienen ihr die Straße, das Haus und der Laden in hellen Farben. Sie verabschiedete sich von ihrem Begleiter und ging zurück zu ihren Büchern. Während sie die Bände ordnete und ins Regal stellte und sie wieder herausnahm, weil sie sich vertan hatte, dachte sie an Shelley. Er war anders zu ihr als die jungen Männer, die sie sonst kannte, zum Beispiel die Baxter-Jungen. Shelley flirtete nicht. Er war geradeaus und klar und ernst. Ein seltsamer Vogel, dachte sie.
Wann immer sie die Gelegenheit wahrnehmen und vor den Anweisungen der Stiefmutter flüchten konnte – es gab stets etwas zu tun im Laden und in der Küche, und Mrs Godwin liebte es, Befehle zu erteilen –, wann immer sie ein paar freie Minuten kommen sah, packte Mary Bücher, Stift und Notizheft in ihren Beutel, schlüpfte aus dem Haus und begab sich zum Friedhof St. Pancras, wo ihre Mutter begraben lag. Der Vater hatte ihr erzählt, dass sie, Mary, einst anhand der Buchstaben auf dem Grabstein lesen gelernt habe. Die Totengräber, der Friedhofsgärtner und so manche Witwe, sie kannten das zarte junge Mädchen mit dem wundervollen goldbraunen Haar, das so lange lesend neben dem Grab der Mary Wollstonecraft kauerte, und sie freuten sich, dass sie nach langer Pause jetzt zurückgekehrt war. Man wusste, wer sie war, und fand es gottwohlgefällig, dass die Waise auf diese Art die Nähe ihrer Mutter suchte. Niemand wagte sie zu stören, wie sie da vertieft schien in ihre Lektüre und ihre Notizen. Bis dann auf einmal jemand neben sie trat, ihr die Hand auf den Scheitel legte und »Guten Tag, Mary« sagte. Mary wusste gleich, wer es war, sie erschrak nur mäßig, schaute aber auf mit gerunzelter Stirn.